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Ritter
Sie konnte es nicht fassen. Tausende - wenn nicht mehr - Emotionen durchlebte sie, als Derreck sie mit der Geschichte konfrontierte. Und nun wusste sie nicht im Geringsten, was sie davon zu halten hatte. An einigen Stellen klang seine Geschichte löchrig. Warum sollte ein Dieb, der es schafft, mehrfach unbeachtet von der Floyd-Williams-Farm zu stehlen, ausgerechnet von ihm erwischt werden. Auf der anderen Seite: Warum nicht? Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass man den Gründer dieses Pubs nicht ernst nahm, in ihm keine Bedrohung sah. Er musste an einem der vielen Abende sorgenvoll suchend aus dem Fenster herausgeblickt und dabei diesen Jungen - Raoul - auf frischer Tat ertappt haben. Er war womöglich gut, vielleicht sehr gut - aber hat nicht damit gerechnet, dass hier der unfähigste Mann des Dorfes sitzt und ihn sieht. Derreck war nicht klug genug, um sich all das auszudenken.
Ein kurzer Stich in ihrer Magengegend. Nun schämte sie sich fast, schlecht über diesen Kerl zu denken, der offenbar durch viel ging, um sie zu schützen. Trotzdem kaum ein Tag verging, an dem er Eryn nicht anhimmelte, war sie doch immer davon ausgegangen, dass er sich selbst der Nächste war. Nun offenbarte er ihr, dass er selbst sich verprügeln ließ und nur deswegen die Identität des Diebs Preis geben wollte, um zu verhindern, dass sie Opfer des nächsten Übergriffs wurde. Wären ihre Emotionen geordneter gewesen, hätte das der sich selbst als tough einschätzenden Bardame doch die ein oder andere Träne entlocken können.
"Gott, Derreck!", atmete sie fassungslos, mehr, als dass sie sprach. Sie widerstand dem Drang, ihn zu umarmen, um dann doch dem Bedürfnis zu erliegen, ihm ihre erstmals in der Form aufkeimende Sympathie in Form eines für sie typischen Schulterstreichelns kund zu tun. So beliebt, wie sie glaubte zu sein, so ehrlich musste sie sich in diesem Moment eingestehen, dass noch niemals jemand etwas Vergleichbares für sie unternommen hatte. Doch noch während in ihrem Gesicht die Rührung stand, wurde ihr klar, dass sie nun aktiv beteiligt war, ob sie wollte oder nicht. Was auch passierte - die Konsequenzen würde sie tragen. Entweder würde sie Derreck überreden, den Dieb frei zu lassen, bis man die Drohungen wahr machte und sie zum Ziel von Gewalt wurde. Oder sie würde ihn machen lassen und sich damit retten, Derreck weitere Qualen ersparen, doch diesem Jungen dadurch sein Leben nehmen. "Scheiße!", fasste sie ihren Gedankengang, die Situation und wohl auch die vergangenen Wochen im Leben ihres Bosses konsequent zusammen.
Sie zwang sich dazu, nicht zu dem sich am Boden räkelnden Raoul zu sehen. Er hörte mit und versuchte, durch seine Fesseln hindurch zu schreien, sein so unterdrücktes Flehen war greifbar. Er hatte den Tod nicht verdient. Nicht für das Stehlen von Obst und Gemüse. Aber sie hatte noch nie gestohlen. Wenn man vor so einer Entscheidung stand, waren Kleinigkeiten relevant.
Denke ich wirklich gerade darüber nach?
"Ich kann das nicht entscheiden, Derreck!", sagte sie. Überforderung lag in ihrer Stimme.
"Musst du nich', Eryn." Seine schmutzigen Finger deuteten in Richtung Tür. "Geh und lass mich die Sache zu Ende bringen..." - "Das IST eine Entscheidung, du Vollidiot!", erwiderte sie, lauter als sie es ursprünglich vor hatte. "Soll ich raus gehen und darauf spekulieren, dass du vielleicht... einbrichst und es doch nicht tust? Dass du ohne leere Hände dastehst und ich morgen verprügelt werde oder dieser... Bastard dich sofort köpfen lässt? Ich will auch nicht, dass du stirbst." Er sah sie an als hätte sie etwas Rührendes gesagt, mit seinen traurigen, verwaschenen Augen, in denen jedoch so viel Treue lag wie noch nie. Oder hatte sie die Treue nur nie gesehen?
Man könnte Raoul freilassen, George erzählen, dass er sich befreit hätte und ihm die Chance geben, aus Sheng's Hope zu fliehen. Doch je genauer sie diesen Gedanken verfolgte, desto unsinniger schien er ihr. Am Ende würde ihm außerhalb von Schutzmauern ein schneller Tod ereilen - und Floyd-Williams würde seine Schläger trotzdem schicken. Sollten stattdessen sie fliehen? Quatsch! Mit Derreck an ihrer Seite würde sie keinen Tag überleben.
Und dann wurde ihr mit einem Mal flau im Magen. Selbst die größten Notlösungen verwarf sie und verstand nun, was das hieß. Ihre Hand verließ die Schulter ihres Chefs, der nur für sie gegen seine insgeheim gute Natur kämpfte. Sie war es ihm schuldig. Und mehr noch: Sie wollte nicht sterben, sie wollte unversehrt leben. Nicht jeden Tag Angst vor den Schergen des reichen Möchtegern-Diktatoren haben müssen. Georgina sah schon jetzt danach aus, als könnte sie nicht darauf warten, ihren Hass auf die eigene Existenz an Eryn auszulassen. Und George selbst war ihr trotz des oberflächlich höflichen Gebarens so unheimlich vorgekommen wie kein anderer Mensch, den sie jemals traf.
Wieder setzte sie sich selbst unter Druck. Sie wollte den Dieb ansehen, doch schaffte es nicht. Nicht mal dafür war sie stark genug. Noch bevor der Hass gegen sie selbst Form annahm, richtete sie den Blick dann doch auf ihn, blinzelte aber, sah mehr durch ihn hindurch. Sie konnte Bewegung wahrnehmen, Qual, doch ihr Blick verschwamm zusehends. Er wusste wie sie, dass die Barfrau zu einer Entscheidung gekommen war. "Es tut mir Leid!", sprach sie trocken, mit einer Stimme, die sie von sich noch nie gehört hatte. Tränen füllten ihre Augen, doch sie erlaubte sich das Weinen nicht. Sie hatte nicht das Recht zu weinen, denn ihr würde es gut gehen.
Dann wandten sich ihre Augen wieder Derreck zu. Sie schob mit einem Blinzeln die stillen Tränen aus ihrer Sicht und sah in seinen, dass er wusste, was nun folgen würde.
"Tu es."
Geändert von MeTa (09.09.2015 um 23:21 Uhr)
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