"Das ist doch Wahnsinn!", rief Anfer außer Atem während sie versuchte mit Sahin Schritt zu halten. Ihre hohen Absätze klackerten hastig auf dem Flur und sie musste sich anstrengen, um nicht über eine Unebenheit zu stolpern und hinzufallen.
Nachdem Gustav gegangen war, blieb Sahin noch einige Minuten auf seinem Stuhl sitzen und starrte gedankenverloren in das Dunkel des Kellers hinein. Anfer hatte sich zu ihm gestellt und wartete auf Anweisungen. Sie kannte solche Momente nur zu gut und wusste, dass Sahin hin und wieder die Außenwelt um sich herum abschaltete um nachzudenken. Daraufhin würde er sie mit irgendetwas beauftragen; mal möchte er jemanden ganz bestimmtes sprechen oder er verlangte nach Informationen, von denen er glaubte, sie würden ihm helfen eine Entscheidung zu treffen.
Umso mehr verwundert war sie, als er plötzlich aufsprang, sie ansah und mit einer Stimme sagte, die keinen Widerspruch duldete: "Es gibt einen gottverdammten Maulwurf bei uns. Er weiß wo ich bin und was tue. Damit ist Schluss. Ich werde ihn finden und ihm persönlich die Klöten abschneiden. Wo ist mein Wagen?"
Anfers Augenlider flatterten als sie versuchte das alles zu verarbeiten.
"Ähm, den hat man auf dem, äh, Parkplatz hingestellt, hier um die Ecke..."
Noch bevor sie den Satz beenden konnte, war Sahin bereits zur Tür hinaus.
Rasch schritten sie durch den engen, schwach beleuchteten Flur. Anfer hat schnell begriffen, was ihr Boss da gesagt und vor allem was er mit alledem gemeint hatte. Er will auf eigene Faust losziehen, um die undichte Stelle in seiner Organisation zu finden, kam ihr der Gedanke. Dabei braucht er nur den Fuß auf die Straße zu setzen und schon wird er von Gangern umzingelt sein wie eine Fleischkeule im Haifischbecken.
"Ich kann Knecht oder Gül schnell eine Nachricht hinterlassen.", redete sie auf Sahin ein, der nicht daran dachte, seinen Schritt zu verlangsamen, "Sie werden ein paar ihrer Leute zusammentrommeln und dich begleiten. Als Geleitschutz!"
"Nein, Anfer. Du hältst dicht, verstanden?", versetzte Sahin. "Keiner soll darüber wissen bis ich ein paar Antworten habe. Es sind neue Players auf dem Spielfeld aufgetaucht und sie wissen so gut wie über alles Bescheid. Zuerst der Anschlag auf ein Familienmitglied eines Bandenbosses, dann der Angriff während unseres geheimen Treffens. Alles scheint im Zusammenhang zu stehen, als würden die Angriffe auf etwas bestimmtes hinauszulaufen. Wenn ich rechtzeitig herausfinden will, aus welcher Richtung der Gestank kommt, dann kann ich niemandem vertrauen."
"Aber das ist doch Selbstmord! Wenn man dich alleine irgendwo erwischt?"
"Dann sollten die lieber gut vorbereitet sein."
"Sami!"
Als er auf die Straße hinaustrat, hat ihn die frische kühle Nachtluft fast zurücktaumeln lassen. Zu lange habe ich mich in dem stickigen Zimmer verschanzt und Däumchen gedreht, dachte er sich und fühlte sich in seiner Entscheidung endlich aktiv zu werden und zum Angriff überzugehen nur bekräftigt. Er lief mit Anfer im Schlepptau durch eine lange und dunkle Gasse, die zur Rückseite des Gebäudes führte. Hier befand sich eine große asphaltierte Fläche, die einmal vor langer Zeit tatsächlich als Parkplatz gedient haben könnte. Als diese Gegend immer mehr verfiel und sich außer Junkies und Gangers keiner hierher traute, wurde dieser Platz zum Müllhaufen und notdürftigen Schlafplatz für die Obdachlosen und die Süchtigen. Sahins Männer haben einen ganzen Tag gebraucht, um das Gesindel aus ihren Zelten fortzutreiben und den ganzen Dreck, der sich hier über Jahre angesammelt hatte, wegzuschaffen. Direkt an der angrenzenden Hausmauer wartete Sahins schwarzer McLaren P1 auf seinen Besitzer. An dessen Motorhaube lehnte einer von Sahins Männern und saugte an seiner Kippe. Als er merkte, dass seine zwei Vorgesetzten auf ihn zuliefen und keine Anstalten machten abzubiegen oder stehen zu bleiben, entfernte er sich ruckartig von dem Wagen, schmiss die Kippe weg und versteifte sich wie ein Soldat beim Morgenappell.
Sahin stieg in den Wagen und senkte das Seitenfenster, weil Anfer bereits Anstalten machte daran zu klopfen.
"Nur ein Vorschlag.", sagte sie, "Ein einziger und dann lasse ich dich in Ruhe."
"Du hast 10 Sekunden."
"Wenn du niemanden aus dem Inneren willst, fein. Ich kann jemanden von außerhalb organisieren, der dich begleiten könnte. Einen Söldner, Runner, was auch immer. Jedenfalls einen Experten, der weiß was er tut und dir Rückendeckung geben kann."
"5.", sagte Sahin und ließ den Motor kurz aufbrüllen.
"Ich kenne jemanden, der absolut saubere Runner vermittelt.", fuhr Anfer unbeirrt fort, "Lupenreine Backgrounds, makellose Laufbahn. Geld spielt keine Rolle. Verdammt Sahin, werd bitte vernünftig. Was glaubst du wie vielen Kugeln du noch ausweichen kannst bevor dich endlich eine trifft?"
Er warf ihr einen Blick zu. Hätte jemand anders sich so weit aus dem Fenster gelehnt, hätte er solche Worte recht schnell wieder bereut. Anfer war die Einzige, die ihm so ins Gewissen reden, ja fast schon herausfordern durfte. Und sie wusste bisher immer, wann der richtige Zeitpunkt dafür war.
Nach einer kurzen Pause sagte er: "Mach deinen Anruf. Aber die Sache bleibt unter uns. Ich werde nur mit dir und Gustav in Verbindung bleiben, das muss reichen. Nein, warte. Versuch Spyder dranzukriegen, er soll sich bei mir schnellstmöglich melden. Habe das Gefühl, dass ich ohne einen Decker nicht weit kommen werde."
"Abgemacht.", sagte Anfer und konnte die Erleichterung in ihrer Stimme nicht verbergen.
Sahin drückte aufs Gaspedal und binnen weniger Sekunden leuchteten die roten Rücklichter ein letztes Mal auf, ehe sie in der alles verschlingenden Dunkelheit Kölns verschwanden.