Sami Sahin lag ausgestreckt auf dem schmalen Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und starrte auf die sich verformenden Schatten an der Decke. Die Motoren vorbeifahrender Autos brummten laut unter seinem Fenster und wurden immer leiser während sie sich tiefer in die Nacht verzogen. Die Tatenlosigkeit machte ihm am meisten zu schaffen.

Nachdem der Deal so grandios gescheitert war, gab es nicht viel für ihn zu tun, außer darauf zu warten, dass sich der Staub wieder etwas legte. Er hatte sich in einem baufälligen Slumloch verkrochen, das früher mal ein Sarghotel für Squatters gewesen war. Dieses Schlafzimmer muss das Größte im gesamten Gebäude sein, dachte Sahin. Hier muss der Gebäudeverwalter mit seiner Familie untergebracht worden sein, während die Gäste in ihren 1x1x2m großen 1-Mann-Kammern zusammengepfercht waren. Die Immobilie eignete sich als der perfekte Unterschlupf mit seiner Lage in dem malerischen, Junkie verseuchten Neumarkt, direkt im vergifteten Herzen von Köln. Es fügte sich nahtlos in die bröckelnden Reihen von Fixerbuden, illegalen Bordellen und versifften Fast Food Restaurants. Hier müssten die Knight Errants tief in die staatliche Kasse greifen und ein Heer mobilisieren um das ganze Gesindel in den Rhein zu treiben.

Sahin schloss die Augen und versuchte sich Benitos Gesicht in Erinnerung zu rufen. Nur die Hälfte seines Kopfes wurde von der Straßenlampe beschienen als sich die zwei Gangleader samt Gefolgschaft auf dem Mauritiuskirchplatz trafen. Benito sah mitgenommen aus; in den tiefen Augenhöhlen saß ein verunsichertes, glanzloses Augenpaar, Sorgenfalten haben sich in die blass grüne Haut gegraben. Er sah aus wie jemand, der lange mit sich ringen musste um eine Entscheidung zu treffen, mit der er niemals ins Reine kommen würde. Hier vor der Sankt-Mauritius-Kirche sollte es endlich passieren. Zwei verfeindete Banden, die sich gegenseitig seit Jahren das Leben schwer machten, würden sich vereinen. Ein Kartell würde entstehen, das Köln fest in seinem Würgegriff hätte, sei es auf legalem Spielfeld oder im Untergrund. Yaban und die italienischen Colonias vereint, das bedeutete ein Ende der Turf Wars. Die Straßen Kölns wären fest unter der Kontrolle des Yaban Syndikats. Unter Sami Sahins Kontrolle.

Benito hat sich selbst in diese Sackgasse hineinmanövriert, dachte Sahin. Ein auf den ersten Blick unscheinbarer Ork, dessen Körperbau zu schmächtig war, die Arme und Beine zu dünn, die Zähne zu stumpf, die Statur zu klein. Unter Seinesgleichen wurde er wie ein Hund behandelt, dessen Besitzer seiner peinlichen Gegenwart müde waren. Es muss der Napoleon-Komplex gewesen sein, der ihn zu dem gemacht hat, was er heute war. Sahin amüsierte der Gedanke. So unterschiedlich, wie es manche religiöse Fanatiker einem weiß machen wollten, sind wir und die Metas wohl doch nicht. Unter Benitos gnadenloser Führung wuchsen die Colonias zu einer einflussreichen Macht in den Kölner Slums. Sie kontrollierten Prostitution, Menschenschmuggel und besonders lukrativ zu der Zeit, den Waffenhandel.

Zwei Dinge waren es, die die gefürchtete Bande vom Thron gestürzt und in Yabans Arme getrieben haben. Zum einen Benitos grenzenloser Hass gegenüber allem, was mit Gesetzesvollstreckung zu tun hatte. Er sah in den Polizei- und Sicherheitskräften nichts weiter als eine weitere Schikane, nur dafür da um seine Geschäfte und seinen Tag zu verderben. Er weigerte sich um die Knight Errants herumzutänzeln und den lokalen Bezirkskommissaren Zugeständnisse zu machen. Nachdem die offenen Handflächen sich genauso leer wieder zurückzogen wie sie sich ihm zunächst von oben herab entgegengestreckt hatten und viele Räder ungeschmiert blieben, entbrannte ein brutaler Straßenkrieg zwischen den Kölner Knight Errants und den Colonias.

"I rather blow this fucking city to all hell than give those pigs a single nuyen!", soll er einst geschrien haben nachdem dank einer groß angelegten Razzia mehrere seiner Bordelle dichtgemacht und zahllose seiner Nutten aus dem Land abgeschoben wurden. Daraufhin haben seine Männer als Vergeltungsschlag einen staatlichen VIP Konvoi in die Luft gejagt. Mitten am helllichten Tag sausten wärmesuchende Raketengeschosse auf die gepanzerte Wagenkolonne zu. Ein erbitterter Straßenkampf entbrannte zwischen den Sicherheitskräften und einem Haufen bis an die Zähne bewaffneten Colonia Elite-Vanguards. Es stellte sich später heraus, dass der VIP seine ganze Familie mitgebracht hatte; die Frau, eine kleine Tochter, ein heranwachsender Sohn und der Familiendackel namens Danzel. Der zweite Raketentreffer löste ein Feuer im inneren der umgekippten Limousine aus. Die Paramedics mussten sechs entstellte Körper aus dem Wagen ziehen, wenn man den Fahrer mitzählt. Der Major Mark Woods höchstpersönlich hat öffentlich Rache für den Tod "eines treuen Freundes und patriotischen Kollegen" geschworen. Seitdem wartet die KE nur noch auf eine günstige Gelegenheit, um die Colonias hochzunehmen.

Benitos zweiter Fehler stürzte seine Bande in einen Zweifrontenkrieg. Es begann mit einem Drive-By wie aus dem Handbuch. Schwarze Jeeps mit abgedunkelten Fenstern und verdeckten Nummernschildern fuhren vor einen angesagten Club in der Ehrenstraße und eröffneten das Feuer auf die vorm Eingang wartende Menge. Es dauerte nicht lange bis klar wurde, auf wen es die Schützen abgesehen hatten - Benitos Schwester, die an diesem Abend ihren Uniabschluss mit ein paar Freunden feiern wollte. Benito machte Yaban dafür verantwortlich und an seiner Stelle war diese Vermutung nicht abwegig, überlegte Sahin und drehte sich auf die Seite. Sein Rücken war taub von dem stundenlangen Daliegen. Selbst Anfer ließ sich zu passiv-aggressiven Bemerkungen verleiten. Er solle doch mal seine Bodyguards im Trainingsraum besuchen, merkte sie einmal an. Es tut ihrer Moral gut den Boss hin und wieder zu sehen. Anfer kann mich mal, dachte Sahin. Ihm war nicht nach irgendwelcher Bullshit-Gymnastik. Auch nicht nach der Gesellschaft anderer.

Seine Gedanken wanderten wieder zu seinem allerersten Bandenkrieg. Es war wohl unausweichlich, dass die alteingesessenen Colonias mit den rasch aufsteigenden Neulingen von Sahins Trupp aneinandergeraten würden. Benito gab Sahin die Schuld an dem Tod seiner Schwester. Dieser Hosenscheißer-Kanake war es, der den Angriff befohlen hatte um zu zeigen was für ein harter Kerl er ist, muss sich Benito gedacht haben. An diesem Punkt soll er ohnehin nicht mehr klar bei Verstand gewesen sein. Der Konflikt mit den KE zermürbte ihn und seine Crew. Wenn man ständig gejagt wird, bleibt nicht viel Zeit für Business. Das Leben wird zu einem permanenten Versteckspiel, Paranoia beeinflusst irgendwann jeden Gedanken, jede Entscheidung. Sahin hatte das während seiner Zeit bei den Grauen Wölfen beobachtet. Männer, die bereits lange dieses Spiel spielten, verschanzten sich irgendwann in ihren hochgerüsteten High-Tech Elfenbeintürmen, umgeben von Armeen aus abgebrühten Veteranen, die keine Fliege ohne passende ID durchlassen würden.

Der Tod seiner Schwester gab Benito schließlich den Rest. Er rief die restlichen Trupps aus ganz ADL zusammen und ließ sie nach Köln kommen. Zusammen zogen sie sich in einem großen Sozialwohnblock im Chorweiler zurück. Von dort aus entsendete er seine Killer-Commandos, mischte Clubs und Restaurants auf, die in Sahins Besitz waren, verübte Bombenanschläge, Brandstiftungen, entführte hochrangige Offiziere des Yaban Syndikats und forderte Sahin öffentlich dazu heraus endlich aus seinem Loch herauszukriechen und kein feiges, schwesternmordendes Arschloch zu sein. Oder so ähnlich.

Sahin tat genau das Gegenteil. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Benito erneut den Fehler macht und die Gewalt auf die feinen, sauberen Straßen der gutbetuchten Bezirke überschwappen lässt. Die KE würden mit voller Wucht zurückschlagen und in diesem Moment hätte Sahin seine Hunde von der Leine gelassen. Das hätte den Colonias den Rest gegeben. Er musste nur lange genug durchhalten, was sich schwieriger erwies als geplant. Um den finanziellen Schaden durch Anschläge im Zaum zu halten, räumte Sahin nahezu alle Lagerhallen und Geschäfte, die Yaban unterstanden.

Der legale Handel war nicht nur für sich allein sehr ertragreich, sondern wandelte Geld aus illegalen Geschäften zuverlässig in lupenreinen Gewinn um. Als dieser nun dicht gemacht wurde, stoppte der Geldfluss in viele wichtige Taschen. Sahins Geschäftspartner und Untergebene wurden immer unruhiger. Sie versuchten Druck auf ihn auszuüben, er solle doch endlich in die Offensive gehen und den Geldhahn wieder aufdrehen. Einige gingen so weit ihm offen zu drohen und Sahin merkte sich den Namen von jedem einzelnen respektlosen Möchtegern-Badass. Sobald sich alles wieder beruhigt, wird er ein Exempel statuieren.

Hatte Sahin sich nun verschätzt? Hätte er mit gleicher Wucht zurückschlagen müssen? Hätte er aus Köln erneut einen Kriegsschauplatz machen sollen, in der Hoffnung, über die größere und besser ausgerüstete Armee zu verfügen? Sahin sah sich gezwungen, einen Pakt mit dem Teufel einzugehen und die restlichen, noch nicht dahin geschmolzenen Reserven dazu zu verwenden, um die KE endlich zu einem Großeinsatz gegen die Colonias zu bewegen.

Doch da kam der Anruf. Benito höchstpersönlich ersuchte ein Treffen. Er war bereit als Leader der Gang zurückzutreten und sämtliche Ressourcen den Yaban zu überlassen. "You win, motherfucker.", hat er zum Schluss gesagt und aufgelegt. Am nachfolgenden Tag bekam Sahin Besuch von „einem guten Freund aus Sizilien“. Ein aalglatter Typ in sündhaft teurem Anzug, der über alles Bescheid wusste und über den kein einziger Eintrag in der Cybersphere existierte, versicherte Sahin, dass die ehrenwerten Capos keine gemeinsame Zukunft mit Benito mehr sahen. Sie haben die Talente des jungen Sami erkannt und fanden seine Bereitschaft, als erstes das Business zu schützen und Widrigkeiten besonnen zu begegnen sehr vielversprechend. Für einen regelmäßigen Schutzbetrag kann Sami ohne Störungen wieder seinen Geschäften nachgehen…

Draußen im Flur wurden die spitzen Absätze immer lauter und das rhythmische Geräusch auf dem nackten Linoleum riss ihn aus seinen Gedanken. Ist es schon so weit, fragte er sich. Anfer ist immer pünktlich, auch dieses Mal war keine Ausnahme. Sahin verschloss kurz die Augen und schüttelte den Müßiggang aus seinen Gliedern. Die Geschäfte warteten. Die Störungen wohl auch.