Küste Chinas, Frühjahr 2014:

Der Wind war nicht mehr ganz so kalt, wie er es vor wenigen Wochen gewesen war.
Aber genug, um einem das Gefühl zu geben, dass der Winter wieder kam.
Und kräftig genug um Celinas erst kürzlich erneut in den seltenen Genuss von Shampoo gekommenes Haar wieder völlig zu verzotteln.
Vielleicht hätte ich lieber nach Schaumfestiger fragen sollen …
Vielleicht solltest du dir eine Glatze machen. Spart einiges an Zeit und Aufwand – ah, aber dein Liebster würde es wohl nicht mögen.
Ich würde es nicht mögen, Will, und du auch nicht.
Stell dir nur vor, wie sich dieser Wind anfühlen würde, wenn keine Haare zwischen ihm und meiner Haut lägen.

Du musstest ja unbedingt bei dem Wetter zum Hafen! Wir könnten einfach die verbleibenden Tage warten, bis das Schiff abfährt.
Aber nein: Prinzessin muss mal wieder „Danke“ sagen!
Ich möchte mich nur verabschieden, das ist alles. Wer weiß, ob oder wann ich sie wiedersehe!

Den letzten Monaten nach zu urteilen ziemlich bald. Man könnte den Eindruck bekommen, dass sie dich stalkt …
Raschen Schrittes bewegte sich Celina zwischen den Hütten des Flüchtlingslagers hinfort.
Viel war nicht los auf den Straßen, es war noch zu früh am Morgen.
Später würden hier das Feilschen, das Betrügen, das Fluchen, das Trinken, das Stehlen und sicherlich auch die ein oder andere Schlägerei beginnen, dabei wollte Celina nicht mehr anwesend sein.
Zumal es hier genug Männer gab, die jede Frau ohne Geleit ebenfalls als käufliches Gut betrachteten.
Aber um diese Tageszeit lagen die meisten von ihnen wohl noch auf ihren provisorischen, und wahrscheinlich ziemlich ungezieferverseuchten Matratzen und schliefen ihren Rausch aus.
Nicht auszudenken, wo Celina schlafen würde, wenn Shelley als Ärztin nicht ein eigenes kleines Haus zugeteilt bekommen hätte!
Der Hafen war erreicht.
Zielstrebig lief Celina vorbei an dem großen Schiff, welches in wenigen Wochen nach Amerika ablegen würde, und auf ein im Vergleich winzig wirkendes Boot zu, wo einige Männer und eine Frau mittleren Alters gerade mit dem Einladen von Kisten beschäftigt waren.
Als die junge Britin näher trat, drehte Andrea den Kopf und nickte ihr zu.
Sie reichte die Kiste weiter, ging dann auf sie zu und fragte kritisch, aber offensichtlich amüsiert:
„Solltest du nicht noch im Bett sein, Schätzchen?“
Celina lächelte sanft.
„Ich wollte mich verabschieden.“
„... und zweifelsohne wieder versuchen, mich doch noch umzustimmen.“
„Ein Versuch kostet nichts.“
„Leider, denn sonst wäre ich reich …“
„In Texas wird es bestimmt besser sein.“
„Zwischen hier und Texas liegen ein Weltmeer, ein Kontinent und mehr Arten umzukommen, als du dir vorstellen kannst.
Momentan läuft es ganz gut für mich, da werde ich keine Weltreise unternehmen, weil sie mich vielleicht, eventuell, mit viel Glück ins Paradies führt.“

Celina seufzte resigniert.
„Das ist schade.
Ich hätte mich wirklich gefreut, dich bei uns zu haben.“

„So ist das eben, Schätzchen“, antwortete Andrea ungerührt. „Man muss immer gefasst sein, Abschiede zu nehmen.
Es hört nicht auf.“

Sie wandte sich erneut um und machte einen Schritt Richtung Boot, doch Celina hielt sie an am Ärmel fest.
„Falls es stimmt, falls wir in Texas den Wiederaufbau beginnen werden – wirst du dann auch dorthin kommen?“, fragte die junge Frau ernst.
„Falls ich davon höre, kann ich es mir ja überlegen“, war die etwas spöttische Antwort.
„Aber nur, wenn Moderatorin wieder ein lukrativerer Job wird.“
Ein warmes Lächeln legte sich auf Andreas Lippen.
„Pass auf dich auf, ja Schätzchen?
Und auf Shelley.“

Dann umarmten sich die beiden Frauen kurz.
Wie lange wird es diesmal dauern, bis wir uns wiedersehen?



Verlassene Insel im Pazifik, Sommer 2016:

„Wer hatte die Idee, dass das hier ein tolles Versteck ist?“, fragte Lee missmutig.
„Vor Piraten sollten wir hier sicher sein“, antwortete sein älterer Bruder Chris. „Hier ist es so verlassen, dass nicht mal die Zombies hergefunden haben …“
„Haben sie“, bemerkte Andrea knapp. „Obwohl es nicht viele waren.“
Sie stand am Eingang der Höhle.
Den Rücken an die Wand gelehnt, warf sie ab und an der Decke skeptische Blicke zu.
Doch meist, so wie jetzt auch, hatte sie ihre kühlen Augen suchend nach draußen gerichtet. Die anderen beiden müssten bald zurück sein, dann müsste sie nicht mehr alleine mit den beiden Jungspunden sein.
Andrea war in keiner guten Stimmung, diese Insel war kein besonders fröhlicher Ort und sie ärgerte sich noch immer über all die verschütteten Güter, die man gewinnbringend hätte tauschen können.
Jetzt teilweise mehr als jemals zuvor.
„Ihr … habt sie doch alle beseitigt …?“, fragte Chris stockend und obwohl die ältere Schmugglerin ihn nicht anschaute, wusste sie, dass er sich furchtsam umschaute. Er war ein Ängstlicher, ein Feigling, ein Weichei, aber Andrea war dankbar, ihn dabei zu haben.
Ein ängstlicher, junger Arzt war besser als keiner.
„Ach komm“, schnaubte Lee, „sie würden sonst doch nicht wiederkommen.“
„Es waren nur vier“, sagte Andrea gelassen. „Und drei waren eher damit beschäftigt, nach einer Verschütteten zu graben als uns zu beachten.“
Mit dem vierten hatte es sich anders verhalten.
Ihn hatte Andrea gar nicht gesehen, erst als es fast zu spät war, und nur mit Glück hatte sie ihn abwehren können.
Unter den Lebenden war er wohl noch sehr jung gewesen, wahrscheinlich auch recht hübsch.
Aber so war Andrea gezwungen gewesen, seinen dunkelhaarigen Kopf zu durchlöchern, bis er sich nicht mehr geregt hatte.
„Die Kleine, die nach Amerika wollte?“, hörte sie Lee fragen.
Richtig, Andrea hatte es einmal beiläufig erwähnt.
„Ja“, erwiderte sie einsilbig.
Ob sie es Celina besser erzählt hätte?
Damals war es ihr besser erschienen, es nicht zu tun, schließlich war das Mädchen völlig verstört gewesen.
Aber heute, heute war sich Andrea nicht mehr so sicher.
Heute wusste sie, dass ihre eigene Tochter nicht mehr lebte, obwohl sie sich auch nicht sicher war, ob sie es wirklich hatte wissen wollen.
Immerhin hatte Andrea ihre eigene Tochter nicht einmal gekannt, keinerlei Beziehung zu ihr gehabt.
Aber zum Nachdenken hatte es sie gebracht.
Und vielleicht hätte sie es Celina besser gesagt.
Vielleicht wäre sie auch besser mit ihr gereist.
Vielleicht war das Leben auf See, mit den immer zahlreicher werdenden Konkurrenten und den ganzen nicht gerade wohlgesonnenen Piraten, doch nicht so toll.
Vielleicht …
„Vielleicht sollten wir auch einfach nach Texas reisen.“
Sie spürte, wie sich verständnislose Blicke in ihr Profil bohrten.
„Nur ein Scherz.“
Oder vielleicht auch nicht.



Irgendwo in Amerika, zur gleichen Zeit:

Kühles Wasser umspielte ihre Füße und bot eine willkommene Abwechslung zu der drückenden Hitze.
Auf einem Holzsteg sitzend, den Rock bis zu den Knien hochgezogen und mit ins Wasser baumelnden Beinen genoss Celina den Anblick von blauem Himmel über dem klaren See. Wobei sie sich träge fragte, wann wohl endlich wieder ein einzelnes Wölkchen oder eine leichte Brise aufkommen würde.
Die schwüle Luft erschwerte Atmen, Sprechen und Denken. Letzteres war wohl auch der Grund, warum Will ausnahmsweise still war. Nun, vielleicht war sie ihn auch endlich los. Genüsslich biss Celina bei diesem Gedanken in einen Apfel.
Ugh, müssen wir immer dieses widerliche Zeug essen!?
Wäre ja auch zu schön gewesen. Celina stieß einen Seufzer aus.
Das sagst du doch bei jedem Obst. Wenn es nach dir ginge, würde ich mich ausschließlich von Schokolade ernähren ...
Wenn du sie nicht eingetauscht hättest - eh, wieso habe ich gerade ein Déjà-vu?
Wir führen diese Art von Gespräch nicht zum ersten Mal, Will.
Ach, vergiss es, Prinzessin!
In der Ferne hörte Celina einige aufgeregte Rufe.
Erschrocken sprang sie auf.
Untote!?
Hört sich eher nach Neulingen an. Und zwar lebendigen.
Beruhigt atmete Celina aus.
Es schien momentan in der Tat keine Gefahr zu bestehen.
Und auf Dauer war gerade das ziemlich beunruhigend.
Vielleicht haben sie etwas zum Tauschen. Wir können noch einiges für unsere Weiterreise gebrauchen.

Schokolade …
Ja, von mir aus auch das.
So schnell es das Klima erlaubte, bewegte sich Celina auf die Siedlung zu, in der sie momentan rasteten.
Es war nicht ungewöhnlich, anderen Reisende über den Weg zu laufen, doch die wenigsten teilten ihr Ziel.
Handel andererseits war oft möglich.
Schon von Weitem erspähte Celina zwei Gestalten, die mit dem „Dorfvorsteher“ sprachen.
Anscheinend ein Mann und eine Frau.
Celina runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen. Es war ein Wunder, dass sie von hier aus und bei dem Licht überhaupt so viel erkennen konnte, doch irgendwie kamen ihr die Beiden bekannt vor.
Eine dritte Gestalt löste sich aus der Ansammlung und raste auf die Britin zu.
Vierbeinig, bellend, weiß.
Ungläubig riss Celina ihre Augen auf, blieb abrupt stehen und hielt gerade noch rechtzeitig ihr Gewicht gegen das der Hündin, die freudig an ihr emporsprang.
„Blanche?“, flüsterte Celina und kraulte dem Tier fahrig den Kopf.
„Dann bedeutet das …“, begann sie, sprach den Satz aber nicht zu Ende.
Sie rannte einfach los.
Auf ihre Eltern zu.