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Ritter
Scheissregen …, murmelte eine mürrische Stimme.
Celina erwiderte nichts. Die Tropfen hatten bereits vor einer ganzen Weile aufgehört, vom Himmel zu fallen und sogar ein paar vereinzelte Sonnenstahlen waren an diesem Morgen zwischen den Wolken hervorgebrochen.
Dennoch fand die hellhaarige Britin die Tatsache, dass es beinahe unmöglich war, ein Feuer zu entzünden, mindestens genauso beklagenswert wie ihre lauthals fluchende Wahnvorstellung es tat. Im Regen nass zu werden war eine Sache, aber dann auch noch morgens mit klammer Kleidung aufzuwachen und keine richtige Wärmequelle zu haben, war eine ganz andere.
Und dazu kamen nun auch langsam ein leichtes Pochen im Schädel und ein Kratzen im Hals.
Nun, immerhin sind wir seit Tagen keinen Untoten mehr begegnet, meinte Celina schließlich hoffnungsvoll.
Oh verdammt, sag das bloß nicht zu laut! Ich wette, die Viecher hören solche Sprüche noch Lichtjahre entfernt…
Jetzt bist du aber paranoid, Will.
Sagt die Prinzessin zu der Stimme in ihrem Kopf. Der übrigens wehtut. Tu mal was dagegen!
Und was genau schlägst du vor? Ich bezweifle, dass wir hier eine Apotheke finden werden.
Was weiß ich. Sprich doch mit deiner Krankenschwesterfreundin oder so!
Shelley schien bereits seit einer Weile wach zu sein.
Verwunderlich war das nicht, denn auch im provisorisch errichteten Lager mitten in den Wäldern Chinas war es nicht gerade einfach einen trockenen, geschweige denn einen warmen oder komfortablen Schlafplatz zu finden. Und trotz des Mangels an störenden Untoten herrschte immer noch eine gewisse Anspannung in der Gruppe. Schließlich war jedem bewusst, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis man ihnen erneut begegnen würde.
Das alles lud nicht gerade zum langen Schlafen ein.
Mit einem, den Umständen entsprechend trotzdem sehr freundlichen Lächeln, wünschte Celina der jungen Ärztin einen guten Morgen und fuhr dann fort:
„Shelley, hättest du rein zufällig in deinem Koffer irgendetwas gegen Kopfschmerzen? Oder Halsschmerzen? Das Wetter scheint mir etwas zugesetzt zu haben. Aber ich glaube nicht, dass es etwas Schlimmes ist“, fügte sie rasch hinzu. „Es ist nur etwas unangenehm.“
*****
Shelley hatte gefühlte Ewigkeiten gebraucht, um den Schock zu verarbeiten, den der Höhepunkt ihrer Expedition hinterlassen hatte. Gefühlte Ewigkeiten. In Wirklichkeit waren es nur wenige Tage. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie das alles längst verdaut. Das war das viel größere Problem.
Trotz all dem Ärger, den sie empfunden hatte, als sie Ivans Leiche dort am Boden liegen sah, war sie glücklich gewesen, überhaupt so stark fühlen zu können. Inzwischen rang ihr das Geschrei von Tag 1 nicht mehr als ein müdes Lächeln ab. "Wie scheiß bescheuert muss das fucking Militär sein, um diese Massenvernichtungsscheiße 'Heilmittel' zu nennen?", hauchte sie nun leise zitierend Worte, die vor ein paar Tagen noch energisch waren. Die Mundwinkel schoben sich schmunzelnd nach oben, was ihren Körper wieder erwachen ließ und die Kälte zurückbrachte. Sie zog die Beine heran und legte die Arme um sich.
Wenn nicht jetzt, wann dann? Es wurde Zeit, Lexis Rat vom Anfang ihrer gemeinsamen Reise in die Tat umzusetzen. Sie brauchte ein Ziel. Irgendeinen Traum, dessen Verfolgen ihr mehr bot, als das bloße Überleben. Die Lethargie hinterließ nicht nur das Gefühl von langsam herannahenden Depressionen, sondern stellte auch eine Gefahr für andere dar. Wenn sie wieder spontan aus den immer gleichen Mustern ausbrechen wollte und das Wohl einer Gruppe riskieren würde, im festen Glauben daran, etwas Gutes zu tun. Ivans Zeit war gekommen, wie die Zeit des Wärters damals. Und sie konnte nur von Glück sagen, das ihr intuitives Handeln nicht wieder Menschen das Leben gekostet hat.
Sie müsste vollkommen aus der Leere hinaus. Nicht in einem kurzfristigen Sprung, der sie nur stolpern ließ und dann doch nichts veränderte. Nein. In einem langen Prozess, der sie in das echte Leben zurückbrachte. Und jetzt - da sie in den vergangenen Wochen die Vorzüge einer Gruppe genießen durfte - wollte sie diesen Weg nicht mehr alleine gehen.
„Shelley, hättest du rein zufällig in deinem Koffer irgendetwas gegen Kopfschmerzen? Oder Halsschmerzen? Das Wetter scheint mir etwas zugesetzt zu haben. Aber ich glaube nicht, dass es etwas Schlimmes ist. Es ist nur etwas unangenehm.“
Celina. Die Britin kam wie gerufen. Vielleicht würde sie ja diejenige sein, die sie auf ihrem Weg begleitet. Wenn sie das noch wollte.
"Na-iickh!", begann die gebürtige Texanerin krächzend und hustete dann unwillkürlich. Ein kurzes Schmunzeln folgte. "Nein, tut mir Leid!", warf sie nach einer kurzen Pause mit dem leicht rauchigem, nicht verschwinden wollendem Unterton in der Stimme hinterher. "Ich habe leider so gut wie Nichts mehr."
Sie stand anschließend auf, einerseits um nicht unhöflich zu sein und andererseits, um die Beine wieder durchstrecken zu können. Bewegung war vielleicht das einzige Gut, welches einem in diesen Tagen nicht genommen wurde - auch, wenn es immer schwerer fiel.
Ein, zwei Schritte ging sie von Celina weg und beugte sich dann im Stehen nach unten, um einen kontrollierenden Blick in beide ihrer Taschen zu werfen, nicht sicher, ob ihre Erinnerung ihr wegen des Schlafmangels und der Erkältung nicht einen Streich spielte. Doch Nichts. Nichts von akutem Nutzen jedenfalls. Ein paar dreckige Verbände, das medizinische Werkzeug, das sie aus Komfortgründen aus dem schweren Koffer genommen und in die Beutel verfrachtet hatte, die schmutzige Kleidung von vor Wochen und den kleinen Hefter mit dem Bild, das Aimee gemalt hatte. Wieder ein kurzes Schmunzeln.
Mit knackenden Gelenken und schmerzendem Rücken erhob sie sich und drehte sich wieder zur Europäerin. "Nein, tut mir Leid!", sagte sie, etwas näher tretend und sich nicht mal der Tatsache bewusst, dass sie sich bereits entschuldigt hatte. Vermutlich war ihre eigene Verfassung - das Husten, das Schniefen, der Gang einer alten Frau - Anzeichen genug dafür, dass sie nichts mehr besaß, was half.
Mit einem müden Lächeln blickte sie Celina an, musterte sie und stellte fest, dass es ihr nicht wesentlich besser gehen dürfte, als Shelley selbst. "Wir sollten langsam weiterziehen, oder? Lange wird das hier nicht mehr gehen. Und es ist so trostlos. Brauchen wir nicht irgendein Ziel?", führte sie aus und hörte in Gedanken schon Celina spöttisch über die Vorstellung lachen, dass sie einen gemeinsamen Weg hätten.
*****
Die junge Ärztin sah selbst nicht sonderlich gut aus, das musste Celina zugeben.
Ha, zumindest sind wir nicht die Einzigen, denen es dreckig geht.
Dafür, dass es dir so schlecht geht, bist du aber noch ganz schön gesprächig.
Anders erreicht man ja bei dir nichts, Prinzessin.
Es sieht aber auch nicht gerade danach aus, als würde es gerade helfen.
„Wer weiß, vielleicht müssen wir uns nur noch ein paar Monate überleben bis es wieder Apotheken gibt“, meinte Celina, in dem etwas kläglichen Versuch, aufmunternd zu klingen.
Sie schwieg einen Moment lang verlegen und fügte dann nachdenklich hinzu:
„Aber ein Ziel – das wäre wirklich gut zu haben.“
Ein Ziel, das man vor Augen hatte, dem man entgegenkrabbeln konnte, das einem von beginnenden Erkältungen ablenkte.
Ja, das würde Celina gefallen.
„Weißt du, Shelley“, sagte sie schließlich. „Ich habe mir komischerweise nie Gedanken darüber gemacht, wohin ich möchte.
Und ehrlich gesagt weiß ich es immer noch nicht.
Ich habe irgendwie den Eindruck, dass es völlig egal ist, welche Richtung man einschlägt. Immer findet man nur mehr Zerstörung und mehr Untote.“
Gedankenverloren blickte sie ins Dickicht des Waldes, als könne sich dort jeden Moment ein breiter Pfad in ein besseres Leben offenbaren.
„Und außerdem“, fügte die junge Britin hinzu, „weiß ich ja noch nicht einmal, ob und wo da draußen noch jemand übrig ist, von meinen Angehörigen …“
Ihre Mutter? Ihr Vater?
Derek?
Überall auf der Welt konnten sie mittlerweile sein, tot, lebendig oder dazwischen.
Mit einem Mal wurde Celina bewusst, was sie gerade gesagt hatte und mit einem beschämten Auflachen fuhr sie fort: „Ach, es tut mir Leid. Du machst dir Gedanken über ein Ziel und ich sage nur, dass es keins gibt. Ich bin wirklich nicht sonderlich hilfreich.“
Selbsterkenntnis ist der schnellste Weg zur Besserung, Prinzessin.
Ja, Will, und wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen!
*****
Ein kurzes, ehrliches Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Es war sicher nicht die feine englische Art, so zu grinsen, wenn Celina gerade erst beschämt zugegeben hatte, dass sie kein wirkliches Ziel zu haben schien, doch Shelley war schließlich auch nicht die Britin unter den beiden.
"Ich habe auch kein Ziel!", sprach sie dann offen und hoffte, dass das eine gewisse Aufmunterung für die Diplomatentochter bedeutete. Gemeinsam kein Ziel zu haben wirkte doch gleich weniger bedrohlich, fand zumindest die ehemalige Kamerafrau. "Also... ich habe oft überlegt. Mal... mal wieder nach Hause, oder so. Aber, dann... ich meine. Das Ziel wäre dann vielleicht, Eltern oder alte Freunde wieder zu finden, aber das erscheint mir komisch. Am Ende findet man eh nur raus, dass..."
Sie ließ eine kurze Pause folgen und sah Celina prüfend an, beließ es dann dabei. Dank der seltenen und wenigen Hygienemöglichkeiten, der gesundheitlich eingeschränkten Verfassung von jedem hier und der allgemein frustrierenden Lage und Situation war niemandem mehr anzumerken, wie es ihm wirklich ging oder wie er auf Dinge reagierte. Sie müsste jedoch nicht riskieren, die Engländerin auf die hohe Wahrscheinlichkeit anzusprechen, dass ihre Angehörigen inzwischen sicher entweder Zombies oder Zombiefutter geworden waren, auch wenn sie ja selbst bereits zu verstehen gegeben hatte, dass sie von diesem Umstand bereits wusste. Dennoch - nicht jeder war so ein emotionaler Eisblock wie Shelley selbst.
Und außerdem hatten es andere ja auch geschafft. Andrea war nach wie vor unterwegs und mache die Welt unsicher - gut, schlechtes Beispiel. Die Zombieapokalypse war nicht hart genug für Andrea.
Ian. Ian war ein gutes Beispiel. Das größte Mädchen unter den Männern. Ein kurzes Grinsen, halb witzelnd, halb sehnsüchtig. Aber selbst er hatte es geschafft.
Und dann war da noch sie. Sie hatte es immerhin auch geschafft und war nie eine große Survival-Künstlerin gewesen. Dennoch hat sie sich im Hole als "Ärztin" einen Namen gemacht, sich erfolgreich einer Gruppe angeschlossen, als Camp Hope nicht mehr sicher war, ist mit einem Speer über Zombiehorden und über - oder besser auf - Felsen gesprungen, hat ein Piratenlager geplündert, ein Schleusentor zur Flucht geöffnet und schließlich zusammen mit nicht mal 15 weiteren Überlebenden das angebliche Heilmittel gefunden, das vielleicht dazu in der Lage ist, einigen - oder vielen - Menschen das Leben zu retten. Natürlich gelang ihr das alles nicht ohne Hilfe. Aber Hilfe hatte man nun mal... auch ihre Eltern und Freunde. Auch Celinas Eltern und Freunde
"Ich glaube, das ist eine gute Idee!", beendete sie schließlich ihre Gedanken laut und blickte Celina dabei richtig stolz an, die natürlich nicht ahnen konnte, worauf sie aus war. "Ich meine... einfach mal ein Ziel. Viel gibt es in dieser Welt nicht mehr und es sterben viele Menschen, klar. Aber wir haben es ja auch geschafft, also sollten wir nach denen suchen, denen es vielleicht genau so geht."
Die Gedanken hatten ihr etwas Mut gemacht, der sie zumindest für den Moment ein wenig aufblühen ließ. Das musste genutzt werden. "Mein Kopf ist dicht und dominiert von einem krankheitsbedingten Dröhnen, Hunger und dem Wunsch nach einem heißen Bad in einer großen, quadratischen Marmorbadewanne, die eigentlich viel zu groß für eine Person alleine ist, deren Wasser mit nach Jasmin duftendem Badeschaum ich aber trotzdem niemals mit jemand anderem teilen würde ...ääh... das heißt, ich bin total vernebelt und weiß natürlich sowieso nicht, wie die Welt aussieht. Aber ich möchte mich auf die Suche nach Menschen begeben, die ich kenne und mich auf der Suche nach diesen Personen, von denen ich mich irgendwann getrennt habe, nicht wieder von Personen trennen, weißt du?"
Wasser hätte ihr ganz gut getan. Auf der einen Seite, um es zu trinken und damit vorrangig ihr Gequatsche zu stoppen und auf der anderen Seite, um es sich schwungvoll ins Gesicht zu klatschen und einen klaren Kopf zu bekommen, ihre Gedanken etwas ordnen zu können und dann noch mal in Ruhe das zusammenzufassen, was sie meinte. Doch es müsste auch ohne Wasser gehen.
Mit leicht zusammengekniffenen Augen - so fiel ihr die Konzentration leichter - atmete sie einige Male durch und begann dann einen neuen Satz, wesentlich langsamer vorgetragen als noch zuvor. "Wir sollten nach den Menschen suchen, die wir vermissen, und das nicht alleine. Ich begleite dich und du begleitest mich." Sie sah einen Moment durch Celina hindurch, schob die Lider für wenige Sekunden entspannt über die Augen und öffnete sie dann wieder, um die junge Frau zu fokussieren.
"Was denkst du?"
*****
Celina war unschlüssig, was sie dazu sagen sollte.
Natürlich wollte sie die Vermissten finden.
Aber das war so schwer, wenn man überhaupt nichts wusste.
Schließlich sagte sie, wenig überzeugend:
„Das ist eine gute Idee.“ Im selben Moment wurde ihr bewusst, wie das in Shelleys Ohren klingen musste und lächelte entschuldigend.
„Nein, ich finde wirklich, dass es eine gute Idee ist.
Keine von uns beiden wäre allein und wir hätten immer etwas, auf das wir zusteuern könnten.
Das wäre großartig, und das meine ich ernst“, fügte sie ernsthaft hinzu.
Dann blickte sie zur Seite und sagte leise:
„Aber das Suchen ist einfach so schwer, wenn man nicht weiß, wo man anfangen soll.
Weißt du, mein Vater war so oft auf Reisen, dass ich nicht einmal den Hauch einer Ahnung habe, wo er sich aufhielt als das alles begann.
Und auch so könnten sich meine Mutter, Derek und auch Blanche irgendwo zwischen Neuseeland und Großbritannien befinden – oder ganz wo anders.“
Blanche? Habt ihr nicht gerade von Menschen geredet?
Mir zieht sich der Magen zusammen, wenn ich daran denke, was einem kleinen Welpen alles passiert sein könnte!
So klein war sie doch gar nicht mehr. Wahrscheinlich ist sie jetzt ein kalbsgroßer Zombieschlächter.
Ich weiß ja nicht …
Ein wenig ärgerlich schüttelte Celina den Kopf, um ihre unerwünschten Gedanken ein wenig beiseite zu schieben.
Dann sah sie Shelley verlegen an.
„Uhm, Blanche ist mein Hund. Um sie sollte ich mich wohl nicht so sehr sorgen …“
*****
Die Britin hatte mit ihren Worten eine nicht enden wollende Gedankenkette in Shelleys Kopf angestoßen. Es mochte wohl an ihrer schlechten Verfassung liegen, dass es ihr einfach nicht gelang, Überlegungen abzuwehren. Jeder ansonsten noch so geringe Hirnaufwand kam ihr gerade wie eine enorme Belastung vor.
Als sie schließlich doch die schier endlose Überlegung ad acta legte, wie wohl Hunde auf den Zombievirus reagierten - sie konnte sich jedenfalls beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals einem untoten Tier begegnet zu sein, wenn sie seit dem Outbreak in Australien überhaupt Tieren begegnet war -, wandte sie sich wieder Celina zu, lächelte dabei, auch froh darüber, den Kopf frei zu haben.
"Meine Eltern haben der Heimat immer so einen gigantischen Stellenwert beigemessen!", erinnerte Shelley sich grinsend und formte beim Wort "Heimat" mit den Fingern imaginäre Gänsefüßchen. "Die haben nie verstanden, wie ich überhaupt daran denken konnte, Houston zu verlassen. Und ich kann - oder... besser konnte - mir nicht ansatzweise vorstellen, dass die beiden wegen irgendwas die Heimat verlassen würden." Ein kurzes Lachen folgte. "Aber jetzt ist das irgendwie ein bisschen was anderes. Heimat ist temporär und immer da, wo es am sichersten ist, selbst für die größten Patrioten." Die Texanerin brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie mit jemandem sprach und nicht in einem gedanklichen Monolog mit sich selbst war.
"Auf der anderen Seite ist Texas vielleicht wirklich der Ort, wo es am allersichersten ist, jedenfalls jetzt. Der Tank mit dem Heil...mittel ging ja nach Corpus Christi und das ist immerhin nur einen Katzensprung von zu Hause entfernt." Katzensprung. Katzen. Wieder Tiere.
Fast symbolisch schüttelte Shelley ihren Kopf leicht und war angenehm überrascht, dass das zu funktionieren schien. "Jedenfalls wäre das der Ort, an dem ich irgendwann gucken würde. Vielleicht ist deine Familie ja auch da, wenn sie irgendwie davon hören, was passiert." Sie nahm sich fest vor, Celina bald zu fragen, wer wohl Derek war. Dann, wenn sie sich wieder aufnahmefähig fühlte.
"Und wenn wir Richtung Westen reisen, schauen wir vorher noch in Großbritannien vorbei." Das hörte sich aus ihrem eigenen Mund so verdammt einfach an, doch selbst mit dem geringen Maß an Fantasie, die ihr kranker, müder Kopf gerade zu Stande brachte, war es nicht schwer, sich auszumalen, dass es ein weiteres Wunder benötigen würde, um überhaupt gesund und lebend in Texas anzukommen.
*****
Celina musste bei dem letzten Vorschlag unweigerlich lächeln.
Es war absolut unwahrscheinlich, dass sie England jemals wiedersehen würde, doch Shelleys Aufmunterungsversuch stimmte sie doch etwas froher.
„Nun, das klingt nach einem Plan. Ich hoffe, dass du einen Pilotenschein hast, falls wir ein Flugzeug finden?“, sagte sie, halb ernst, halb scherzhaft.
Also vermutlich halb Celina, halb Will, aber das würde Shelley wohl nicht auffallen.
Es sei denn, sie konnte ihren Geist lesen, aber das wollte Celina gar nicht in Erwägung ziehen …
Als sie bemerkte, wie ihre Gedanken wieder abschweiften, fuhr sie nachdenklich fort:
„Aber du hast recht. Es ist schon seltsam, welchen anderen Stellenwert das Wort Heimat angenommen hat.“
Sie lachte verlegen.
„Als ich mich mit Derek auf die Reise gemacht habe, hatte ich ab und zu wirklich Heimweh.
Aber seit meiner Zeit in Camp Hope war mein größtes Anliegen, am Leben zu bleiben und vielleicht irgendwann, irgendwo Derek oder meine Familie wiederzutreffen.“
Sie zögerte und fügte etwas schuldbewusst hinzu:
„Und in letzter Zeit eher Ersteres als Letzteres, um ehrlich zu sein.“
Und das ist auch gut so. Wäre echt nicht zum Aushalten gewesen, wenn du die ganze Zeit auch noch um dein Zuhause und deine Liebsten geheult hättest.
Und getötet hättest du uns wahrscheinlich auch noch.
Celina schenkte ihrem imaginären Freund keinerlei Beachtung.
Stattdessen schaute sie Shelley direkt in die Augen und sagte:
„Vielleicht sollten wir wirklich nach Corpus Christi reisen.
Von hier aus ist es immerhin nicht so weit nach Amerika …“
Du warst keine Blende in Erdkunde, was?
„… und vielleicht erreichen wir ja bald die Küste und damit ein Schiff.
Vielleicht gibt es auch andere, die das Meer überqueren möchten.
…
Also, eigentlich hasse ich Schiffe, aber das kann ich bestimmt irgendwie überwinden.“
Mit einem Schiff würden sie wohl reisen müssen, das wäre noch das am Wahrscheinlichsten auffindbare Transportmittel.
Also malte sie sich aus, wie es wohl wäre, in Texas anzukommen und fuhr ein bisschen schwärmerisch fort:
„Wer weiß, vielleicht haben wir dann bald wieder heiße Bäder, sichere Wohnorte – und Tabletten gegen Kopfschmerzen.
Und bestimmt wird sich das Wort verbreiten, dass es dort wieder aufwärts geht.
Vielleicht werden unsere Angehörigen dann auch dorthin kommen …“
Glaubst du das im Ernst!?
Es ist immerhin eine Möglichkeit.
Du bist ziemlich naiv, weißt du das, Prinzessin?
Bisher bin ich doch ganz gut damit zurechtgekommen, oder?
Sei froh, dass du mich hast, so gibt es immerhin einen Funken gesunden Menschenverstand in deinem Kopf.
Und denk mal drüber nach, was es bedeutet, wenn eine Halluzination das zu dir sagt.
Danke Will, ich liebe dich auch.
Das solltest du auch besser.
Erneut unterbrach Celina ihren inneren Dialog und schaute Shelley erwartungsvoll an.
*****
Shelley nickte breit grinsend. "Wenn sich das Wort nicht von alleine verbreitet, dann helfen wir eben nach." Ihr Inneres wurde stetig wärmer, zumindest gefühlt. Die Motivation war als eine Welle angenehmer Hitze zu spüren, die sich in ihrem Bauch immer mehr ausbreitete. So musste auch Columbus sich gefühlt haben, als er zwar ins Ungewisse aufbrach, aber doch ein Ziel hatte und dabei ihr Heimatland entdeckte. Das müsste sie ihm nachmachen.
Die Zeit der Lethargie und Ziellosigkeit sollte jetzt jedenfalls vorbei sein. Texas. Heißes Bad. Das waren ihre Ziele. Es war womöglich etwas seltsam, dass das heiße Bad klar an oberster Stelle ihrer Prioritäten stand, aber dann auch wieder nicht. Trotz dem, was sie über Corpus Christi wusste - und das war schließlich auch nicht viel - war es doch eine Reise ins Ungewisse. Bei einem heißen Bad wusste man, was man bekommt. Ein heißes Bad eben.
"Es wird sicher toll!", sagte sie dann wieder laut und klang dabei ebenso schwärmerisch wie zuvor schon Celina. "Ich habe auch sch...z-ziemlich viele Fragen an dich. Ich weiß ja gefühlt noch nichts über dich", kündigte sie bereits an, doch wusste, dass die Britin sich nicht ansatzweise vorstellen konnte, was es bedeuten würde, wenn Shelley nach all den nahezu stummen Jahren wieder jemanden zum Austausch hatte. Doch auch die Diplomatentochter schien in all der Zeit ja das Bedürfnis entwickelt zu haben, sich jemandem mitzuteilen.
"Und dann retten wir von Texas aus die Welt!", grinste sie in Vorfreude, bevor sie ihre Gedanken und Ausführungen endlich abschloss.
"Also Corpus Christi!"
*****
„Unbedingt!“, erwiderte Celina, die nun nicht anders konnte, als das Grinsen zu erwidern.
Und seltsamerweise fühlte sie sich gar nicht dumm dabei.
Ja, sie fühlte sich im Augenblick sogar so beschwingt, dass sie nicht widerstehen konnte, Shelley auf die Schulter zu klopfen und mit einem Augenzwinkern zu sagen:
„Und immerhin hat so eine lange Reise auch etwas Gutes:
Wir werden sicher viel Zeit zum Reden haben.“
Toll, und ich werde wohl die ganze Zeit zuhören müssen...
Vielleicht lernst du ja dabei, etwas freundlicher zu sein.
Solange am Ende wirklich ein heißes Bad bei rumspringt, kann ich es wohl ertragen…
Meine Güte, Will, ich hätte niemals gedacht, dass du so erpicht darauf bist, ein nacktes Mädchen anzuschauen!
Ha, viel gibt’s bei dir ja nicht zu sehen.
Du könntest wirklich ein wenig Unterricht in Nettigkeit gebrauchen!
Celina wollte noch etwas zu Shelley sagen, als ihr Blick an etwas anderem hängen blieb.
Aufgeregt zeigte sie Richtung Horizont, auch wenn das bei einer Frau über zwanzig vermutlich lächerlich aussah, und rief:
„Schau mal!“
Gah, wer hat dieses kitschige Drehbuch geschrieben!?
Dort, hoch über den Wäldern, zwischen dunklen Wolken und hellen Sonnenstrahlen, konnte man ihn ganz deutlich sehen.
Ein schillernder Regenbogen, dessen Ende irgendwo im Horizont verschwand.
Und dort, dessen war Celina sich sicher, wartete Corpus Christi.
Und ein heißes Bad.
Hoffentlich.
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