Wenigstens war es hier wieder warm. Die vielen Tage und Nächte, die Shelley und die anderen nun der Kälte entflohen waren, hatten an den Kräften genagt, die nach ihrem Ausflug ins Steuerhaus an der Schleuse ohnehin schwächer geworden waren. Es musste sich um ein Wunder handeln, dass sie noch gesund war und nicht mindestens eine solide Erkältung davongetragen hatte.

Nun ging es ihr wieder gut, auch wenn das nur den gesunkenen Ansprüchen zuzuschreiben war. So richtig zufrieden konnte sie ja nicht sein. Für den Moment hatten sie zwar Unterkunft gefunden, doch das hier würde nicht das Ende der Expedition markieren, wenn überhaupt den Höhepunkt. Was hier nun genau das Heilmittel war, wie man es einsetzte, wie man es transportierte und ob es nicht vielleicht doch vergebene Hoffnungen gewesen waren, konnte sie nicht mit letzter Gewissheit sagen.

Wenigstens lebte Ivan noch. Nach dem Öffnen der Schleuse hatte Shelley quasi nur geschlafen, bis sie das Schiff auch schon verlassen mussten. Sie hatte auf die Schnelle alles eingepackt und war sich inzwischen sogar sicher, nichts vergessen zu haben. Das war natürlich auch einfach, wenn sie sich daran erinnerte, wie wenig sie noch besaß. Den Beutel mit Wäsche, den Beutel mit medizinischen Utensilien, die Waffe - die sie seit ihrem Ausflug nicht mehr angerührt hatte -, Aimees Zeichnung und den albernen aber schon jetzt mit Erinnerungen nur so vollgestopften Mantel des Dorfhäuptlings der Aku Aku.

Ivan hatte sie erst vergessen, doch er war bei ihnen, die ganze Zeit. Als sie das zum ersten Mal bemerkte, warf sie Celina einen dankbaren Blick zu, von dem sie nicht wusste, ob diese ihn deuten konnte. Jedenfalls hatte bis heute niemand eine Hexenjagd gestartet, was heißen musste, dass er sich nicht zu auffällig verhalten hatte und sie das Geheimnis für sich behielt. Shelley wusste eben doch, wem man vertrauen konnte. Nur sollten sie nun langsam wirklich in die Gänge kommen. Noch schien das Schlafmittel den Russen am Leben zu halten, doch wie lange würde das noch gut gehen? Sie müssten schnellstmöglich das Heilmittel ausfindig machen, wie auch immer.

„Äh, Shelley“ - Jul sah sie an, als sie sich zur Stimme umdrehte, lächelte. Die Deutsche hielt ein schönes, vedisch anmutendes Armband in der Hand und zeigte es ihr. „Sieh mal, dieses Armband habe ich in Zhanjiang gefunden. In dem Haus, in dem ich auch die Landkarte mitgenommen hatte. Ich habe es bisher noch niemandem gezeigt und immer in meiner Tasche gehabt. Aber… naja, ich denke, es ist zu schade um nur in der Tasche getragen zu werden und deshalb… uhm… also… willst du es haben? Mir steht kein Schmuck und ich denke, an dir könnte es ganz gut aussehen.“

Shelley nahm es lächelnd aus ihren Fingern und legte es sich an. "Das sieht wirklich schön aus." Etwas gutes hatte ihre Reise seit der Flucht aus dem Camp Hope ja ganz bestimmt. Sie war sich ziemlich sicher, dass Jul diejenige war, die sie grimmig ansah, an dem Tag als sie Gabriel kennengelernt hatte. Und jetzt schenkte sie ihr ein schickes Kettchen mit einem bezaubernden Anhänger, den sie mit Daumen und Zeigefinger umfasste und etwas hochzog, um ihn genauer zu betrachte, bevor das nächste Lächeln wieder Jul galt. "Danke!", sagte sie und fühlte sich dabei wieder nach einer Umarmung - und ganz nebenbei sah die sportliche Europäerin auch so aus, als könnte sie mal eine gebrauchen.

So legte sie die Arme - mitsamt neuem Armband - um die Schultern und in den Nacken der Deutschen und drückte sie fest. "Tut mir Leid!", sagte sie präventiv. "Eigentlich bin ich nicht so, aber in diesen Tagen können wir alle mal Streicheleinheiten gebrauchen, oder?"