Zusammen mit Fritz stand Shelley für das vielleicht letzte Mal auf der Steuerbordseite der "Heather", blickte dem drohenden, dunklen Nachthimmel entgegen, der zwischen dem Gerüst des Krans hervor funkelte. Sie sah den massigen Begleiter zu ihrer Linken an, musterte ihn eine Weile, bevor auch er ihren Blick erwiderte und sie einvernehmlich nickten, anschließend mit ausreichend Abstand voneinander in das ölige Wasser sprangen, dessen bestialischer Gestank betäubend schien. Mit einem Arm paddelte sie, nur schwer vorankommend, mit dem anderen Arm hielt sie Lexis MG sicher von der Oberfläche fern.
Ihr Gehirn war abgeschaltet, sie quälte sich wie im Rausch durch die zähe Feuchtigkeit, versteckte sich eine Weile im Schutz der Kaimauer und stieg dann kurz nach ihrem Begleiter aus dem Nass. Ihr langes Haar triefte und Jeans sowie Top klebten unangenehm an der Haut, der Wind tat sein Übriges, ließ sie fürchterlich frieren. Doch sofort sprintete sie dem großen Deutschen hinterher und blinzelte absichtlich lang als dieser mit seinem Schild ein dürres Zombiegestell einfach zur Seite räumte. Das Matschen ließ sie trotzdem mit den Zähnen knirschen, bevor die zusammensackende, modrige Gestalt ihre Schulter im Fallen touchierte.
Sie kamen näher ans Steuerhaus. Der Plan war klar. Fritz würde draußen bleiben und die Zombies fernhalten, während sie versuchte, das Schleusentor zu öffnen. Darüber machte sie sich schließlich fast mehr Sorgen als über ihr eigenes Wohlergehen. Im Optimalfall würde sie das Tor auf Anhieb öffnen, mit ihrem Kameraden auf das Boot zurückkehren und das MG nicht mal benutzen müssen. Doch im Worst-Case-Szenario schafften es weder er, noch sie - und auch das Tor bliebe verschlossen.
Noch gelang es ihnen, die Monster nur einzeln anzuziehen. So wurde der Schildträger spielend mit ihnen fertig. Doch das hieß auch, dass die Untoten sich nur zögerlich vom Eingang des Steuerhauses entfernten. Als die verrotteten Knochen eines der Angreifer nach einem weiteren Schildschlag von Fritz jedoch wieder in erschreckendem Ton zerbarsten, nutzte sie ihre Chance und wagte sich vor, nicht mehr ganz so schnell wie zuvor, um sich vom Gefährten überholen zu lassen, der den letzten verbliebenen Walker am Metalltürchen wegdrückte und ihr dann sogar ganz Gentleman-like - wenn auch zu demonstrativ - die bereits beschädigte Tür aufhielt. Gerade war sie durch, da schloss er sie wieder und sie nahm das Aufkeuchen eines weiteren Seelenlosen wahr, der wohl gerade Bekanntschaft mit dem Schild gemacht hatte. Das Schild, das vor einem Monat noch an der Statue inmitten des Museumsdorfes Aku Aku platziert war. Vielleicht - und darauf konnte sie nur hoffen - rettete die Schutzwaffe ihr Leben so, wie es der dazugehörige Speer am Strand getan hatte.
Bevor sie sich jedoch in Sicherheit wiegen durfte, gab es etwas zu erledigen - das Wichtigste. Egal, was mit ihnen passierte, sie würden zumindest dem Rest der Gruppe den Weg öffnen müssen - und ob das klappte, lag nun allein in ihrer Hand. Sie schaffte es, ruhig zu bleiben und sah sich um. Nicht, dass sie alle Zeit der Welt gehabt hätte, doch Eile hätte ihr nur mehr die Geduld genommen und damit die Fähigkeit zum genauen Beobachten. An beiden Seiten waren lange Fensterreihen. Diese waren inzwischen dreckig, verschmiert und wiesen teilweise Blutspuren und -flecken auf, auch drinnen roch es unangenehm, nach verbrannten Kabeln und Verwesung, doch von Toten - oder lebenden Toten - war nichts zu sehen.
Interessanter als die Fensterfronten war das fast genau so lange Schaltpult an der Nordseite des Häuschens. Gefühlte tausend aktive und ausgeschaltete Lichter leuchteten und blinkten, wirkten dabei lediglich wie eine schlechte Karikatur tatsächlicher Elektronik. Sie trat näher an die Konsole und die Befürchtungen, die nur Augenblicke zuvor entstanden waren, bewahrheiteten sich sofort. Offensichtlich gab es recht eindeutige Anweisungen, was mit den Hebeln, Schaltern und Knöpfen anzustellen war, diese waren freundlicherweise sogar nachträglich in das Pult geritzt worden - doch leider in Form von Schriftzeichen, die sie nicht entziffern konnte.
Pausenlos flog ihr Blick über die Schalter und danebenstehende Zeichnungen. Kopf und Augen verhielten sich dabei beinahe wie eine Schreibmaschine, die immer wieder in der selben Zeile ansetzte und den vorhandenen Text überschrieb. Je öfter sie guckte, desto mehr verschwamm die Information. Was blieb, war Verwirrung, die sie verzweifelte, früher oder später in der altbekannten Lethargie münden würde. Und dann donnerte es.
Im ersten Moment schreckte sie nur hoch, im zweiten erkannte sie das Gewitter, denn durch das verschwommene Transparent der beschlagenen Glasscheiben vor sich blendete ein Blitz sie für kurze Zeit. Ein rasches Blinzeln und schon knallte es erneut. Das Wetter schickte ein Zeichen, weckte sie auf. Sie würde sich und die anderen nicht aufgeben dürfen, es ging um mehr als ein schwieriges Rätsel, auf das man keine Lust hatte. Hier standen Menschenleben auf dem Spiel und Celina sagte die Wahrheit, wenn sie behauptete, dass die Nahrungsvorräte nicht mehr lange genug reichen würden. Es war höchste Zeit, hier herauszukommen.
Heftiger Regen peitschte von Außen gegen die Fenster. Das gelegentliche Stöhnen beruhigte sie. Noch immer schien Fritz es mit den Massen an Feinden aufzunehmen. Shelley beugte sich nur über das Pult, atmete schnell und heftig. Es gab vier Hebel, vier Schalter und zwei Knöpfe, die offensichtlich mit der Öffnung des Schleusentores zu tun hatten. Sie studierte die Zeichen dahinter, versuchte, Schlüsse zu ziehen. Schließlich ließen sich die Hebel und Schalter nur in jeweils zwei Richtungen wenden. Und die Knöpfe, auf denen Buchstaben prangerten würden ohnehin gedrückt werden müssen, komme was wolle. Gott, warum sind diese verdammten Anweisungen nicht universell verständlich? Das ist ein fucking Hafen, das müssen ja wohl auch Ausländer verstehen können. Pfeile, habt ihr keine Pfeile?, fauchte sie sich selbst zu und verzweifelte immer mehr, versuchte schließlich einfach nach Intuition zu handeln, legte die Schalter um, wie sie es für richtig hielt. Der erste nach unten, der zweite nach oben, der dritte auch, der vierte... auch? So würde sie nicht weiter kommen.
Wer war nur auf die Idee gekommen, chinesische Anweisungen auf die Konsole zu kritzeln, wo doch die beiden Knöpfe das ihr bekannte Alphabet benutzten. Ein großes, schwarzes "A" war auf dem rechten der beiden Knöpfe zu sehen, ein "B" zierte den linken. Sie nahm ein Kratzen an der Tür war. Hatte es Fritz erwischt? Vom Keuchen war nichts mehr zu hören.
Sie war auf sich alleine gestellt. Und sie musste es schaffen. Ihre Hände fuhren über das Pult. Als wäre es Blindenschrift, zog sie mit den Fingerkuppen die Zeichnungen nach. Die Finger zitterten, doch sie versuchte nicht darauf zu achten. Tausende Gedanken drangen in ihren Kopf. Fiese Gedanken. Gedanken, die nicht die Möglichkeit ließen, dass sie überleben würde. Doch auch Gedanken, die nach einem zufriedenstellenden Ende verlangten. Ein Ende, das sie nicht mit dem Wissen zurückließ, ihre Begleiter im Stich gelassen zu haben. Und dann, gerade als die Tür mit lautem Krachen aus den Angeln fiel, ein Blick über ihre eigene Schulter Shelley verriet, dass drei oder vier ihrer Gegner diese zum Einsturz gebracht hatten, wurde sie schlau aus den Zeichnungen. Das da war kein chinesisches Schriftzeichen... das war das Konami-Logo.
Ihre Finger flogen am Pult entlang, legten die Schalter um, während sie im Hintergrund hörte, wie die Zombies sich aufrappelten. Sie würden sie kriegen, doch Shelley hatte das Rätsel gelöst, ihren Mitstreitern die weitere Reise gesichert. Oben, oben, unten, unten, links, rechts, links, rechts, B und A. Das war es. Mit einem mechanischen Klicken rasteten die Hebel ein und das laute Surren verriet ihr, dass das Schleusentor sich öffnete. Noch besser: Es lenkte die Monster für einen Augenblick ab, der reichte, um das Maschinengewehr in Position zu bringen. Wenn ich gehe, dann so.
Sie legte die Waffe in die Hand und breitete den Schritt aus, war so stabil genug, um nicht den Halt zu verlieren. Hatte sie auf alles geachtet? Sie würde es gleich merken. Die Fingerknöchel drückte sie sich am Metall weiß. Die nassen Haare klebten ihr am Gesicht, als sie in das zerfallene, kieferlose Gesicht vor ihr sah, das nun bohrend zurückblickte und die knochigen Hände - mit sporadischen Hautstücken versehen - auf sie hetzte. Und los!
Es knallte und sie hätte sich Kopfhörer gewünscht, wie Bauarbeiter sie trugen, die Pressluftmaschinen benutzten. Genau so fühlte sie sich auch, ihr ganzer Körper geriet in die zitternden Bewegungen, die das knallende Klappern des MGs verursachte. Die Brust des vor ihr stehenden Zombies wurde durchlöchert und auch den zwei dahinterstehenden Gestalten ging es nicht anders. Sie sanken im Hagel der von ihr abgesandten Kugeln zu Boden, doch die Köpfe waren noch nicht getroffen. Und so sehr Shelley die Waffe auch nach unten zu drücken versuchte, so unmöglich war es doch. Klar. Salven, hat Lexi gesagt.
So nahm sie den Finger vom Trigger und für den Hauch einer Sekunde herrschte absolute Stille. Selbst das Unwetter schien sich zurückzuhalten, um sofort darauf wieder knallend zurückzukehren, unterstützt vom Fauchen der Untoten, die drauf und dran waren, sich wieder aufzurappeln, dabei auch aneinander zerrten und sich so eher behinderten, als tatsächlich einen Effekt zu erzielen. Shelley blinzelte die bemitleidenswerten Kreaturen an, hatte genug Zeit, um den Lauf ihrer Waffe nun nach unten zu drücken und verschoss dann eine Salve auf den Frontmann, die sein Hirn auf das dreckige, durchlöcherte Shirt und das Gesicht seines Nachfolgers verteilte. Jeder, der es zu Stande brachte, wirklich coole Oneliner zu bringen, während er mit Waffen hantierte, hatte ihren größten Respekt, denn sie konnte nichts tun, als immer wieder den Mund für einen Satz zu öffnen und ihn dann angewidert drein blickend zu schließen.
Auch Salve Nummer zwei traf wieder einen Kopf und ließ das zweite Gehirn lauthals durch den Raum fliegen, war sogar ungenau genug, um direkt Zombie Nummer drei mit zu erwischen. Alles lief nach Plan. Jetzt raus. Ihre Füße trugen sie, so schnell es ging. Eifrig stieg sie über die nun wirklich toten Leichen und erreichte die Türschwelle, die nun kein Metall mehr hielt, stieg über die Überreste der ehemaligen Tür und... “Ahff!“
Etwas - oder eher jemand - hatte sich auf sie geworfen, nahm ihr nun die Luft zum Atmen, ließ sie mehrmals aufkeuchen, doch darüber hinaus kaum atmen. Wut mischte sich mit Angst, doch Shelley war zu schwach, um beidem Ausdruck zu verleihen, geschweige denn sich zu befreien. So lag sie da, sich windend und verzweifelt die Masse über ihr abdrückend, hörte dann, wie Zähne sich in Fleisch gruben.
Fritz schrie in zerreißendem Ton, doch hielt er sich als menschliches Schutzschild kraftvoll auf ihr, nahm sämtliche Bisse auf sich, um sie zu bewachen. Sie wünschte sich, etwas tun zu können, doch für ihn war es zu spät. Seine Kraft versiegte immer mehr und gerade als sie wieder einmal gierige Hände an ihren Füßen spürte, schob sie den leichter gewordenen, doch dennoch klobigen Körper des Deutschen von sich, sprang auf, stolperte beim Versuch, dem Griff eines Zombies zu entwischen über ihre eigenen Beine und landete schmerzhaft mit dem Kopf an der Wand, die sie vom Inneren des Steuerhauses trennte. Für einen Moment schlossen sich ihre Augen, öffneten sich wieder, doch der Blick blieb verschwommen. Schräg vor ihr stolperten die Toten auf sie zu, fielen über eine massige Gestalt, die reglos am Boden lag.
Ihre Beine drückte sie durch. Alles müsste sie tun. Sie wollte leben. Was sie mit der Zeit anfangen würde, wusste sie nicht im Geringsten, doch sie wollte mehr davon. Ihr Rücken schob sich langsam an der Wand hoch. Die feuchten Wangen färbten sich rot von der Anstrengung, die sie aufbringen musste, um die Schwäche auszugleichen, die sich in Rumpf, Kopf und sämtlichen Gliedern ausbreitete. Nur träge wurde der Blick klarer, doch er verriet, dass einer der Seelenlosen sich am Lauf des Maschinengewehrs näher an sie zog, offenbar - ähnlich wie sie - selbstständig unfähig dazu war, auf die Beine zu gelangen. "Nimm sie doch!", prustete sie und spuckte ihm Wasser entgegen, während irgendetwas offenbar warm an ihrem Hinterkopf herunterlief. Sie drückte den Ablauf und spürte ein fieses Stechen in ihrem Kopf, als die Hand am Lauf von herausberstenden Kugeln zerfetzt wurde. Sie ließ nicht los, beinahe entglitt ihr die Waffe, die immer höher feuerte. "Salven...", erinnerte sie sich selbst murmelnd und beendete das Feuern erst, als der Lauf beinahe senkrecht nach oben zeigte.
Kein Grunzen mehr, kein Fauchen. Nur Donnern, das Einschlagen von Blitzen und das Prasseln der Regens. Die Beine erneut durchdrücken - und stehen. "Dumileid, Friss...", hauchte sie kraftlos, sah ein letztes Mal auf das Loch im Bauch ihres Beschützers und beendete sein Leid, indem sie das Gewehr wankend in Richtung seines Kopfes hielt und eine ungenaue, aber doch ausreichende Schussarie in Richtung seines Hirns abfeuerte.
Und dann erreichte sie das Wasser. Das vom Sturm gezeichnete Gesicht offenbarte auch emotionale Niedergeschlagenheit und sie war fast froh, nicht bei vollem Bewusstsein zu sein. Eine Palette vom schob sie vom Kai ins Wasser, nach schwimmen war ihr nicht. Der Anblick des Schiffes, das mitsamt winkenden Gestalten im breiten Kanal durch die offene Schleuse schlich, ließ sie lächeln.
Sie sackte auf die Knie, Lexis Waffe fiel klappernd neben sie und Shelleys Hände legten sich vor ihre Beine, die Arme zitterten bis zum Schultergelenk. Sie hatte es geschafft, wieder einmal. Durch das Wohlwollen anderer, durch die Rettung von Fritz, ihrem verstorbenen Kameraden und durch Glück. Irgendwann würde auch ihre Zeit vielleicht kommen, doch noch durfte sie weiter machen. Noch war sie nicht bereit, die anderen zu verlassen. Was es auch war, sie hatte einiges auf dieser zerstörten Erde zu erledigen. Wer wusste schon, wie die Welt aussehen würde, wenn sie die Stadt erreichten. Vielleicht kehrte wieder Normalität ein. Vielleicht erzählte man sich in dreißig Jahren von diesen 65 Wochen, in denen sich die Weltordnung umkehrte, Zivilisationen zurückgesetzt wurden und so viele Menschen starben. Vielleicht würde sie der kommenden Generation davon berichten.
Sie würde ihnen erzählen von Shoana, der mysteriösen Exotin, die im Kampf gegen die Piraten einen tödlichen Schuss erlitten hatte, als sie ihr und den anderen dabei half, an Treibstoff zu kommen.
Sie würde ihnen erzählen von Aimee, deren Zeichnung in Shelleys Zimmer hing und die sich noch in den Heldentod warf, nachdem ihr Schicksal bereits besiegelt war.
Sie würde ihnen erzählen von Fritz, der ihr Leben rettete und dabei selbst umkam.
Sie würde ihnen erzählen von Gabe, Lexi, Jul, Celina, NikiIvan, Dolores und all den anderen Freunden, die es mit ihr aus der Hölle geschafft hatten und überlebten.
Scheiße - sogar von der alten McAldrin würde sie ihnen erzählen.
Denn sie lebte.
Die Waffe aufnehmend warf Shelley sich kraftlos vom Kai, landete unsanft und doch sicher auf der hölzernen Palette und stieß sich mit letzter Kraft mit den Beinen vom Ufer ab. Ein schwaches, doch ausdrucksstarkes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie in Richtung der Heather trieb, die Augen schloss und zu Blitz und Donner entspannte.