Bis zum Ende - und sogar darüber hinaus - hatte Shelley die irrationale Hoffnung gehegt, dass Aimee doch noch auftauchen, mit siegesbewusstem Ausdruck auf dem immer noch menschlichen Gesicht in Richtung der Heather-Crew lächeln und ein kleines Fläschchen mit irgendeinem Zombie-Gegenmittel in der Hand halten, in einer standesgemäßen Pose daraus trinken und sich dann von allen anderen auf das wieder funktionierende Boot ziehen lassen würden. Aber wie der viel zu laute Teil in ihr natürlich schon die ganze Zeit gewusst hatte, waren das utopische Gedanken und - wie ihr gesamtes Ich ebenso lange geahnt hatte - schob sie diese in üblicher Manier bei Seite. "Alles andere wäre enttäuschend!", hatte sie leise für sich selbst die Worte der Oma nachgeäfft, die ihr die Trauer nicht gönnen wollte. Dabei war Shelley viel enttäuschter von der Tatsache, dass es ihr so selten gelang, zu weinen. Diese Tränen... die Tränen die Aimee galten, waren die ersten seit Ian. Früher hatte sie wegen Kleinigkeiten mit dem Heulen angefangen, vielleicht viel zu früh und schnell - doch alles war besser als diese beschissene Lethargie.

Anstatt sich also groß mit den eigentlich doch so wichtigen Gefühlen rund um den Tod der blauhaarigen Französin auseinanderzusetzen, trat sie lediglich wieder in das Führerhaus der Heather, nahm sich eine alte, schwarze Mappe und heftete Aimees Zeichnung dort hinein. Jedenfalls war die Mappe mal schwarz. Etwas Meerwasser - wie auch immer es daran gekommen war - hatte das ursprüngliche Dunkel hier und da etwas bleicher werden lassen und insgesamt alles aufgeweicht. Doch es erfüllte noch seinen Zweck und so landete der Hefter mit dem Bild, welches nun vor dem Zerknittertwerden gefeit war, in der Tasche, aus der sie der Künstlerin Verbände gegeben hatte, als sie sich das letzte Mal sahen.
Und dann zog Shelley sich zurück...

Bis die Heather schließlich wieder Land erreichte. Wie sich beim Erkunden herausstellte, war es kein Festland - aber es war doch nicht minder beeindruckend. So trat sie vom Schiff auf die wunderschöne Kulisse, den Holzsteg, die Hütten auf den Stelzen, die atemberaubend exotisch-himmlische Atmosphäre, die dieser Ort für sie und ihre Mitstreiter bereithielt. Aimee hätte es hier sicher gemocht. Wow, welche Bilder sie hätte malen können, vor diesem Hintergrund..., kam es ihr in den Sinn und gerade als die Emotionen und Gedanken wieder drohten, sie zu übermannen, rettete sie der Schmerz.

"Aahhh, verdammte Drecksp.... der Saaaaand AHH!", schrie sie nahezu unwillkürlich los und hielt sich selbst gerade noch davon ab, zu ausfallend zu werden als der von der enormen Hitze aufgewärmte Sand ihre Füße zu verbrennen drohte. Erst hüpfte sie unruhig auf der Stelle hin und her und dann rannte sie los, seufzte schließlich als den erholsam grasigen Untergrund erreichte. "Phew!"

Woran hatte sie noch gedacht? Ach, egal. Wird schon nicht so wichtig gewesen sein wie die Unversehrtheit ihrer Füße. Warum hatte sie ihre Schuhe auf der Heather gelassen? Jedes kleine Kind wusste, dass heißer Sand heiß war. Sie sah sich um. Ja, toll. Da. Leo. Und sie trug Schuhe. Sogar kleine Kinder mit üblen Kopfverletzungen wussten es. Toll.

Erschöpft vom Nichtstun, Nichtsdenken und der anschließenden, plötzlichen Aufregung, setzte sie sich an den Grill, um den einigermaßen gemütlich aussehende Bänke aufgebaut waren. Wirklich nicht die schlechteste Insel, die sie hier erwischt haben. Allemal besser als Wallis et Futuna. Und zu ruhig konnte es sowieso nicht sein. Das waren blöde Filmklischees. Es ist zu ruhig. Sag mir das, wenn der Nachbar morgens wieder mit dem Bohren anfängt, wenn du noch schlafen willst. Oder wenn dir morgens eine von zigtausend Leichen in Arztkitteln in die Wellblechhütte getragen wird, obwohl du einfach nur entspannen willst. Zu ruhig. Pfff.

Trotzdem - auf Nummer sicher gehen konnte man ja mal. Nicht, dass hier doch jemand war und sich früher oder später gestört fühlen würde. So erhob sich Shelley kurz, nur um nachzusehen, ob am Grill irgendwelche Hinweise darauf zu erkennen waren, wann er das letzte Mal benutzt wurde.