Wie angewurzelt standen Dolores und Matt vor der Rampe, die fast einladend von rotem Licht beleuchtet wurde. Sie warfen sich einen unschlüssigen Blick zu, und die Geräusche waren hier so laut, dass sie auch kaum ein Wort wechseln hätten können. Die Zahnräder in Dolores' Kopf drehten sich unaufhörlich, aber es war schwierig bei dem Lärm einen klaren Gedanken zu fassen. Sie sah sich um.
Wenn die beiden jetzt dort hinunter gehen würden, dann gingen sie ein hohes Risiko ein. Sicher, Dolores hatte nun eine Waffe, aber sie hatte kein einziges Mal damit geschossen und im Moment hatte sie sie zwar angehoben, merkte aber wie ihre Hände dabei zitterten. Sie deutete Matt mit einer Handbewegung, dass sie sich ein wenig von der Rampe entfernen mussten, um die Lage zu besprechen.

"Ich habe keine Vorstellung davon, was wir dort unten finden könnten. Wie fühlst du dich?" Matt sah Dolores verwirrt an, da er nicht wusste, was die Frage nun sollte. "Ich meine, sind deine Sinne geschärft, bist du ausgeruht?" Der junge Mann nickte irritiert. "Ich fürchte nämlich, wir haben keine andere Wahl, als uns das anzusehen. Jetzt. Nach allem was wir erfahren haben, dient die Anlage und vor allem dieses Häuschen hier zwielichtigen Zwecken, und ich bin immer noch der Überzeugung, dass jemand das alles hier auch überwacht. Unser Vordringen wird nicht unbemerkt bleiben, vielleicht wurden wir auch schon längst entdeckt." Sie atmete tief ein, um ihren nervösen Herzschlag etwas zu bändigen. "Es gefällt mir nicht, aber wir müssen uns wahrscheinlich beeilen. Jemand wird nicht wollen, dass wir hier etwas finden und etwas dagegen unternehmen wollen." Das, was sie als nächstes zu sagen hatte, war am schwierigsten: "Es kann auch sein, dass bereits etwas gegen unseren Ausflug hierher unternommen wurde. Im schlimmsten Fall erwarten uns da unten Abwehreinrichtungen oder zwanzig bewaffnete Männer, die nur darauf warten uns Willkommen zu heißen. Aber selbst dann... verschaffen wir den anderen Zeit. Wenn wir nicht wiederkommen wird David gewarnt sein und Celina ist das klügste Mädchen, das ich hier kenne. Die beiden werden die Gruppe sicher hier rausbringen."
Sie seufzte kurz und das Stampfen der Maschinen glich der Begleitungsmelodie zu einem Todesmarsch.

Am liebsten hätte sie Matt zurückgeschickt - zurückgeschickt um Verstärkung zu holen, die anderen zu warnen und weiß der Teufel was er noch alle erledigen hätte können. Dolores hatte das Gefühl, dass ihr genau hier alles aus der Hand glitt, denn sie war wie ein Kätzchen, das in die Ecke gedrängt worden war. Ihr Verstand sagte ihr, dass es zu gefährlich war und ihr Lebenswille flüsterte ihr leise "Lauf weg!" ins Ohr. Alles in ihr sträubte sich gegen die Entscheidung, aber wenn es einen Moment gab, in dem das Rätsel der Anlage gelöst werden konnte, dann war es dieser hier. Es gab kein Später, nur ein Jetzt. Würden sie sich jetzt zurückziehen, dann wäre die Chance zu groß, dass ihnen die Informationen entgingen und vielleicht ein großes Unglück über die unwissende Gruppe hereinzubrechen drohte.

***

"Und du bist dir wirklich ganz sicher? Ich meine, wir haben dir das hier finanziert, aber willst du wirklich deinen Lebensunterhalt so... Du weißt, dass Mr. Thomas dir die Stelle nach wie vor freigehalten hat." Sie waren am Flughafen in Sydney. Dolores und George Williams standen vor einem gewaschenen und glänzend polierten Wagen, während ihre Tochter ihren Koffer aus dem Kofferraum holte.
"Das hast du mir schon tausend Mal gesagt, Mama. Ich werde wohl kaum hier am Flughafen noch umdrehen und meine Meinung ändern." Barbara hatte ihr rot-weißes Kleid an, das sie sich erst Tage zuvor selbst genäht hatte. Sie lächelte, aber es wirkte ein bisschen aufgesetzt.
"Ich hatte gehofft, dir doch noch irgendwie Vernunft einzureden. Dir ist doch klar, dass du nun vollkommen alleine auf dich gestellt bist? Dass es niemanden gibt, der dir da draußen helfen wird? Die werden dich eher ausrauben, kidnappen, vergewaltigen,..." Dolores hatte einen energischen Gesichtsausdruck aufgesetzt, der ihre Tochter allerdings mehr als alles andere zu amüsieren schien.
"Auch das hast du mir oft genug gesagt. Und natürlich habe ich ein klitzekleines, mulmiges Gefühl." Barbara kicherte, obwohl Dolores das in dieser Situation vollkommen unpassend fand.
"Aber die Entscheidung habe ich schon lange getroffen. Ich weiß, dass es die richtige ist. Ganz egal was dagegen spricht, manchmal kann man trotzdem nicht anders. Man weiß, was man zu tun hat, man fühlt es ganz fest und wird über jeden Zweifel erhaben."

***

Das war es gewesen. Die letzten Worte, die sie von ihrer Tochter gehört hatte. Plötzlich erinnerte sie sich an alles - an das Wetter, den Geruch des Windes, die Lautsprecherdurchsage, die aus dem Inneren des Flughafens draußen dumpf zu hören gewesen war. Und es war komplett unwichtig, was sie Barbara damals gesagt hatte, aber deren Worte waren umso wichtiger.
Dolores lachte kurz spöttisch auf. Sie hatte gedacht, ihrer Tochter Angst zu machen wäre hilfreich gewesen und hatte dabei ganz nebenbei eine Lektion gelernt, von der sie nicht wusste, dass sie sie jemals brauchen würde. Man weiß, was man zu tun hat, man fühlt es ganz fest und wird über jeden Zweifel erhaben.

Dolores packte entschlossen ihre Mossberg 500 und sah Matt nun an. "Es wäre mir eine Ehre, mit dir dort hinunter zu gehen." Sie duzte ihn absichtlich, vielleicht um ihn ein bisschen einzulullen, damit sie nicht alleine gehen musste. "Du kannst dich auch entscheiden zu gehen, aber ich werde mir das auf jeden Fall ansehen."
"Ich bin sicherlich nicht hierhergekommen, eine Tür zu öffnen, nur um gleich wieder abzuziehen, das kannst du mir glauben." Matt war sichtlich angespannt, allerdings kam in ihm langsam ein merkwürdiges Gefühl der Routine auf. All diese Blinklichter und militärisch wirkenden Anlagen erinnerten ihn an die Zeit in der Kaserne, in der er sich tagtäglich vor den Augen der Soldaten erfolgreich versteckt hielt, zumindest bis sie sein Versteck gefunden hatten. Welch Glück er doch gehabt hatte, zu diesem Zeitpunkt nicht dort gewesen zu sein. Tatsächlich hatten die damalige Situation und diese hier eines gemein: in beiden hatte er den selben Grund am Leben zu bleiben, auch wenn es ein ziemlich trivialer war und im Prinzip nur daraus bestand jemandem, den er sehr gut kannte, etwas zurückzugeben, was dieser ihm damals vor der Kaserne noch gegeben hatte.

"Alles in Ordnung?" dass Matt kurz in Gedanken versunken war, beunruhigte Dolores kurz und als er es bemerkte, antwortete er zügig "Alles in Ordnung. Lass es uns angehen." Dann machte er noch eine höfliche Geste "Ladies first."

So betraten Dolores und Matt vorsichtig und wachsam die Rampe.