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Auserwählter
Das war doch einfach alles...empörend! Nein,..nein. Empörend war vielleicht das falsche Wort, es war maximal empörend, dass noch niemand das blauhaarige Weib über die Reling geworfen hatte, aber Vantowers hatte im Hole ja auch Ratten und Gesindel geduldet. Nur würde diese spezielle Ratte die ganze Gruppe an Überlebenden fressen, sobald es soweit war. Die rüstige Witwe stand an Deck, nachdem sich die anderen Besatzungsmitglieder in alle Winde verstreut hatten. Auch gut. Wenn sie unbedingt Abschiedschwätzchen mit dem blauhaarigen Biet halten wollten, sollen sie doch. Prudence hingegen war eine starke Frau, sie würde sich nicht verabschieden müssen. Von niemanden. Erst recht nicht von diesem Biest, welches ihr erst Rauch ins Gesicht geblasen hatte, und die dann mehr oder weniger tatenlos der Gruppe hinterherlief, hier und da mit Leocadia sprach, aber sonst nur menschlichen Ballast darstellte. Nein. Sie würde sich nicht verabschieden.
Ihr Weg führte sie zum Heck der "Heather", vorbei an dem quarzenden Schwarzen und der Polizistin.
"Übrigens... ich steh voll auf Penisse, Lexi."
Sie musste sich wohl verhört haben! Nein, nein, der Schwarze machte doch schon die ganze Zeit mit der jungen Krankenschwester rum, das war wohl nur ein Scherz. Und wenn nicht, das war ihr auch egal. Man mochte über Prudence sagen was man wollte, aber sie war durchaus tolerant. Der Gedanke an Gabriels Penis war dann aber doch zu viel für die rüstige Dame, und sie beschleunigte ihre Schritte. Am Heck angekommen, fühlte sie sich endlich allein und in Ruhe gelassen, bis sie ein leises Schluchzen hörte, welches sie aus ihren Gedanken riss.
Shelley starrte aufs Meer und die Tränen liefen ihr Gesicht hinab. "Miss Weinberg, was ist denn los mit Ihnen?" Prudence kramte in ihren Taschen nach ihrem Taschentuch. Mist, dass hatte ich ja vorhin diesem jungen Kerl gegeben, der uns auf das Schiff begleitet hat. Außerdem wäre es voll von Leocadias Blut gewesen, nichts, was man anderen anbieten konnte. Soweit sich Prudence erinnern konnte, hatte sich Shelley erst um das Kind gekümmert und später auch die Wunden der gebissenen Französin versorgt. Vielleicht war sie doch nicht so schlecht, wie ihr erster Eindruck hatte vermuten lassen. In der Tat erinnerte sie Prudence ein wenig an ihre Enkelin. "Miss Weinberg, alles in Ordnung? Wurden sie von ...der Französin verletzt?"
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Sie hatte für einen Moment überlegt, zum Rest der Gruppe auf dem Vorderdeck zu stoßen, sich unter Leute zu mischen und Trivialitäten auszutauschen, um sich abzulenken, wie sie es immer tat. Doch in dieser einen Situation hatte sie allein sein müssen. Ihr Blick heftete sich fast starr auf das Meer, in erster Linie, damit sie nicht auf Aimees Zeichnung sehen musste, die es ihr sicherlich nicht einfacher gemacht hätte. Und dann hörte sie die Stimme der alten McAldrin, wischte sich zügig und möglichst unauffällig die Tränen aus den Augen und von der Wange, bevor sie sich umdrehte.
"Oh, nein. Es ist alles gut!", sagte sie und sprach angestrengt in einem möglichst klaren Englisch, ohne Luft zu holen, um nicht schniefen zu müssen. "Ich nehme mir nur eine kleine Auszeit!"
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So ganz überzeugt war Prudence noch nicht. Sie hatte genug Lebenserfahrung, um Lügen zu erkennen, und gerade wurde sie ganz eindeutig angelogen. "Junge Dame, ich kann verstehen, dass es sie mitnimmt. Aber ich muss sie daran erinnern: Wir alle haben Menschen verloren. Die meisten von uns haben Menschen verloren, die ihnen sehr nahe standen, und sie weinen schon bei einer Frau, die ihnen völlig unbekannt ist? Alice ist so gut wie tot. Das ist traurig, dass dieses junge Leben bald beendet sein wird. Aber so läuft die Welt, Miss Weinberg. Man kann nicht jedem Menschen nachweinen. Vor allem heute nicht." Sie erwartete eigentlich gar keine Antwort, aber trotzdem war sie etwas enttäuscht, als der langhaarige Afghane zu den beiden trat. Gabriel war sein Name, wie sie sich erinnerte.
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Gabe schaute Lexi nach, die mit ihrer Wumme den Weg Richtung Unterdeck antrat. Seufzend schnippte er seine aufgerauchte Kippe in den Ozean und folgte der alten Schrulle in Richtung Heck. aus den Augenwinkeln hatte er gesehen, wie Shelley vorhin an ihm vorbei dorthin geeilt ist, und er wollte sie auf keinen Fall mit diesem Drachen allein lassen. "Madames!" Er nickte Mrs. McAldrin zu und lächelte Shelley an.
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Musste sie sich wirklich erzählen lassen, wann sie zu weinen hatte und wann nicht? "Bei allem Respekt...", fing sie mit möglichst fester Stimme zu sprechen an, doch sah dann, dass Gabriel neben sie trat. Oh nein. Er war nun wirklich der letzte Mensch, der sie in diesem Zustand sehen sollte. Was sollte sie denn nun sagen?
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Gabriel konnte sehen, dass Shelley gerötete Augen hatte. Merde. Doch wohl nicht wegen ihres Beinahe-Kusses vorhin? Oder war ihr doch etwas passiert? Oder war diese Olle Schachtel jetzt endgültig zu weit gegangen. Sollte das der Fall sein, die Reling war nicht weit, und der Dame könnten ein paar Schwimmrunden nicht schaden. Sicherlich nicht. "Shelley?" Man konnte die Besorgnis in seiner Stimme deutlich hören. "Junger Mann, Ich wollte gerade antworten." Diese Hexe. "Wir haben alle Opfer gebracht. Verhalten sie sich wie sie erwachsene, mutige Frau, die ich kennengelernt habe. Alles andere...wäre ENTTÄUSCHEND." Prudence wandte sich um und ging. Gut für sie. Damit waren Shelley und Gabriel wieder allein.
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Diese jungen Leute! Es war aber auch ein Jammer. Nein, nichtmal im Angesicht des Todes wären sie in der Lage, das Nötige zu tun. Nein, nicht so wie Prudence es getan hatte. Wir alle haben Opfer gebracht. Prudence beschloss, nach der kleinen Leocadia zu sehen. Als sie wieder aufs Hauptdeck trat, war da keine Leocadia. Keine Leocadia in den Kabinen. Keine Leocadia auf der Brücke. Keine Leocadia im Aufenthaltsraum. Nein. Neineninnein. So schnell sie ihre kurzen Beine trugen, rannte Prudence zu Vantowers Kabine, in der das blauhaarige Biest eingesperrt war. Unsanft stieß sie Alexandra um, hin zu dem Amerikaner und der Deutschen, die gerade die Tür schließen wollten.
"HALT! HALT! DAS KIND! DAS KIND IST IN DIESEM RAUM! SCHNELL, SONST WIRD LEOCADIA GEFRESSEN!"
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