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Ritter
Yessss. Rätsel gelöst! Alles, wie es sein soll. Und auch, wenn die Informationen, die sie daraus las, immer noch sehr kryptisch waren - zumindest für Shelley -, so war es doch ein nettes Erfolgserlebnis... und eine mindestens genau so gute Ablenkung. Also lief sie schnurstracks mit dem Bericht zurück ins Innere des Schiffes und legte es wieder neben das Steuer. Um den Rest konnte sie - oder jemand anders - sich später kümmern. Für den Moment dröhnte ihr Kopf mehr als genug. Und was jetzt?
Klar - da war doch was. Die blauhaarige Franzosin - Alice - schien gebissen worden zu sein, jedenfalls nach eigener Aussage. Und es war doch sehr zu bezweifeln, dass irgendwer das einfach so behaupten würde. Selbst für einen Menschen mit enorm schwarzen Humor wäre das ein bisschen krass. Und spätestens als Shelley auf das Deck stieg, die überall aufgerissenen Beine des Mädchens und ihre niedergeschmetterte Geste sah, mit der sie dort an der Reling saß, war es noch wesentlich eindeutiger. Sie trat näher, kniete sich neben das Elend aussehende Etwas und wusste kaum, wie sie anfangen sollte.
"He-Hey, Alice!", sagte sie mitleidig. Und du fragst jetzt nicht, wie es ihr geht, Shel!, tadelte sie sich schon im Vorhinein. "Ich... ich wollt mir mal dein Bein angucken. Und... Beruhigungsmittel hab ich auch, das sollte... es... etwas besser machen!"
***
Alice hatte sich in der letzten Viertelstunde hier nicht wegbewegt. Verschiedene Personen ihrer Gruppe hatten sie schon gesehen, sich irgendwelche Anweisungen zugeschrien, hektisch beraten, was nun mit ihr zu geschehen hatte. Sie selbst beachtete niemand, als wäre sie ein Monster, ein Insekt, dass es zu zerquetschen galt. Es kümmerte sie nicht, sie bekam ohnehin kaum etwas mit, da sie ihr Gesicht in ihren Knien vergraben hatte. Bis jemand sie anscheinend ansprach. Mit jämmerlich verheultem Gesicht sah Alice auf; Shelley. Zumindest glaubte sie, dass die braunhaarige Frau so hieß. Mit einem sehr gezwungenen, aufmunterndem Lächeln hielt sie ihr eine kleine Ampulle hin.
Als ob irgendetwas ihr jetzt noch helfen könnte.
"D-Dwange..."
Sie meinte es gut, also griff Alice danach.Ihr ganzes Gesicht war verschmiert von Rotz und Tränen, darum wich sie ihrem Blick aus. Schließlich trank Alice das Beruhigungsmittel. Unwirsch warf sie das Gefäß beiseite und vergrub ihren Kopf erneut in ihrem Schoß um einen weiteren Schluchzer herauszulassen.
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Was sagte man einer Person, die quasi eine tickende Zeitbombe war, jeden Moment hochgehen könnte und das so auch wusste? Tatsächlich entfalteten sich um sie herum wohl einige Diskussionen darüber, was man nun am Besten mit Alice anstellen könnte, dazu gehörte primär Grumpy Grams, die sich offensichtlich den russischen Soldaten zur Unterstützung geschnappt hatte. Die Klassiker wohl: Kopfschuss, das Leid nehmen. Als Köder benutzen oder opfern, für den höheren Zweck. Sogar ihr "Anführer" meldete sich zu Wort. "Sperrt sie weg, fesselt sie irgendwo oder was auch immer, aber sie darf nicht in die Nähe der Verletzten kommen. Wir können uns keine weiteren infizierten leisten." Was für ein Arschloch!
"Ich... ich weiß ja nicht, ob das... j-jetzt Sinn macht oder dir irgendetwas bringt, aber... i-ich schulde dir noch eine Massage und... ja, ich würde das wohl machen jetzt. Wenn du w-willst natürlich!" Immer wieder brach ihre Stimme für einen Moment ein. Das Mädchen, das zeitweise wie eine eiserne Rebellin gewirkt hat, saß nun neben ihr auf dem Boden, kurz vor dem Tod und war aufgelöst wie vermutlich nie. Shelleys Nase juckte, ihre Augenlider tanzten immer wieder auf und ab. DU heulst jetzt nicht.
***
Verwirrt hob Alice den Kopf. Shelley war überhaupt nicht auf ihren erbärmlichen Zustand eingegangen, hatte abgespuckte und geheuchelte Aufmunterungsversuche gebracht oder dergleichen. Stattdessen sprach sie von der... Schultermassage. Jetzt, in dieser Situation.
Für einen Sekundenbruchteil blitzte so etwas wie ein Lächeln über Alice' verheultes Gesicht, als sie antwortete.
"Dwu bíst komísch, Shewéy... eine Massawge wäre jwétzt schön..."
Die Französin bekam es immer noch nicht wieder hin, anständig zu sprechen, zu viele Flüssigkeiten füllten ihren Mund, aber so oder so, Shelley würde sie schon verstanden haben.
***
Ein kurzes, zufriedenes Lächeln huschte nun auch über Shelleys Lippen. "Super!", sagte sie und griff dann ohne Weiteres unter die zitternden Arme von Alice, hob sie vorsichtig an und ging ein paar Schritte mit ihr, sie bei jedem dieser Schritte stützend. Durch ihre Nervosität und - nicht zuletzt - die erheblichen Wunden an ihren Beinen war das selbstständige Laufen wohl eher ausgeschlossen.
***
Alice wusste nicht so recht, was das sollte. Warum machte die Frau sich denn jetzt so viel Mühe mit ihr, ihr sogar beim Gehen zu helfen? Das mit der Massage war im Dorf eher ein Scherz gewesen und wirklich viel gesprochen hatten sie bisher auch nicht. Also warum? Einfach, um ihr Gewissen zu beruhigen?
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"Hier haben wir ein bisschen Ruhe!", sagte Shelley als die beiden etwas weiter in Richtung des Hecks gehumpelt waren, wo sie sich zuvor auch um den Mossad-Bericht gekümmert hatte, setzte sich vor die Reling und zog Alice sanft mit sich hinunter, zwischen ihre geöffneten Beine. Sie musste sich darauf konzentrieren, nicht zu genau über die Konsequenzen nachzudenken, auch wenn sie ja eigentlich genau wusste, was früher oder später mit der Französin passieren würde. Doch im Ausweichen von Dingen, die sie emotional belasteten, hatte sie ja Erfahrung.
So legte sie einfach beide Hände auf die weichen, zitternden Schultern, nachdem sie das blaue Haar bei Seite gestrichen hatte und begann mit der Massage. Die Finger glitten sanft über die Haut und den Stoff darüber, fingen sie gelegentlich ein, kneteten sie etwas, wenn es sich auch mehr um ein Streicheln handelte. "Okay so?"
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"Mhm."
Dieser kurze, zustimmende Laut würde hoffentlich ausreichend. Wie in Trance starrte Alice zu Boden, als Shelley ihre Schultern etwas entkrampfte. Sie weinte noch immer, hatte sich aber deutlich beruhigt, den ersten Schock mittlerweile verdaut.
Die beiden saßen eine ganze Weile stumm zusammen, bis Alice etwas zu reden begann. Ihre Stimme war nicht sehr laut, aber hier war es ohnehin ziemlich ruhig.
"'ey, Shelley... was...", Alice bekam den Satz nicht gut zu Ende, fragte sich selbst, ob es überhaupt sinnvoll war, ihn auszusprechen, ""was... würdést dú an meinér Stelle tún...?"
Sie schwieg einen Moment, dann sprach sie weiter.
"Ich wíll noch garníscht sterben... Ísch wollte mísch nur nützlísch machén. Dass ísch dafür jetzt sterben múss, íst ungerecht... ísch 'abe nie etwas Bösés getán."
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Na los, sag doch irgendwas! Es wollte einfach nichts aus ihrem Mund kommen und so lagen Alices Worte schon einige Sekunden unbeantwortet in der Luft vor Shelley. Was sollte sie ihr sagen? Dass das Leben nicht fair ist? Dass die Besten immer früh starben? Es gab nichts, das nicht irgendwie wie eine Floskel klingen musste.
Ihre Hände lagen inzwischen nahezu still auf der - wenigstens deutlich entspannter wirkenden - Schulter der Französin. "Ich hab' keine Ahnung, was ich tun würde. Ich würde wahrscheinlich den Gedanken verdrängen und mich irgendwie ablenken, mach' ich fast immer so!", verriet sie und versuchte, dabei möglichst neutral zu klingen. "Aber ob das richtig ist, keine Ahnung..."
***
Shelleys Worte halfen ihr, so ehrlich sie wohl auch gemeint waren, nicht besonders weiter. Trübsinnig beobachtete Alice den metallenen Boden unter sich. Sie wollte an irgendetwas Schönes denken, aber ihr Kopf war leer.
***
Es musste doch irgendetwas geben, das man ihr sagen konnte, irgendetwas, das ihr Leiden linderte, ihr die restliche Zeit etwas einfacher machte. "Gibt es... irgendwas, das du brauchst? Irgendwas, das ich tun kann, damit es... so gut wird, wie es eben werden kann?"
***
Jetzt fühlte sie sich wieder schuldig. Alice' Ziel war, durch diese Sache an Selbstständigkeit zu gewinnen und auf eigenen Füßen zu stehen. Und jetzt sorgte sich wieder jemand um sie und machte sich Umstände. Schuldgefühle waren eigentlich so ziemlich das Letzte, das sie jetzt gebrauchen konnte.
Da fiel ihr etwas ein. Alice war emotional gerade am Boden, aber Shelley war ein netter Mensch. Und schön war sie auch. Sie wollte ihr diese Freundlichkeit irgendwie zurückgeben. Und Ablenkung... eine Ablenkung wäre gut, oder?
"Oui..."
Behutsam löste Alice sich aus Shelleys griff und drehte sich um, so dass sie ihr gegenübersaß. Träge nahm sie ihren Rucksack herbei, den sie mitgenommen hatte und holte ihren besten Freund - den Zeichenblock - hervor. Mit etwas, das wohl entfernt an ein Lächeln erinnern sollte, sah sie der braunhaarigen Frau vor sich in das fragende Gesicht.
"Lass mísch dísch zeichnén... als Remerciement. Ísch bín noch níscht so gúd, u-und geradé... níscht in Bestfórm, abér..."
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"Äh... ja, klar!", sagte Shelley sofort, hätte niemals mit etwas so... Banalem gerechnet. Aber gerade sowas war es ja, dass man in Situationen wie diesen tun wollte - jedenfalls glaubte sie das. Sie müsste sich unbedingt ein Hobby suchen. Wenn sie mal gebissen werden sollte, würde sie etwas haben, an dem sie sich festhalten kann.
Sie stand vorsichtig auf, nicht zu schnell, sodass Alice die Möglichkeit hatte, langsam nach hinten zu rutschen, sich anzulehnen. Die Amerikanerin stellte sich in ihr Sichtfeld. "So... I want you to draw me like one of your french girls!", sagte sie, grinste dabei und hoffte, dass es wenigstens ein bisschen ansteckend sein würde.
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Unerwartete Röte schoss Alice in den blassen Kopf, sie wusste nicht, woher, aber irgendwoher kannte sie dieses Zitat. Warum fühlte sie sich dabei nur so peinlich berührt? Na egal, sie zwang sich zu einem Lächeln, denn ganz offenschtlich versuchte Shelley wirklich, sie aufzuheitern. "Soll ich einfach so... hier stehen? Irgendwie posieren, oder so? Wie machst du das am Liebsten?"
""Alzó... wie dú möchtést. Lächle einfách só, wie geradé ebén, dann wírd es bestímmt schön..."
Und damit begann Alice ihren Bleistift über das Papier tanzen zu lassen. Immer mal wieder glitt Ihr Blick auf die lächelnde Shelley, zuerst zeichnete sie ihre Konturen, dann begann sie mit Struktur und groberen Details. Es war fast gruselig, wie entspannend das war. Wie aus einem Reflex heraus packte sie ihre Spieluhr neben sich und ließ sie spielen. Das half zusätzlich.
***
Die beruhigende Melodie, die aus der Spieluhr drang und die entspannt wirkende Konzentration der Französin sorgten dafür, dass Shelley das Lächeln nicht allzu schwer fiel. Zumindest für den Moment sah sie glücklich aus und das war Grund genug, auch zufrieden zu sein. Die Situation hatte fast eine gewisse Romantik. Und die Infizierte war ihr als Zeichnerin lieber als der junge DiCaprio.
"Alice... ähm... danke, dass du das Risiko für uns alle eingegangen bist!", sagte sie, für einen Augenblick eine etwas ernstere Miene aufsetzend, bevor sie dann wieder mit dem Lächeln fortsetze. Doch das hatte sie noch loswerden müssen.
***
"Aimée." brachte sie nur hervor, ohne vom Zeichnen aufzusehen.
"Ähm... was?"
"Mein Namé íst Aimée. Und ísch 'abe es nur getán, weil ísch es wollté. Gern gesche'én."
"Oh, okay. Äh - sorry. Ich dachte... äh, war dein Name nicht Alice?"
"Nein..."
Einige Atemzüge lang starrte das Mädchen nur wie im Halbfschlaf auf ihren Block, bevor sie weiterzeichnete und dabei etwas murmelte.
"Alice 'eißt ein anderés Mädschén. Sie 'át mir gezéigt, was Frei'éit bedeutét. Meiné Retterín."
Alice lächelte stumm in sich hinein, bevor sie einige letzte Striche auf ihrem Block machte und dann zufrieden nickte. Sie steckte die Spieluhr zurück in ihre Tasche und sah stolz zu Shelley auf, wie eine Tochter, die ihrer Mama gerade eine gute Note in der Klassenarbeit mit nach Hause gebracht hatte. Die junge Frau kam neugierig auf sie zu und Alice drückte ihr, noch immer sitzend, die Zeichnung in die Hände.
"Gefällt sie dír?"
***
Shelley sah auf die Zeichnung, ihre Hände zitterten leicht, ihre Augen wurden wieder viel zu feucht für ihren Geschmack. Als sie die Nase hochzog, machte sie das sicherheitshalber besonders lange, so als würde sie die frische Luft einziehen wollen und nicht so, als stünde sie kurz vor dem Losheulen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, eine Ehre, von Aimee auf diesem Bild verewigt worden zu sein.
"D-d-das ist... wow! Okay, wenn das... keine Bestform ist...?!" Reiß dich zusammen! Als die erste Träne drohte, ihren Augen zu entfliehen, nahm sie das Bild vorerst bei Seite, um es nicht mit ihrer materialisieren Rührseligkeit zu verschandeln. "Danke, Aimee! Wirklich, danke!", sagte sie mit spürbar zitternden Stimmbändern und trat näher an die Französin, um sie zu umarmen.
***
"D-d-du magst és?!"
Alice Gesicht, obgleich verschmiert und wirklich nicht im besten Zustand, strahlte vor Freude, als Shelley sie umarmte. Da konnten die Umstände noch so beschissen sein, aber wenn sich jemand über ihre Zeichnungen freute und diese lobte, hatte man sie.
"Das freút mísch!"
Etwas unsicher erwiderte Alice die Umarmung und dachte für einen Moment gar nicht mehr an das Bevorstehende.
Ich glaube, es hat sich doch gelohnt.
Nach einigen Sekunden löste Alice sich von der jungen Frau und sah wieder etwas ernster, wenngleich lächelnd, zu Boden.
"Alzó... ísch schätzé, ísch gehé jetzt wiedér nach vorné... síscher wollén síe etwas mit mír machén."
Bevor Shelley reagieren konnte, gab Alice ihr einen Kuss auf die Wange - weil das in Frankreich nun mal als dankende Geste galt - und machte sich auf den Weg zur Gruppe.
""Mercí, Shelléy. Das 'at mir ge'olfen... glaubé ísch."
***
Als Aimee sie mehr schleichend als gehend verließ, blickte Shelley ihr hinterher, atmete tief durch. "Sag mir Bescheid, wenn jemand dich unfair behandelt!", rief sie schwach hinterher und wusste nicht mal genau, ob die Französin das noch hörte. Und dann sah sie wieder auf das Bild, schniefend, wäre eine stille Träne an ihrer Wange hinunter schlich.
Geändert von MeTa (02.09.2013 um 23:15 Uhr)
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