Aufgrund der aufkeimenden Erschöpfung ließ Léo die Arme nach eine ganzen Weile sinken und sich einfach auf den holzigen Boden plumpsen.
Das war gleichermaßen enttäuschend wie vorraussehbar gewesen.
Ob es nun daran lag, dass die Klumpen bei ihr nur Spanisch verstanden (ba-dum-ts), einfach mal schauen wollten, wie lange sie das noch machen würde oder sie schlichtweg ignorierten, konnte sie nicht ausmachen.
Müde. Kopfschmerzen. Ruhe.
Ahhhh…
Eine Brücke wurde in ihrem Gehirn vom Schutt der Erschütterung befreit und die Bedeutung des Wortes erschloss sich ihr wieder. Einigermaßen
Ja, Ruhe konnte sie nun wirklich gebrauchen. Hoffentlich war sie hier einfacher zu bekommen als eine Sonnenbrille. Bis jetzt sah es allerdings nicht danach aus, da die großen Klumpen in einem fort einen Geräuschbrei erzeugten, der sie in den unterschiedlichsten Farben aufleuchten ließ.
Langsam war das Mädchen davon überzeugt, dass sie von Aliens, die aus der Nähe wie Menschen aussehen, entführt und auf den Planeten Persiak III verschleppt worden war.
Na super.
Einer von ihnen, begleitet von einem manchmal goldgelb aufblinkenden Klumpen stach durch eine nur partielle Blau-tönung am oberen Ende heraus. Unwillkürlich musste Léo and die Meerjungfrauentochter Alice denken. Da sie nach unten gingen, entschloss sie sich kurzehand, einfach hinterherzugehen. Mehr als weiterhin ignoriert werden kann ihr ja eigentlich nicht wiederfahren, die Zombies (außer ihr selbst vielleicht) waren ja hoffentlich wohl noch alle auf der Erde.
Nach einem dritten Anlauf kam sie auch wieder mit einigem Schwindelgefühl auf die Beine und lief ebenfalls hinein in das … Boot? Raumschiff? Bis sie wieder auf den goldgelben Klumpen traf, der gerade mit einem lilanen schlanken Klumpen rege Geräusche austauschte und um die Wette farbig erstrahlte.
Vorsichtig umrundete das Kind die beiden und ging durch eine offensichtliche Öffnung hinein in eine Kajüte? Zelle? Was auch immer.
*****
Nathan hatte die Tür hinter sich nur angelehnt, wollte Alice damit offenbar das Gefühl geben, nicht eingesperrt zu sein, jederzeit gehen zu können. Seine Absichten in Ehren, aber allein der Gedanke war so lächerlich, dass es bitter war. Von leisen Wortfetzen konnte Alice vernehmen, dass sich einige andere Personen in der Nähe ihrer Kajüte aufhielten, würde die Französin nur einen Fuß vor die Tür setzen, würde man sie wohl mit Blei, kaltem Stahl, Fäusten und Ähnlichem niederstrecken. Aber das war in Ordnung. Alice hatte nicht vor, diese vier Wände noch einmal zu verlassen, außer um den Weg zum Abgrund anzutreten.
30 Minuten später...
Alice spielte mit der Waffe in ihren Händen, ließ sie durch ihre dünnen Finger gleiten wie flüssiges Gold, betastete sanft den kalten Stahl. Dann umfasste sie den Griff mit beiden Händen, steckte sich den Lauf in den Mund - und drückte ab.
"Péng."
Die einzige Kugel lag neben ihr auf dem Bett. Doch das hielt Alice nicht davon ab, sich die Waffe an die Schläfe zu halten und ein weiteres Mal abzudrücken.
"Bang."
Hals. Augenhöhle. Brust. Magengrube.
"Bäng.
Bam.
Búm.
Peng."
Mit hölzerner Miene imtierte sie irgendwelche Schusslaute, als sie so mit der Waffe hantierte. Warum, das wusste sie selbst nicht. Vielleicht wurde sie so kurz vor dem Ende noch verrückt.
Wo die Wahrscheinlichkeit wohl am höchsten ist, dass ich mir mit dem Schuss effektiv und schmerzlos das Hirn aus dem Schädel blase...? Am besten direkt in die Stirn.
Die Stirn war ein guter Punkt. Andererseits war es in einer hektischen Situation vielleicht nicht so einfach, auf die eigene Stirn zu zielen und einen tödlichen Treffer zu landen, vorallem, wenn die Hände dabei zitterten wie Eiszapfen.
In den Mund reicht auch, glaub ich.
Wie um sich zu bestätigen steckte Alice sich den Lauf ein weiteres mal zwischen die Lippen und drückte so schnell wie möglich ab. Ja... so wird es gehen.
Unerwartet wurde sie unterbrochen; die Tür zu ihrer Kajüte öffnete sich und sie steckte hastig die Waffe weg, neugierig, wer sich jetzt noch zu ihr hereintraute.
"...eh-"
Leo. Was bei allen Heiligen... das war ganz schlecht. Von allen Personen auf diesem Schiff wollte Alice von dem kleinen Mädchen am wenigsten, dass es jetzt hier war. Was machte sie bitte in dieser Kajüte?! Erst jetzt bemerkte Alice, dass die Kleine ein wenig seltsam grinste und sogar leicht torkelte. Ihre ganze Stirn war mehr als gerötet, offenbar hatte sie sich verletzt. Besorgt wartete Alice ab, was die kleine Mexikanerin von ihr wollte.
*****
Jedenfalls war da der Klumpen ihres Interesses, auf den sie prompt zulief und erst zum Stehen kam, als sie vielleicht 10 Zentimeter vor ihm- oder besser ihr war. Denn ihre Konturen verschärften sich zu denen von Alice.
Ein breites Grinsen zeichnete sich auf dem kleinen Gesicht ab. War sie also nicht ganz allein entführt worden, wenigstens etwas.
“Alice! Qué tal? (Wie geht’s?)
*****
Alice verstand kein mexikanisch, aber die Kleine schien sie in irgendeiner Weise zu fragen, wie es ihr gerade ging, was los war oder so. Zumindest hatte sich ihr Tonfall danach angehört. Verwundert starrte Alice sie einige Sekunden lang ratlos an. Selbst die etwas naive Leo hätte ihr verschmiert-verheultes Gesicht und ihre blutenden Beine bemerken müssen. Ihr Grinsen war da ein unerwarteter Kontrast. Für einige Augenblicke wusste Alice schlicht nicht, wie sie reagieren sollte.
*****
Irgendwie musste sie noch etwas an dem Sprachmodul modifizieren.
Hm…
Mama.
Konnte sie nie so verstehen, hatte sie immer angeschnauzte, wenn sie nur ein Wort Spanisch mit ihr geredet hatte.
Einen Versuch ist es Wert.
Alice ist Mama. Alice ist Mama. Etwas zu blauhaarig und nett und meerjungfrauenartig, aber was solls.
“eh… Wi…wie… geeeeeeht …e..es dir?“
Stolz gluckste sie auf.
*****
"Ísch... alsó..." Leo musste sich ganz empfindlich den Kopf gestoßen haben. Und offensichtlich hatte das Folgen gehabt. Sie war nicht ganz bei sich, hatte Alice das Gefühl. Aber vielleicht... ja, vielleicht war das garnicht so schlecht...
"Leó... du... du solltést 'iér níscht sein..."
Sie griff mit ihrer Hand nach dem Kopf des Mädchens, wollte ihr kurz über die Haare streicheln, als ihr blitzartig ohne Vorwarnung ein vulkanartiger, brodelnder Impuls durch den ganzen Körper schoss, unerträgliche Hitze füllte ihre Stirn und Speichel sammelte sich in ihrem Mund. Irgendwie sah Leo für einen Moment... für einen kleinen Moment...
Alice zog ihren Arm panisch zurück und wisch in die hinterste Ecke ihres Bettes, so weit wie möglich weg von dem Mädchen. "Ge' raús, Leó! Dú darfst 'iér níscht sein! Verschwínde!!" Alice sah sie nicht mehr an, starrte vehement gegen die Wand. Sie dachte, ihre Augen wären ausgetrocknet, aber wieder glänzten ihr heiße Tränen darin, diesmal aus Scham, Schuld, Verwirrung. Das wolltest du nicht. Das wolltest du NICHT! Das wolltest du nicht. Das war nicht... so war es nicht!
Du wolltest das nicht tun! Das war nur eine Einbildung, ein Nebeneffekt des Schockes...!
*****
Nikis Sorge, dass die gebissene Französin allein sein würde, schien allerdings unbegründet. Léo war bei ihr, doch benahm sie sich recht merkwürdig. Ob ihr etwas passiert war?
Jedenfalls wollte er nicht einfach die ganze Zeit nur dastehen und die beiden Mädchen beobachten, also räusperte er sich und meinte vorsichtig:
"Ähm... A-Alice, n-nicht wahr? I-Ich wollte nur nach dir schauen... aber Leo ist ja gerade bei dir. Soll i-ich wieder gehen?"
Beide schüttelten sanft ihren Kopf, also entschied er sich dazu, sich einfach stumm zu ihnen auf’s Bett zu setzen.
*****
Eigentlich hatte sie ja erwartet, direkt wieder umgeknuddelt zu werden.
Aber dass die Meerjungfrauentochter sich fast schon panisch entfernte und damit auch verklumpte, kam doch überraschend.
Und dann wieder eine Aufforderung, die ihr das Gefühl gab, sich wieder verkrümeln zu müssen. Was sie aber garnicht wollte.
Heute war echt alles etwas seltsam.
Eine Stimme hinter ihr, die sich vom Ton her nach Niki anhörte, ließ sie ihren Kopf nach hinten drehen. Ein kleiner, schmaler Klumpen, könnte von der Größe hinkommen.
… Soll i-ich wieder gehen?", vermochte ihr Gehirn gerade zu decodieren. Was hatten heute alle mit weggehen?
Also schüttelte sie einfach weitergrinsend den Kopf, kam den sich inzwischen hingesetzten kleinen Klumpen ganz nah und identifizierte ihn eindeutig als Niki.
“Bueno…!(Schön!)“
Glücklich struwwelte sie ihm durch sein ergrautes Haar. Entweder wurden ne ganze Menge Leute von Aliens entführt oder Menschen konnten jetzt beim Sprechen bunt werden, oder- sie war doch ein Zombie geworden. Das könnte auch der Grund sein, weswegen Alice zurückgewichen war.
Kurzerhand näherte kam sie über den direkten Weg, also auf allen vieren über das wunderbar weiche Ding kraxelnd, auf die Zurückgewichene zu.
Moment.
Wunderbar weich.
Bett.
Ahhh….!
Aber jetzt egal.
*****
Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Das konnte doch nur ein böser Scherz sein!
Als Alice sich wieder zögerlich dem Raum zuwandte, kroch die kleine Leo mitr einem unschuldigen Lächeln auf den Lippen auf sie zu.
"N-íscht...! Kómm níscht nä'er!!"
Alice versuchte, das Mädchen anzuschreien, aber es gelang ihr kaum. Sie kam näher. Und sie roch gut. Warum duftete Leo nur so wundervoll...? Das war Alice bisher nicht aufgefallen.
Oh mein Gott!
Was denke ich denn da?!
Zitternd wich Alice weiter von Leo zurück, versuchte irgendwie Abstand zu ihr zu gewinnen, kauerte sich in die Ecke, in der das Bett stand und zog ihre Knie zu sich hin.
*****
Bei Alice angekommen, fasste das Kind diese sacht bei den Schultern und betrachtete ihr Gesicht und vor allem die nassen Augen.
*****
Ihre Hände kamen näher. Alice wollte etwas tun.
Sie wollte irgendetwas tun.
Sie brüllte ihren ganzen Körper so laut sie nur konnte an, irgendetwas zu tun!
Aber er tat nichts.
Schließlich nahm Leo sie bei den Schultern und sah ihr neugierig ins Gesicht. Alice konnte nur zitternd dasitzen und versuchen, den tränenden Blick von Leo zu nehmen. Aber es gelang nicht. Warum nur konnte sie den Blick nicht von ihr nehmen?!
*****
Das Grinsen verblasste. Tränen erkannte sie immernoch sehr gut.
“Heeey… niicht… tra—traurig seeein, disculpe! (Entschuldigung)“
Sie wusste zwar nicht genau, warum die Blauhaarige jetzt wegen ihr fast weinte, aber das hatte sie auf jeden Fall nicht gewollt.
*****
"Leó... bítte..."
Jetzt sah sie ihr bewusst in die Augen, nur einen Moment lang, um sie ebenfalls bei den Schultern zu nehmen und von sich wegzudrücken.
"Bítte, kleinés Re'kítz... geh weg von mír. Verlassé diesén Raúm. Sofórt."
*****
Eine Sekunde dachte sie angestrengt nach, sodass sie glaubte, ihr Kopf müsste platzen, dann erhellte sich ihre Miene wieder:
“Me se… äh… Ich weeeiß… was Toolles, das macht Dich …. wiee-der gut, jaa?“
*****
Sie wollte sie... aufmuntern. Das Mädchen war in den Raum gekommen, um sie aufzumuntern. Warum konnten Kinder einem mit ihrer unschuldigen Art nur so schnell ans Herz wachsen?
Aber egal, rational gesehen war das hier die schlimmstmögliche Situation. Leo saß einer Untoten gegenüber. Hilflos wandte Alice' Blick sich dem asiatischen Jungen zu, den sie bisher nur gezeichnet hatte, aber mit eher schüchterner Miene hielt der sich zurück und beobachtete das Geschehen.
Schrei sie an.
Nein, brülle sie an, so laut du nur kannst!
Sie soll richtig Angst bekommen und weinend rausrennen.
Dann hasst sie dich zwar, ist aber gerettet.
Schubs sie vom Bett.
So fest, dass es ihr weh tut!
Schlag sie, wenn es sein muss. Na los, TU IHR WEH!
Spuck ihr ins Gesicht, zieh ihr an den Haaren, Beleidige sie so schlimm es geht, nur bring sie irgendwie dazu, diesen Raum sofort zu verlassen!!
Stoß sie weg! Tu ihr weh! Schlag zu! Nur ein kleiner Schlag auf die Schulter. Das wird schon gehen. Schlag schon zu! Es ist zu ihrem Besten! Schlag zu! Schlag Leo mit der Faust auf die Schulter!!SCHLAG ENDLICH ZU!!
Sie wollte es. Sie wusste, sie müsste es tun.
Aber Alice tat es nicht.
*****
Enthaltungen werden als Ja gewertet.
Glücklich klatschte die junge Mexikanerin in die Hände und schnallte sich Àlvaro ab. Nach einigen mühsamen Herumfiddeln, seinen Bauch zu öffnen und noch viel mühsamerem Herumkramen danach holte sie schließlich ein Päckchen hervor und stand auf.
“ ¡Es realmente fantastico, ya que tiene una gran cuento!”, plapperte sie drauf los, während sie sich angestrengt auf die Suche nach den passenden Utensilien machte.
”Äh...ich meeine: Is was gaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanz Tolles, ...weil haat eine su---super super Geschichte. Und ist super lecker...”
*****
Es half nichts. Das kleine Geschöpf war ja nichteinmal vollkommen bei Verstand, und Alice konnte nicht leugnen, dass sie über ihre Anwesenheit hier froh war. Es war irrsinnig, unverantwortlich, egoistisch, aber sie wollte jetzt nicht alleine sein.
Ganz ruhig. Wenn du ganz ruhig bleibst und durchatmest, ist alles okay.
Gesagt, getan. Alice versuchte, gleichmäßig zu atmen, ihre Beherrschung Stück für Stück zurückzugewinnen. Sehr langsam beruhigte ihr Körper, ihre Sinne sich und sie lehnte an die Wand und sah dem Mädchen dabei zu, was auch immer es da tat. Zwischenzeitlich glitt ihr Blick immer mal wieder zu Nikki, der offenbar aus irgendeinem Grund auch hier bleiben wollte. Das war Alice nur recht. Sie mochte Kinder einfach gerne, und ihn hatte sie ja sogar schon gezeichnet...
*****
Aus einem... Holzkastending holte sie drei Tassendinger raus. Ebenso wie ein Gerät zum Wasserkochen. Also, wer auch immer sich hier eingerichtet hatte, hatte echt an alles gedacht. Aus einem anderen Holzkasten holte sie noch ein paar von diesen Umrührteilen. Hier genau. Ihr wisst schon, was ich meine. Genau die.
Vorsichtig stellte sie diese immer nacheinander mit gelegenlichen Stolperen auf der kleinen Ablage bei Alice ab, nachdem sich die Kleine vergewissert hatte, dass man auf den braunen Flecken auch etwas abstellen konnte. Ihr war nicht genau klar warum, aber irgendwie hatte sie im Moment absolut Ahnung, was sie machen musste und dadurch fühlte sie sich richtig gut. Während Léo Wasser vorsichtig aus dem angrenzenden Bad in den Wasserkocher fließen ließ und dann noch mühsamer eine Steckdose im Kriechen am Boden suchte, in die sie dann irgendwie das Kabelteil friemeln konnte, fuhr sie fort:
”Die Geeschichte ist ... ja, meine aaaaaallerlieblings-Geschichte! ... Noch lieber als die mit den Kobolden, die ....On-kel Alistair immer drauf haatte... die ist nämlich ganz alt aus México, und die haaat... mir mein Papa ... ganz oft ...erzählt....
*****
Unwisch tapste das zierliche Mädchen von hier nach da, kreuz und quer und wieder zurück, nahm hier etwas, trug es nach da und wirkte die ganze Zeit ein bisschen wie im Rausch. Leo war unsagbar niedlich dabei. Sofort verachtete Alice sich dafür, in so einer Situation noch so etwas denken zu können, anstatt das wehrlose Mädchen und den kleinen Jungen mit einem Tritt aus der Kajüte zu befördern, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Aber was tat sie? Hockte da auf ihrem Bett und sah ihr zu. Großartig, vraiment. Ganz großer Sport.
*****
Na endlich. Steckerding drin. Hoffentlich.
Beim Aufstehen rammelte sich das Mädchen den Kopf hart von unten an der Ablage, was ihre Kopfschmerzen nur unwesentlich beeinflusste.
Weiter grinsend setzte sie sich wieder auf das....ja, genau, Bett, und öffnete das Päckchen. Dann betrachtete sie abwechselnd Alice und Niki voller Ernst, während sie anhob:
”Aaalso... früher waaar eine chica, die ....hieß Vanilla und die... war muy guapa, ...eh, also voll hü---übsch, ja und die war ganz ...gaaanz dolle verliebelt in den... muchacho Chocolatl. Und der auch zurüüück in… sie, naturlamente…“
Das Wasser kochte.
“ Da gaab aber so einen… voll voll bösen Zauberer, der … fand das gar nicht bien und da hat der die beiden verwandelt. Vanilla in … eine orquídea... ganz hübsche Blume und den Chocolatl in einen ...Baum.”
Mit einem der Umrührteile schaufelte sie jeweils eine ganze Menge eines braunen Pulvers in jede der Tassen.
” Aaaber weil Vanilla den Chocolatl so sehr ... liebte, hat sie sich als Blume gaaanz eng an den Chocolatlbaum .... also umarmt hat sie ihn. Und die frutas von beiden, also ... der Kakao... und die Vanille..”
Sie zog eine schwarze, lange Vanillestange hervor, spaltete sie mit den Finger und schabte etwas in jede Tasse.
”... die geben heute weeegen... ihre uun-endlicheeen Liebe das aller aller tollste Zutrinken en todo mundo ...”
Das heiße Wasser wurde vorsichtig in die Tassen gegossen und schnell mit den Umrührdingern... naja, umgerührt eben.
*****
In faszinierter Trance beobachtete Alice Leo dabei, was auch immer sie tat und lauschte wie im Halbschlaf ihrer Geschichte. Das Mädchen war einerseits ganz offensichtlich nicht bei Sinnen und doch wirkte sie sich sicher bei dem, was Leo tat. Alice wusste beim besten Willen nicht wieso, aber Leos Geschichte beruihgte sie. Der süße Duft beruhigte sie, ihr herumtapsen beruhigte sie. Ließ es sie, wie Shelley, für einen Moment vergessen. Drängte das in ihr zurück... für eine Weile. Schon seltsam, wie es manchmal spielte. Vor zwei Stunden noch weinte sie sich die Augen in Todesangst aus dem Kopf und jetzt saß sie, nurnoch leicht zitternd, auf einem Bett und ließ sich von einer kleinen Mexikanerin Kakao zubereiten. Nikki schien zumindest ähnlich fasziniert von Leos unkonventionellem Erzählstil, mit fasziniertem Blick klebte er förmlich an ihren Lippen und lauschte ihren Worten sehr aufmerksam. Das war auch niedlich. Auf eine seltsame Art und Weise.
*****
Dann reichte Léo zuerst Niki eine Tasse, die er ihr hastig abnahm, danach Alice und nahm sich schließlich die dritte und hielt sie aufgeregt vor sich.
Dass sie sich dabei die Finger fast verbrannte, kümmerte sie wenig.
” ... Kakao mir Vanilla! Macht ... jeden wieder glücklich!”
*****
"Dankeschön..."
Lächelnd nahm alice die Tasse entgegen. Warum lächeklte sie? Was verflchtnochmal gab es jetzt bitte zu lächeln?! Egal. Das warme Getränk wärmte ihr zuerst die zittrigen Fingern, dann den Magen. Die seltsam fremde Kälte, welche sich in ihrem Körper ausgebreitet hatte, trat in den Hintergrund, und wich etwas anderem, ausgelöst durch den Kakao und... mehr. Eigentlich verabscheute sie alles Süße. Denn Alice hatte es geliebt. Aber das war... wirklich lecker.
"Das ísd... köstlísch, Leo. Wirklísch!"
Das Mädchen nickte eifrig und grinste Alice stolz entgegen. Allein mit so einem einfachen Lächeln schafften es Kinder, viel schwerere und negativere Emotionen zerbröckeln zu lassen. Warum war das wohl so?
*****
Sie nahm einen Schluck, der sich ihre Kehle runterbrannte. Kurz hechelte sie wie ein Hund, ließ die Zunge dann noch etwas heraushängen, rollte sie dann wieder hinein und fuhr fort:
”Aber .... das realmente Tollste... war immer, wenn Papa gesagt hat:
Weeeißt Du, Léo... Deine Mama und ich, wir sind wie ... Vanilla und Chocolatl... sie ist Vanilla, weil Vanilla ja hell ist, obwohl ja eigen-tlich nicht... aber egal, Mama kommt nämlich von Australien und hat ganz helles Haar... und ich Chocolatl, weil ich ganz dunkel bin... und wir lieben uns auch gaanz doll und ... wir zusammen haben Dich und Du bist ge-nauso süß und ... wunderbar wie Kakao mit Vanille!”
Glücklich gluckste sie vor sich hin und schaute die beiden an. Jetzt musste die Meerjungfrauentochter einfach wieder glücklich sein!
”Naa... is wirklich lecker, oder?”
*****
Alice stimmte in Leos Gekichere über ihre eigene Geschichte ein und eine ewige halbe Minute lang saßen die beiden in dieser Kajüte und lachten vor sich hin, auch Nikki hatte nach kurzer Zeit eingestimmt und ließ ab und zu einen leisen Lacher verlauten. Als ob garnichts wäre. Das musste es sein, was Shelley mit Ablenkung meinte.
"Ja, íst wahnsínn. Warúm kannst dú das só gúd?!"
*****
Das beste Getränk der Welt verfehlte seine Wirkung nicht. Sowohl Niki als auch vor allem Alice waren sichtlich aufgeheitert und auf die Frage hin hob die Kleine lediglich die Achseln:
“Weeiß nich… min-destens dreimal … die Woche mit Papa gemacht… bis Sydney…“
Sacht stellte sie die fast leere Tasse zurück auf die Ablage. Ob es nun am Kakao oder dem Bett, wie der rosane Klumpen sagte, lag- auf jeden Fall wurde das Käseglockengefühl etwas besser. Zwar war immernoch alles unscharf, aber dafür konnte sie das Gesprochene fast vollständig verstehen. Ja, Betten und Kakao können Wunder wirken.
Doch dann drängte sich ein Gedanke, quälende Schmerzen verursachend an die Oberfläche und forderte ihre Aufmerksamkeit. Alice hatte sie nicht wie das Letzte Mal total euphorisch umgeknuddelt. Sie hatte Tränen im Gesicht gehabt, war ganz alleine und still in dieser Kajüte gewesen. Schwach dächte sie sich zu entsinnen, dass sie die Blauhaarige auch auf dem Weg zu dem großen Schiff gesehen hatte…
Ihr Kopf hämmerte wie verrückt. Als ob er die Verknüpfung, die sich gerade anbahnte zu entstehen mit aller Macht verhindern wollte.
Leise fragte sie deshalb:
“ Alice… ist… ist Dir was … passiert?“
Alice hatte gerade den letzten Schluck ihrer Tasse, geleert, als sie sich ob Leos Frage ordentlich verschluckte, die Tasse bei Seite stellte und dem Mädchen mit einem schwer zu deutendem Blick in die Augen sah.
Was soll ich ihr denn jetzt erzählen?!
'Sorry, ich bin von einem halben dutzend Untoter gebissen wurden und verwandle mich bald in einen stinkenden, menschenfressenden Zombie! Ach ja, du und Nikki seid übrigens in absoluter Todesgefahr weil ihr hier mit mir in einer Kajüte rumsitzt und du mir KAKAO SERVIERST!!!
"isch..."
Wie erklärst du einem kleinen Mädchen, das auch noch geistig neben sich steht, etwas, das du ja nicht einmal selbst verstehen willst?
"Ísch 'abe mir... wehgetán. 'atte einen Ùnfall, als ísch etwas für úns ge'olt 'abe, weißt dú?"
Sie gab dem Mädchen gar keine Chance, erst zu reagieren, ebensowenig, wie sie den asiatischen Jungen damit belasten wollte. Sowas musste man schnell und elegant über die Bühne bringen. Jetzt galt es, die beiden hier rauszuwerfen.
"Ísch bín krank, verstehst dú das, Leó? Darúm múss ísch unseré Grúppe bald verlassén, und... alors... sú einer Gruppé von anderen Krankén ge'én.
*****
Krank…
Beim Klang dieses Wortes fühlte sich ihr ganzer Körper ganz komisch an und sie sich in ihm nicht mehr wohl.
Ja, krank war diese Sachen mit den verstopften Nasen und den Kopfschmerzen (Ha-ha) und der ganzen Medo-…Madi- … Meta- also dem ekligen Zeug, was man immer trinken muss.
Aber … wenn sie nicht von Aliens entführt worden waren…also noch auf dem Boot…. Dann waren sie quasi mitten in der Meerpampa, nirgendwo die Kranken…dinger eben, wo Kranke hingingen. Die Kopfschmerzen waren echt kaum auszuhalten.
Aber trotzdem…
*****
Alice war sich nicht sicher, ob sie verstand. Okay, das war... in ihrem Zustand nachvollziehbar. Aber es würde schon ausreichen, damit sie am Ende den Raum verließ und es später, bei beserer Besinnung, verstehen würde.
"weíßt dú, wír Meerúngfrauén sínd swar unsterblísch, aber wenn wír krank sínd, stecken wír andere schnell án... darúm sammeln wír uns in Gruppén."
Ja, das war gar nicht schlecht. Irgendwo klopfte ihr eine Seite von ihr dafür auf die Schulter.
"Ìsch ge'e morgén weg... das íst jetzt alzó das letzté Mal, dass wír uns se'en. Merci für den köstlíschen Kakao, kleines Re'kítz... únd für die Geschíschte. Du 'ast mír damít mehr ge'olfen, als du víelleicht glaubst."
Alice lächelte dem Jungen Nikki entgegen, der die ganze Sache deutlich besser zu verstehen schien, bedeutete ihm aber mit den Augen, nichts zu sagen.
*****
Léos Augen weiteten sich.
Gerade hatte Alice wirklich zugegeben, eine Meerjungfrau zu sein. Aber ohne Fischschwanz.
Dazu muss zuallererst ihr Fischschwanz durch ein Paar Beine ersetzt werden, was der kleinen Seejungfrau jeden Tag unerträgliche Schmerzen bereitet und unumkehrbar ist.
Heiratet der Prinz eine andere, muss sie sterben...
Am Morgen nach seiner Hochzeitsnacht löst sich ihr Körper in Meeresschaum auf.
In ihrem Bauch machte sich ein ganz mieses Gefühl breit. Dann ist diese riesige Masse von…naja, Meer eben ideal… um einfach…
Das war absolut nich fair. Nur, weil irgendein Vollidiot sich nicht in sie verlieben wollte.
Und sie hatte ihr auch noch von Vanilla und Chocolatl erzählt…
*****
"Ísch 'abe übrigens auch nóch etwas für Eusch beidé!"
Fröhlich wie ein kleines Kind kramte Alice in ihrem Rucksack herum und befreite insgesamt zwei Bilder daraus. Zuerst winkte sie Nikki heran und drücke ihm eine Zeichnung von sich in die Hände.
"'áb ísch letzténs vor dem Gemeinschafszentrúm gemacht. ìsch 'offe, das íst níscht so übél geworden, 'abe dísch da níscht so gút ergánnt.“
Er nickte und murmelte etwas, dass sie nicht verstand, aber offenbar hasste er das Bild nicht. Das genügte Alice, um zufrieden zu sein. Dann waren es Leos kleine Hände, denen sie ein Bild in Selbige gab. Ihre Wangen nahmen einen zartrosanen Pfirisch-Teint an und dümmliches Grinsen verunreinigte ihre Mimik, als sie es euphorisch erklärte.
"Schau, Leó, íst das níscht toll?! das bíst du!"
Auf dem Bild war ein kleiner Wasserfall, der in einen kleinen See mündete. An diesem See trank ein Rehkitz etwas Wasser, neben ihm stand ein kleines Mädchen und streichelte ihm den Hals.
"Eigentlísch maché ísch sowas Kitschíges níscht, aber..." , Alice sah ihre Knie an, bevor sie ein weiteres mal aufsah wie ein Hund, der nicht geschlagen werden wollte, " gefällt es dír?"
*****
Die Kleine hielt das Blatt ganz dicht vor ihre Nase, sodass sie das Motiv erkannte. Bedächtig fuhr sie mit einer Hand über die Linien, wie um sich zu vergewissern, dass sie wirklich echt waren.
Das dumpfe Bauchgefühl wurde stärker und kroch langsam nach oben.
Auf die Frage hin hob sie den Blick zu der noch nicht verschäumten Meerjungfrau, die sie unsicher betrachtete.
“Es… es la más hermosa, que visto en mi vida (Es ist das schönste Bild, dass ich in meinem Leben gesehen habe)….also… das allerschönst-„
Vorischtig legte sie das Bild beiseite, um auf die leicht zurückweichende Alice zuzukommen, ihre Ärmchen um ihren Hals zu legen und sie ganz fest an sich zu drücken.
Mit aller Kraft zwang sie sich, nicht loszuschluchzen, doch trotzdem kullerten ihr Tränen über die Wange.
“ Da-as… ist nich… ich w-will nich, dass … dass Du…“
Ihre Kehle wurde zugeschnürt von einem Gefühl der Gewissheit und schleichender Erkenntnis, die sie liebend gerne gegen tausendmal stärkere Kopfschmerzen getauscht hätte. Léo vergrub ihr Gesicht in den Schultern der Älteren.
*****
Verloren.
Das war der einzige Gedanke, den Alice noch fassen konnte. Die offensichtlich positive Reaktion von Leo auf ihre Zeichnung war schon dank genug, aber als das Mädchen, flink wie ein Wiesel, auf sie zukam und sich an sie drückte, war es vorbei mit jeglichen Plänen, das Kind noch rauszuwerfen. Es ging nicht. Es war unverantwortlich. Aber diese Argumente wurden vollkommen chancenlos von dem schönen Gefühl, das Alice in diesem Moment durchflutete, entkräftet.
Schon lustig. Da habe ich Zwei Jahre lang in dieser Hölle gelebt um mich zu verändern und mein Leben zu verbessern und habe es doch erst in so einer Situation, ganz kurz vor dem Ende geschafft.
Lächelnd streichelte Alice ihr das braune Haar. Irgendwie waren dieseltsamen Gedanken, die sie noch bei Leos Hereinkommen hatte, verschwunden. Zumindest für den Augenblick.
"Ne te fais pas de souci(Mach dir keine Sorgen)... ísch bín einé Meerjúngfrau, oui? Ísch bín unsterblísch und komme irgendwánn wíedér, wenn ísch ganz gesúnd bín!"
Sie grinste Leo aufmunternd ins Gesicht. Seltsame Situation, gerade war sie es noch, die aufgemuntert werden musste.
Seelenruhig legte Alice ihren Kopf auf Leos und fing an, eine Melodie zu summen, um sie etwas zu beruhigen. Die Minuten verstrichen und Alice konnte fühlen, dass das Mädchen in ihrem Arm müder wurde. Sie nahm ihr Gesicht mit Den Händen und lächelte sie noch einmal an, um ihr zu versichern, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe.
Ein kleines Gör aus aus Mexiko, das ich erst vor wenigen Tagen kennengelernt habe, bringt mich dazu, mich für diese Gruppe in den Tod stürzen zu wollen... bin ich seltsam? Aber das ist doch, was du meintest, nicht wahr Alice? Das tun... was ich selbst möchte.
Aimée rollte eine Träne aus dem Auge, als sie Leo einen Kuss auf die Stirn gab. Sie wusste nicht, ob diese das im Halbschlaf überhaupt noch mitbekam,aber so wichtig war das auch garnicht. Sie flüsterte ihr etwas ins Ohr und hoffte, dass dies ihren Verstand noch erreichte.
"Merci infiniment, Leó..."
*****
Ganz leise schniefend wurden die Sinne des kleinen Mädchens noch träger und vernebelter, als sie so schon waren. Alice' Worte überzeugten sie nicht, die Geschichte der Oma war dafür zu fest eingebrannt in ihrem durchgewackelten Hinterstübchen. Und trotzdem beruhigte sie diese offensichtliche Lüge.
Ruhe.
Das war sie.
Ihr Körper wurde schwer von der warmen Umarmung und der schönen Melodie. Mit halbgesenkten Lidern drehte sie den Kopf in Richtung Niki, der als verschwommener Klumpen etwas abseits auf dem Bettteil hockte. Sanft lächelte sie ihn an, dann spürte sie einen leichten, sanften Druck auf der Stirn.
Sie fühlte sich seit über einem Monat, trotz Kopfschmerzen und allem, richtig geborgen.
"Merci infiniment, Leó...", die Worte kannte sie nicht, aber die Bedeutung schien ihr doch recht klar.
Noch einmal drückte sie sich fester an die Meerjungfrau, mit einer traurigen Gewissheit, dass sie beim Erwachen nicht mehr da sein würde.
Dann senkte sie die Lieder und driftete weg in einem tiefen Schlaf.
*****
Alice summte noch eine Weile, nachdem Leo auf ihrem Schoss eingeschlafen war weiter, streichelte das braungelockte Haar. Auf eine spontane Eingebung hin holte Alice die Tüte Sahnebonbons aus ihrer Tasche - und steckte sie in Leos. Aber as war nicht alles.
"Die ist zu schön, um am als einer Leiche zu baumeln..."
Alice nahm sich die Spieluhr vom Hals und band sie um den von Leo. Allerdings entfernte sie vorher das Bild aus ihr und schrieb stattdessen etwas hinein.
Dann erfährst du meinen richtigen Namen immerhin doch noch."
Als das Mädchen ganz sicher tief und fest schlief, war Aimée zufrieden und wollte Nikki gerade bitten, mit ihr Leo vorsichtig herauszutragen. Aber er war verschwunden.
"Merdé."
War die trockene und verwunderte Reaktion von Aimée, als die bemerkte, dass sie mit dem schlafenden Kind allein in der Kajüte war. Nikki musste während der gerade stattgefundenen Szene gegangen sein, vielleicht hatte er das Gefühl, zu stören. Aimée bedauerte das, eigentlich wollte sie dem Jungen noch auf wiedersehen sagen, andererseits hatten sie ja auch nicht viel miteinander zu tun gehabt...
Was sie aber wesentlich mehr bedauerte und ein wirklich größeres Problem darsellte, war das. Aimées Blick glitt wehleidig hinunter zu dem schlafenden Mädchen. Wenn sie sie alleine hier raustragen würde, würde Leo garantiert aufwachen, zudem die anderen sie ohnehin nicht rauslassen würden. Sie konnte nach ihnen rufen, damit sie Leo holen, aber würde sie das nicht wecken..?
Nein, das waren letztendlich nur Ausreden. Vorwände.
Willst du überhaupt, dass sie den Raum verlässt? Es ist spät... Morgen früh ist es vorbei. Willst du diese Nacht einsam und allein in dieser Kajüte verbringen, oder... freust du dich gar darüber, dass das Mädchen bis Morgen bei dir bleibt?
Unwirsch schüttelte Aimée ihren blauen Kopf. Überhaupt an so etwas Waghalsiges zu denken, war bereits Beweis genug für ihren Egoismus. Mit einer Untoten in einem verschlossenen Raum übernachten, geeeenau, da konnte sie Leo auch gleich ins Meer werfen. Nein, sie würde sie jetzt vorsichtig nehmen und an der Tür einem der Anderen übergeben.
Behutsam griff die Französin nach den Armen des Mädchens, um sie vom Schoss zu heben.
Jetzt mach schon.
Jetzt heb sie schon an. Es sind keine fünf Schritte bis zur Tür.
Das kannst du nicht im ernst meinen...
Aimées Hände ruhten zitternd auf Leos Armen, machten aber keine Anstalten, diese zu bewegen. Leo war klein, wahrscheinlich federleicht und es hätte keine drei Sekunden gedauert, sie aus dem Raum zu bringen. Immerhin war Aimée infiziert. Nur weil ihre Sympotome kurz nicht mehr präsent waren, war die Gefahr nicht gebannt. Es war ein klarer Menschenverstand, der einem vorgab, das Mädchen SPÄTESTENS jetzt wegzubringen!
Und doch wollte Aimée es nicht. Tränen der Frustration rollten ihr über die Wangen, als sie immer noch krampfhaft versuchte, das kleine Ding endlich von ihr zu nehmen. Hilfesuchend wandte sie sich an das Bild aus der Spieluhr, als könne es ihr helfen. Sag mir, was ich machen soll, Alice? Selbst in dieser Lage, in der offensichtlich klar ist, was ich tun sollte, müsste, will ich wieder meinen Dickkopf durchsetzen und egoistisch sein!
Nur ein einziges Mal seit jenem Tag nicht alleine sein.
Nur ein einziges Mal noch die Wärme eines anderen Menschen genießen.
Sie schaffte es nicht. Es ging nicht. Wütend nahm sie ihre Hände von Leo und schlug sich damit ins Gesicht.
Du solltest mich nicht gern haben, Leo! Ich ignoriere dein Leben vollkommen für meine Selbstsucht! Einen so egoistischen Menschen solltest du hassen!
Ein letztes Mal an diesem Tag weinte Aimée stumm, bevor sie die Hände auf Leos Kopf legte und langsam zusammensackte.
"Je suis désolé, Leó... pardonne-moi mon égoïsme s'il te plaît... je suis désolé..."
Langsam glitt Aimée in einen unruhigen Schlaf ab, das letzte Mal in ihrem Leben, und doch fühlte sie sich allein in diesem Moment wohler als in zwei langen Jahren zuvor.