Auf den letzten Metern zum Dorf hatten Dolores und Niki noch Zeit gefunden, sich ein bisschen zu unterhalten. Diese Akte hatte der Junge die ganze Zeit fest gehalten und schnell war klar gewesen, dass sie ihm wichtig war. Und diese Geschichte mit dem Koma, den Tests und der Tatsache, dass er in diesem suspekten Labor untergebracht gewesen war... irgendetwas an dieser Sache war verdächtig... und unglaublich spannend! Dolores brannte darauf, mehr zu erfahren, doch als sie im Dorf angekommen waren, gab es erst einmal Wichtigeres.
"Falls du sie nicht alleine lesen möchtest,", sagte sie am Ende mit einem beruhigenden Blick, denn Niki wirkte nervöser, je länger er die Akte anstarrte, "sag mir einfach Bescheid. Du kannst jederzeit zu mir kommen wenn dir etwas auf dem Herzen liegt. Jetzt werde ich mich allerdings erst einmal ausruhen."
Juliane und Fritz waren gerade auch zurückgekehrt, was Dolores ziemlich erleichterte und ihr nun erlaubte, sich auch wirklich einmal fallen zu lassen. Die geplante Flucht aus dem Dorf war anscheinend noch nicht vollkommen vorbereitet, und so setzte sie sich vor eine der kleinen Hütten ins Gras und lehnte sich mit einem Stöhnen an die Hüttenwand. Bei einem Blick auf ihre schmerzenden Beine stellte sie mit Erstaunen fest, dass aus dem Gras genau neben ihrem Knöchel wie ein einsamer Kämpfer ein vierblättriges Kleeblatt herausragte.
"Mama, warum ist ein vierblättriges Kleeblatt so viel wertvoller als ein dreiblättriges?"
Die Stimme hallte in ihrem Kopf wider, als hätte sie sie gerade erst vor kurzem gehört. Was hatte sie damals geantwortet? Irgendeinen Humbug, den sie aus einem Gedichtband geklaut hatte.
"Mrs. Collins hat gesagt, sie hätte dich heute wieder vor dem Einkaufszentrum gesehen, Barbara. Du lungerst jeden Tag dort herum und tust, als müsstest du dein Geld auf der Straße verdienen."
"Nenn mich bitte nicht Barbara."
"Weißt du, wie unangenehm das für uns ist? Du blamierst mich und deinen Vater. Die Leute glauben schon, wir hätten Geldprobleme."
"Aber Mama, ich zaubere jedem dort ein Lächeln auf die Lippen, weißt du was das ist - lächeln? Ich mache die Menschen glücklich, wie ein Klee-"
"Aber mich machst du sehr, sehr unglücklich, Barbara."
An solche Sachen erinnerte sie sich Wort für Wort. Sie hätte jeden kleinen Streit mit ihrer Tochter noch einmal detailgetreu nacherzählen können - und da gab es viel Material - aber ihr wollte einfach nicht einfallen, was sie auf die Frage nach dem Kleeblatt geantwortet hatte. Genauso wusste sie nicht mehr, was eigentlich die Worte gewesen waren, mit denen sie sich von Barbara verabschiedet hatte.
Aber es war ohnehin nicht wichtig, all das war längst vergangen. Dummes Pflänzlein, dass sie so unverblümt an Dinge erinnerte, die abgeschlossen waren. Dolores stand nun wieder auf - Ausruhen hatte immer den Nachteil, dass man zum Nachdenken kam - und sah sich kurz um. Was gab es zu tun?
Sie erinnerte sich an das Beruhigungsmittel, das sie in der Tasche hatte und entschied, dass sie selbst wohl nicht viel damit anfangen würde. Andere hatten es wahrscheinlich nötiger und es gab zumindest eine Person, die das vielleicht besser beurteilen konnte.
Shelley war gerade dabei, dem Gefangenen vom Balkon irgendwelche Tipps zu geben. Ein übler Geruch ging von ihm aus, aber Dolores versuchte darüber hinwegzusehen - immerhin hatte der Kerl ihnen bei ihrer letzten Flucht essentiell geholfen. "Entschuldigung, Shelley, nicht wahr?", sprach sie die junge Frau an. "Ich habe hier ein Beruhigungsmittel gefunden und dachte, Sie sollten es vorerst verwahren." Sie gab Shelley das kleine Fläschchen und zögerte kurz. Dann holte sie den Doktorenkittel aus ihrer Tasche, der nun ein bisschen zerknittert aussah, aber immer noch recht edel. Für einen Doktorenkittel. "Sind Sie eigentlich medizinisch ausgebildet?" Die Frage klang skeptischer, als es geplant gewesen war, und um darüber hinwegzutäuschen sagte sie schnell: "Wir waren nämlich in einem Forschungslabor und falls Sie über medizinisches Wissen verfügen wäre es vielleicht gut, unsere Entdeckungen mit Ihnen zu teilen." Als müsste sie ihre Aussage beweisen, reichte sie Shelley den Doktorenkittel (Shelley Charisma +1). "Niki, der asiatische Junge, hat auch eine Akte gefunden und wenn es ihm recht ist, könnten Sie später auch einen Blick hineinwerfen, um etwas Licht in gewisse Angelegenheiten zu bringen."