-
Ehrengarde
~Früher an diesem Tag~
Sie erwachte mit einem Magenknurren in vollkommener Schwärze.
Nach einigem Herumtasten fand ihre Rechte die Streichholzschachtel und die Linke den Kerzenstummel vom Vortag. Kurz darauf brachte zuerst der Schein des entzündeten Streichholzes und dann der der Kerze Licht ins Dunkel. Wände aus kaltem, schwarzem Stein. Vier Fotos, mehr schlecht als recht an einigen Vorsprüngen der nächsten Wand aufgestellt. Eine Armbanduhr neben einem offenliegenden Heft, in dem Jemand mit einem Bleistift wohl einen Roman verfassen wollte, aber durch Müdigkeit nicht über ein „Querido Diario (Liebes Tagebuch)“ hinausgekommen ist.
Und eine notdürftig hergerichtete Schlafstatt mit einer löschblattdicken Decke, einem Kleidchen als Matratze und einem dreibeinigen Affenplüschtier als Kopfkissen.
Aus diesem „Bett“ setzte sich nun das bis auf Unterhose und Sandalen nackte und unsagbar dreckige Mädchen auf. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits fast drei Uhr am Nachmittag war.
Verdammt …
Nach knapp einem Monat auf dieser Insel schlief sie nun achtzehn Stunden am Tag- Tendenz steigend. Wenn das so weiterginge, würde sie irgendwann garnicht mehr aufwachen.
Das Kind räkelte sich ausgiebig, um danach geschwind die Uhr umzutun und die Decke samt Heft und Stift in ihr Stofftier zu packen. Ihr Kleid wurde ausgeschüttelt und hastig angezogen. Liebevoll, inzwischen schon fast rituell wandte sie sich nun den Fotos zu; über jedes fuhr sie sanft mit den Fingern, drückte ihnen einen sachten Kuss auf und verstaute sie dann in der Brusttasche an ihrem Herzen: Zuerst das Familienfoto Arellano-Felix’, auf dem ihre Mama, Abuela und alle lieben Onkel mit drauf waren. Dann das Foto, dass während der Fahrt auf der Diana II von Ian und Clover auf ihr Bitten hin gemacht worden war. Das dritte zeigte sie selbst zwischen zwei grinsenden Jungs und vor einem etwas verrückt, aber unglaublich stolz aussehendem Mann, im Hintergrund schier endlose grüne Weiden und ein trüber Himmel- wie sehr sie sich wünschte, wieder zu dieser Insel zu kommen. Und zuletzt das Abbild ihres Papas vorm Panorama des Sydneyer Freizeitparkes vom Tag, als alles den Bach runterging.
Bestärkt durch das Gefühl, von diesen ihr liebsten Menschen immer begleitet zu werden, nahm sie ihren besten Affenkumpel an sich, löschte das Kerzenlicht und begann, aus der kleinen Höhle zu klettern. Die Griffe beherrschte sie inzwischen im Schlaf, jeder Stein des Austieges war ihr bestens bekannt. Und so fiel zuerst etwas orange-rundliches auf den Boden der hintersten Ecke des Vulkanhöhlensystems, gefolgt von einem langhaarigen, schmuddeligen Mädchen, welches sich wohl als Einzige durch den kaum sichtbaren Spalt eineinhalb Meter weiter oben in ihr kleines Reich hinein- und hinausquetschen kann.
Einer neuer (fast schon wieder vergangener) Tag wartete nur auf Léo.
~*~
Das Gemeinschaftszentrum war ein fester Anlaufpunkt in ihrem Tagesplan. Hier gab es immer Jemandem, der ihr für ein Lächeln oder auch zwei etwas zu Essen gab. Oder von dem sie sich etwas „borgen“ konnte- ohne Garantie, es der Person wiedergeben zu können. Doch schien es, als ob heute viele die gleiche Idee gehabt haben, denn der Ort war übervoll mit Menschen. Was dem Mädchen gar nicht behagen wollte.
Die Sonne neigte sich bereits wieder dem Horizont entgegen. Als eine der Letzten kam sie an einem unglaublich herausgeputzten Pfadpfinderjungen des guten Teils der Insel vorbei, der ihr freudestrahlend einen Flyer in die Hand drückte und ihr einen schönen Abend wünschte. Verwirrt lächelte sie zurück und konnte sich im Weitergehen kaum bei ihm bedanken, denn schon wurde sie unsanft am Arm gepackt. Léo fühlte sich merkwürdig ertappt, obwohl sie heute noch gar nicht dazu kam, sich irgendetwas auszuborgen und blickte schuldbewusst hoch zum Gesicht des Soldaten, der sie abschätzend musterte. Nach einem Moment meinte er kurz:
„Vierter Stock- da lang.“ Und schob sie damit in Richtung einer Treppe, die sie ohne große Rückfragen erklomm. So hatte sie auch gleich ein Vorsprung, falls dem Mann auffiele, dass sein Putensandwich den Besitzer mehr oder weniger temporär gewechselt hat.
Oben angekommen stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass sich hier kaum Leute aufhielten. In den unteren Stockwerken tummelten sich die Menschen wie die Pinguine während der Polarnacht. Und wenn es eine feststehende Regel seit letztem Jahr gab, dann die, dass große Menschenaufläufe nur Ärger bedeuteten.
Zwei Leute standen unten auf der Bühne und redeten seit ihrer Ankunft irgendetwas über … irgendetwas. Vielleicht eine Art Comedy-Show. Ihre Aufmerksamkeit galt aber mehr dem Buffett, oder besser gesagt dem Getränketeil des Buffetts, da der Rest nicht vorhanden war. Möglichst unauffällig trank sie eine kleine Flasche Orangensaft leer und nahm sich dann eine weitere samt zweier Flaschen Coca Cola mit zurück an ihren Platz. Der Saal grölte inzwischen zum größten Teil und so begann das Mädchen gut gelaunt ihre Leihgabe zu verspeisen, während die anderen ihrer Ebene sich anschickten, einen „Anführer“ zu wählen.
Ein dumpfe Erinnerung an den Flughafen von Sydney erwachte in ihr…
Berechtigungen
- Neue Themen erstellen: Nein
- Themen beantworten: Nein
- Anhänge hochladen: Nein
- Beiträge bearbeiten: Nein
-
Foren-Regeln