-
Ritter
Als Shelley nach der Verabschiedung von Niki und Gabriel wieder in das - selbst zu dieser späten Stunde immer noch überfüllt wirkende - Hole zurückkehrte und sich mit ihren Sachen in ihr sporadisches Häuschen begab, schlief sie friedlich, wie noch nie. Jedenfalls glaubte sie das. Der Kontrast zwischen Alltag und dem Tag, den sie im Hause Hugh Jackmans verbringen durfte, seinen lustig-skurrilen Geschichten lauschend, war ebenso gewaltig wie die Lust, eben diesen Tag 1 zu 1 zu wiederholen.
Nach einer ungewohnt traumfreien Nacht, begab sie sich am nächsten Morgen schon früh aus den zweifelhaften Federn, startete mit dem gleichen Elan in den neuen Tag, mit dem sie den vorigen beendet hatte. Es war fast ein bisschen kitschig - doch beim Heraustreten aus ihrer Unterkunft kamen ihr die Staubwolken und der Gestank nicht halb so schlimm vor, wie sonst. Dieser hier war etwas Besonderes, wenngleich es wohl in erster Linie ihre Einstellung war, die ihr dies versicherte.
Ihre treibenden Schritte führten sie in das - zu dieser Tageszeit noch nahezu leer gefegte - Gemeinschaftszentrum. Hier und da gab es jedoch einige Gestalten in unterschiedlichster Verfassung. Ein älterer, unrasierter Mann, der ganz offensichtlich betrunken war, führte ein... im besten Falle angeregtes Gespräch mit zwei Wachmännern. Seine Worte verstand sie kaum, wenn sie auch vermutete, dass es sich in weitestem Sinne um Englisch handelte. An der - immer dominanter und angriffsbereiter wirkenden - Pose der Wachmänner konnte sie erkennen, dass es ihrer Laune nicht zuträglich wäre, sich das Schauspiel weiter anzusehen, also trat sie tiefer ins Innere des Zentrums, in dem bereits die ersten kleinen Handelsstände öffneten. Es war wohl wirklich früh am Morgen, auch wenn Shelley das Gefühl für genaue Uhrzeiten und Wochentage so gut wie verloren hatte.
Vor ihr, auf einer etwas größeren, leeren Fläche sah sie eine junge Frau, vielleicht 35 Jahre alt, an deren Seite ein Kind ungeduldig umherwirbelte, dabei "Mach auf, mach auf, mach auf!", in Richtung eines Mannes schrie, der im Hintergrund in aller Seelenruhe Waren aus einer Kiste in große und breite Regale räumte. Eher zufällig erkannte Shelley die Wunde am Bein des kleinen Jungen, enttarnte sein wildes Herumspringen im Anschluss auch als eher humpelnd. Einen spontanen Entschluss fassend, trat sie näher.
„Entschuldigung?", kündigte sie höflich an und gewann damit sofort die Aufmerksamkeit der Frau, die in einem Gewand steckte, das, ähnlich wie ihr seltsamer Hut, eher an Westernserien wie "Dr. Quinn, Medicine Woman" und Co. erinnerte. Doch er verwies auch auf ihren offensichtlich gehobenen Stand im Camp. „Hatten Sie vor, mit dem Jungen zum Arzt zu gehen?" Die Frau musterte sie abschätzend. Mehr als noch zuvor war sie froh, am Vortag geduscht zu haben. Ihre Hände waren frei von Schmutz, in ihrer Jeans gab es auf Kniehöhe zwar ein Loch, aus dem Fransen standen, und auch das Top war eher gewöhnliches als edel, doch sie sah nicht wie die stereotypische Hole-Bewohnerin aus. „Ich wohne im Hole!", gestand Shelley dennoch. „Ich weiß, wie man medizinische Erstversorgung leistet, habe Alkohol für die Desinfektion..." - sie hob den Beutel mit dem medizinischen Werkzeug für einen Moment etwas an - „...kann Wunden nähen und bin wesentlich günstiger als ein Arzt." Sie lächelte vertrauenserweckend. „Nicht, dass eine Dame wie sie sich einen Arzt nicht leisten könnte, doch sie wissen vermutlich besser als ich, wie schwer man hier an echte medizinische Versorgung kommt. Und ein so reizender Junge soll doch weiterhin gesund bleiben und herumtollen können." Spätestens das Adjektiv "reizend" war eine Lüge gewesen. Das Kind kreischte dazwischen, sprang wie ein Berserker herum und zerrte wild geworden am Saum des Kleides seiner Mutter, doch ihr schienen Shelleys Worte zu gefallen.
[...]
Ein ganze Weile war vergangen und Shelley strahlte noch mehr als zuvor. Sie kam gerade erst wieder im Gemeinschaftszentrum an, nachdem sie von der - doch sympathischer als gedacht wirkenden - Frau und ihrer Teufelsbrut in das Village eingeladen wurde, um den Kleinen in der lauschigen Atmosphäre des Familiengartens zu behandeln. Sie hatte den Umstand genossen, dass er nach dem Schock des brennend-desinfizierenden Alkohols ruhiger geworden war und sich mit Nadel und medizinischem Garn um seine Wunde gekümmert. Jetzt war sie wieder hier und wusste bereits genau, wofür sie das Geld verwenden würde.
Einige Momente Ausschau haltend, erblickte sie dann schließlich, wonach sie suchte. Oder besser gesagt, nach wem sie suchte. Gabriel stieß, den Rucksack geschultert, vom Village-Zugang zur - inzwischen wieder mit zahlreichen Menschen gefüllten - ersten Ebene des Mittelpunkts von Camp Hope. Sofort lief sie ihm entgegen und bereits aus einigen Metern schien er sie zu erkennen. Die herzliche Umarmung zur Begrüßung ließ sie sich nicht nehmen, bevor sie ihn strahlend fragte: „Wie geht's dir?"
„Gut!" Er nickte und sein zwar uneuphorisches, doch charmantes Lächeln verriet ihr, dass das stimmte. „Ich wollte mich noch mal für gestern bedanken... das war wirklich schön!" „C'est trois fois r... ist schon gut!" „Jaja... jedenfalls... ich will mich wirklich bedanken. Gestern hab' ich nicht mal mitgeholfen, weil ich baden war, also..." - sie zog die einzelnen Geldstücke und Scheine - die Dame war doch recht großzügig gewesen - aus ihrer Jeanstasche und zeigte es Gabriel auf der flachen Hand - „... ich hab ein bisschen Geld verdient und möchte dich einladen... auf ein Eis oder so." „Shelley, ce n'est pas la pei..." - „Keine Widerrede. Ich lad' dich ein oder geb das Geld weg. Für was Anderes kommt es nicht in Frage!" Sie sah ihn eine Weile bestimmt und frech an, bis er sich schließlich geschlagen gab.
„Auf einer der oberen Ebenen gibt es ein schönes Cafe, glaube ich. Wir können ja da gucken!" Gemeinsam mit ihrem französischen Begleiter trat Shelley wieder zurück in die Mitte des Zentrums, wo sich der beeindruckende Glaspalast in den Himmel hob. Gerade sollte es nach oben gehen, als beide fast gleichzeitig auf die kleine Figur inmitten der Menschenmassen aufmerksam wurden, die einige Meter entfernt von ihnen stand, dabei nicht wesentlich sicherer wirkte, als am Vortag. Einige Schritte in seine Richtung und die beiden standen unmittelbar vor dem kleinen Vietnamesen.
„Hey, Niki. Gabriel und ich wollten gerade ein Eis essen. Willst du mitkommen? Ich bezahle!" „I-ich... äh.. Lust hätte ich schon, auf ein E-Eis... meine ich... a-aber..." „Jetzt komm schon!", sagte sie grinsend und fasste wie bereits gestern an den Saum seiner Jacke, übte durch ein unaufdringliches Ziehen leichten Druck aus. „Das ist ganz sicher ein tolles Cafe, ich hab schon viel davon gehört. Und du warst doch noch nicht auf den höheren Ebenen, oder? Da kannst du mehr von der Insel sehen!"
Halb freiwillig und halb genötigt schloss Niki sich den beiden an, auf dem Weg zur Eisdiele, irgendwo in den höher liegenden Stockwerken des Glaspalastes.
Berechtigungen
- Neue Themen erstellen: Nein
- Themen beantworten: Nein
- Anhänge hochladen: Nein
- Beiträge bearbeiten: Nein
-
Foren-Regeln