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Thema: Das Dorf Gottes 2-Tag 3

Baum-Darstellung

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  1. #7
    Das Morgengrauen beendete eine schlaflose Nacht.
    Nachdem Luise am vergangenen Abend Tyrells Wunde versorgt, ihm einen Schlafplatz angeboten und ihrem Vater das Abendessen gebracht hatte, war sie in ihr Zimmer geschlichen. Dort hatte sie sich auf den Boden gekniet, die Augen geschlossen und die Figurine des Erzengels Raphael fest an ihre Brust gepresst.
    Sie hatte nicht gewusst, wofür sie hätte sollen.
    Vielleicht für all die Toten.
    Für Merete, die unschuldige Einzelgängerin.
    Für Maria, die nonnige aber herzliche Nonne.
    Für Brunhild, die so etwas wie eine Mutter gewesen war.
    Doch der Gedanke daran hinterließ einen bitteren Geschmack in Luises Mund und schnürte ihre Brust zu.
    Ihr eigenes Wort hatte Meretes, ihr Schweigen Brunhilds Tod herbeigeführt.
    Und wer konnte wissen, ob nicht gerade ihr offenkundiges Vertrauen in Maria, zu deren Ermordung geführt hatte?
    So sehr Luise sich auch bemühte, ihr wollten so einfach keine Worte einfallen, welche sie in ihr Gebet einbetten konnte. Und sie verdiente es nicht, um Verzeihung zu bitten. Nicht bei all der Schuld, welche sie selbst trug.
    Genausowenig wollte sie aber für eine gerechte Bestrafung all der Schuldigen beten. Die vergangenen zwei Tage hatten sie zumindest eine bittere Lektion gelehrt: Solange Menschen sich einbildeten, Gerechtigkeit ausüben zu können, würde es nur in der Hinrichtung Wehrloser enden.
    Ein nie gekannter Hass flammte in Luise auf. All diese selbstgefälligen, scheinfreundlichen Gesichter, welche ohne das geringste Anzeichen von Reue ihre Nächsten verurteilten... ob sie nun Lumianer waren oder nicht, solche Menschen waren es, welche das Gift in der Gemeinschaft verbreiteten.
    Noch gut hatte Luise Marias Worte im Kopf:
    Was andere uns zutrauen, ist meist bezeichnender für sie als für uns.
    Ross, der sich selbst zum Hauptmann vorgeschlagen hatte, und unter dessen Führung alles den Bach hinunterlief.
    Peter, der immer so gottgefällig handelte und dann die freundliche Wirtin ohne jegliche Begründung an den Galgen wünschte.
    Und Noel.
    Noel...
    Noel, der Luise versprochen hatte, sie zu beschützen.
    Noel, der sie angefleht hatte, in seine Menschenkenntnis zu vertrauen.
    Noel, der sobald er seinen Irrtum erkannt hatte, direkt den nächsten Mord hatte begehen wollen.
    Worte konnten nicht beschreiben, welcher Zorn sich in Luise aufbaute, während sie diese drei Gesichter vor sich sah. Es war das erste Mal, dass sie so fühlte. Und es machte ihr Angst.

    Nachdem das Mädchen lange dort auf dem Boden gekniet hatte, war sie zu einem Entschluss gekommen.
    Was auch kommen würde, wer auch immer sich als Lumianer herausstellen würde oder nicht - diese drei würden nicht einfach so davon kommen.
    Und wenn es Luise ihr Leben kostete.
    Langsam hatte sie sich erhoben und war in ihr Nachtgewand geschlüpft. Aber kein Auge hatte sie zu tun können. Vielleicht würde das hier ihre letzte Nacht sein. Vielleicht würde man in der Nacht auch sie ermorden. Oder man würde am folgenden Tag zu der Entscheidung kommen, dass sie an den Galgen gehörte.
    Seltsamerweise hatte Luise keine Furcht bei dem Gedanken verspürt.
    Nur Bedauern, dass Adalberts Apotheke dann niemanden mehr hätte.
    Schließlich hatte sie das einsame Wachliegen nicht mehr ertragen können, hatte sich wieder angekleidet und war in die Apotheke gegangen, wo Tyrell anscheinend schon eine ganze Weile am Schlafen gewesen war.
    Leise hatte sie sich neben ihn gesetzt. Die Nacht war schon weit vorangeschritten, in wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen. Gedankenverloren verbrachte Luise den Rest der Nacht damit, den in ihrem Schoß schlafenden Kürbis zu kraulen. Sie selbst tat kein Auge zu.

    Im Morgengrauen erwachte nun auch Tyrell. Um ihre Schlaflosigkeit nicht erklären zu müssen, gähnte Luise und rieb sich die Augen. Anscheinend kaufte Tyrell ihre gespielte Müdigkeit ab und beide beschlossen, zuerst auf den Dorfplatz zu gehen.
    Die heutigen Neuigkeiten nahm Luise ungewöhnlich ruhig auf. So viele ihr wichtigen Menschen hatten sie in den vergangen Tagen verlassen. So viele Löcher hatten sich in sie gefressen. Sie war auf alles gefasst gewesen. Irgendwie erschien ihr der Tod dreier weiterer Menschen nicht mehr so schockierend. Es war etwas geworden, das eben passierte. Das man hinnehmen musste.
    Ein wenig grimmige Zufriedenheit machte sich jedoch in ihr breit, als sie sah, dass Ross verschwunden war. Und Tyrell zu seinem Nachfolger ernannt hatte.
    Was sie dagegen überraschte, war Rekon von einem Pfeil durchbohrt vorzufinden. Anscheinend war er Lumianer gewesen, was sie ja bereits vermutet hatte. Aber wo sich doch gestern niemand ihrer Wahl angeschlossen hatte, wer konnte der mysteriöse Mörder sein?
    Mehr zu sich selbst als zu Tyrell murmelte Luise: "Ob Noel das getan hat?" Ein leises, bitteres Lachen, welches ihr selbst Angst einjagte, entwich ihrem Mund. Das würde ihm ähnlich sehen. Vielleicht war das seine Art, ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Oder sie zu beschützen.
    Tyrell sprach gerade seinen Verdacht gegen Lumi aus. Luise war nach den vergangenen Tagen alles andere als sicher, was Sektenangehörigkeit betraf. Allerdings wollte sie sich dieser Anschuldigung, für die sie selbst keine Begründung sah, nicht anschließen.
    Als Tyrell seine Rede beendet hatte, sprach Luise leise und tonlos: "Ich weiß nicht... ich w-weiß nicht, wem ich vertrauen kann und wem nicht. Und e-erst recht weiß ich nicht, wer Lumianer ist und wer nicht. Aber..." Ihre Augen blitzten zornig auf und ihre Stimme begann zu zittern. "Was i-ich weiß ist, d-dass gestern j-jemand Unschuldiges e-ermordet wurde. V-von ihren eigenen G-gästen, die sie f-freundlich bewirtet hat. V-vielleicht i-ist Peter (Layana) kein L-lumianer - trotzdem hat er ohne auch nur den Versuch einer Rechtfertigung Brunhild für den Galgen nominiert. U-und das kann ich nicht ertragen. I-ich möchte glauben, dass e-er zu den Lumianern gehört. D-denn sonst w-würde das wohl bedeuten, d-dass unser Dorf vekommen und von seinen eigenen guten Menschen verflucht ist..." Sie hoffte, dass andere sich ihr anschließen würden. Immerhin würde dann kein völlig Unschuldiger gehenkt werden.
    Und was Noel betraf - wenn er tatsächlich so gut war, wie er behauptete, würden ihn sicher bald die Lumianer holen. Oder er würde sterben in dem noblen Versuch, Luise zu beschützen.
    Ihr war es mittlerweile gleich. Nur sein Gesicht wollte sie nicht mehr sehen.
    Ohne sich umzublicken ging sie zurück zur Apotheke. Adalbert brauchte sie. Und ihm konnte sie bedingungslos vertrauen.

    Geändert von Zitroneneis (09.04.2013 um 21:41 Uhr)

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