"Danke, Noel", sagte Luise und meinte damit nicht nur seine aufmunternden Worte sondern auch den warmen Mantel, den er um ihre Schultern gelegt hatte. Die nasse Kälte hier draußen war mittlerweile beinahe unerträglich und ein Zittern durchlief ihren Körper. Und wenn sie Noel in seinem dünnen Hemd so betrachtete, bekam sie direkt ein schlechtes Gewissen. "Ähm... ich weiß nicht, w-wie es mit dir aussieht, a-aber ich würde gerne ins W-warme und etwas essen. W-wenn du magst können wir ja ins Wirtshaus gehen."
Als sie die Tür zur Schankstube öffnete, war von Brunhild trotz der Uhrzeit nichts zu sehen. Überhaupt war der Raum menschenleer, nicht einmal Rüdiger war zu sehen.
Eigentlich nicht überraschend, immerhin hatten die meisten Menschen sich zum Dorfplatz begeben. Wahrscheinlich war man schon mit Marias Beerdigung beschäftigt.
Aber Luise wollte daran nicht teilhaben. Sie wollte nicht sehen, wie die leblose Nonne von der kalten Erde verschluckt wurde. Irgendwann, vielleicht in wenigen Tagen, vielleicht in einem Monat oder in einem Jahr, würde sie in Ruhe Abschied von Maria nehmen. Dann würde sie auf ihrem Grab die schönsten Blumen anpflanzen und sie um Vergebung bitten. Und weinen würde sie.
Aber dieser Zeitpunkt war nicht jetzt. Noch konnte Luise nicht völlig loslassen.
Ihr Blick fiel auf die den Fußboden und erschrocken zuckte die Apothekertochter zusammen als ihr eine Erkenntnis kam.
"S-sieh mal, Noel", wisperte sie und beugte sich nieder, um die Flecken zu begutachten. Es handelte sich um Blut, zweifelsohne. Aber die Frage war, um wessen Blut.
Besorgt und nervös folgte Luise der Spur, welche zur Treppe führte. Maria lebte doch im Kloster. Hatten die Lumianer womöglich doppelt zugeschlagen?
Brunhild? Lumi? Ging es den beiden gut?
Noel gar nicht weiter Beachtung schenkend, folgte Luise der Blutspur und eilte die Treppe hoch. Sie war noch nie hier gewesen, also wusste sie nicht, wessen Zimmer es war, vor dessen Tür die Spur verschwand.
Zaghaft drückte Luise die Tür auf, mit dem Schlimmsten rechnend.
Was sie fand, war in der Tat alles andere als ein schöner Anblick. Der Raum wirkte, als hätte jemand versucht, ihn Rot zu streichen und dabei auf sehr unglückliche Weise den Farbeimer umgeworfen.
Blut war auf dem Boden, auf dem Bett und selbst die Wände wiesen Spritzer auf.
Die Luft war erfüllt vom unverkennbaren, übelkeiterregenden Geruch.
Aber niemand war zu sehen. Kein regloser Körper lag irgendwo herum und die Spuren wiesen drauf hin, dass die Leiche bereits weggeschafft worden war. Hatte Maria etwa im Wirthaus die Nacht verbracht?
Bestätigt wurde Luises Verdacht, als sie einen glänzenden Gegenstand auf dem Boden entdeckte. Einige rote Tropfen waren auf das silbrige Metall gespritzt, aber es handelte sich eindeutig um Marias Kreuz. Es war wohl während des Überfalls der Lumianer von ihrem Hals gerissen worden.
Die Nonne hatte Luise einst erzählt, dass es ein Erinnerungsstück an ihre Mutter war, der es vor deren Tod gehört hatte. Maria hatte es immer getragen. Sie hatte lächelnd gesagt, dass es ein Symbol dafür war, dass sowohl Gott als auch ihre Mutter immer über sie wachten.
Vorsichtig griff Luise nach dem Schmuckstück und wischte mit ihrem Ärmel das Blut ab. Dann legte sie sich das schmale Kettchen mit dem kleinen Anhänger um den Hals.
Es würde ihr eigenes Erinnerungsstück an Maria sein. Es würde zeigen, dass ein Stück von ihr in dieser Welt geblieben war. Es würde verhindern, dass die nonnige Nonne einfach in Vergessenheit geriet.
Und es würde auch eine Mahnung an Luise selbst sein. Damit sie stets daran dachte, so zu handeln, wie Maria es gewollt hätte.
Das war sie ihr schuldig.
Zitternd richtete Luise sich wieder auf. Sie hatte während ihrer Hilfsstunden in der Apotheke schon viel Blut gesehen, aber niemals so viel auf einmal. Und niemals in einem derart abstoßenden Zusammenhang. Sie wollte den Raum einfach nur verlassen.
An Noel gewandt sprach sie: "W-wir müssen Brunhild finden. B-bestimmt hat sie das hier noch nicht gesehen u-und s-sie sollte es bald erfahren."