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Held
Der Mond leuchtete durch das Fenster, und eine einzelne Kerze brannte und flackerte auf dem Nachttisch. Ansonsten war das Zimmer stockenfinster.
Maria bemerkte nicht, wie es im Gasthaus langsam still wurde, so intensiv war sie ins Gebet vertieft.
Sie kniete vor dem Bett und wiederholte einen einzigen Satz, unzählige Male, und schien damit nie aufhören zu wollen, während ihr bei jedem Mal weitere, salzige Tränen die Wange heruntertropften:
"Herr, vergib, dass ich Merete anklagte für etwas, was sie nie tat. Vergib, dass ich ihres Todes schuldig bin."
Irgendwann erlangte sie einen Müdigkeitsgrad, in dem sie einfach mitten im Satz, dem harten Boden zum Trotz, einschlief. Ihr Kopf fiel auf ihr Bett, ihr Rücken krumm, und ihre Knie würden am nächsten Tag dermaßen schmerzen, dass sie kaum laufen könnte. Doch das sollte Maria nicht wahrnehmen. Zu diesem Zeitpunkt noch aus Müdigkeit...
Da stand Merete vor ihr, stumm und mit Entsetzen im Gesicht. Es wirkte, als würde sie nach Atem ringen, doch Maria hörte keinen Ton, nicht ein Geräusch drang ihr an die Ohren. Da war nur Merete, die nach Atem rang. Maria griff sich reflexartig an den Hals, und als wäre dort ein Schalter gewesen, wurde es schlagartig dunkel. Schwarz. Tiefschwarz. Nichts zu sehen. Merete war verschwunden.
Etwas riss Maria herum. Dort sah sie die Versammlung vom Vorabend vor ihren Augen. Als ob sie erneut auf dem Platz stünde, nur dass sie diesmal gleich als Schuldige hängen würde.
"DU BIST SCHULD! LUMIANERIN!", riefen die Dorfbewohner, die alle die Gestalt Meretes hatten. Ihre Worte durchrissen die Stille, schrill und laut drangen sie in Marias Kopf ein und hallten irgendwo wieder. Ihr Echo schien so ewig zu erklingen, und doch hielt es nicht lange an. Denn in dem Moment riss Maria ihre Augen auf.
Sie lag mit dem Rücken auf dem Boden, ihre Knie schmerzten vom langen Beten am Vorabend. Ihr Atem, er schien sich nicht beruhigen zu wollen - und das nächste, was Maria wahrnahm, war eine dunkle Gestalt über ihr. Es war so dunkel... War da wirklich jemand oder bildete sie sich das ein? Immerhin kannte sie diesen Raum nicht besonders gut. Da atmete doch jemand. Oder war es Marias eigener Atem? Plötzlich blitzte etwas auf und noch ehe die Nonne erkannte, was gerade geschah, raste das funkelnde Ding geradewegs auf sie zu und rammte in ihre Brust. "Herr!", keuchte sie. Dann drehte sich alles. Ein qualvoller Schmerz durchfuhr sämtliche ihrer Glieder, und das Herz, das genau getroffen war, pumpte, ein paar wenige, letzte Male, kräftig.
Maria spürte, wie das Messer in ihr umgedreht wurde, und das Leben aus ihr wich. Schwach fühlte sie feste Griffe, die sie an den Armen und Beinen packten, und sie aus dem Raum zerrten. Zu schwach, um sich zu fragen, wohin sie gebracht wurde. Das war's.
Maria nahm nichts mehr wahr, was um sie herum geschah. Stattdessen sah sie ein letztes Mal vor ihrem inneren Auge all die Personen, die ihr wichtig waren: Ihre Mutter, die sie nie kennen gelernt hatte, sah sie so deutlich vor sich, als hätte sie sie jeden Tag ihres Lebens gesehen. Sie sah Justus. Konrad. Luise. Peter. Sämtliche Dorfbewohner. Selbst Merete war da. Doch Maria spürte nichts mehr. Es war keine Reue in ihr übrig, keine Wut, und keine Angst.
Sie war frei. Es war vorbei. Sie war tot.
Geändert von Wencke (28.03.2013 um 22:55 Uhr)
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