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Thema: Das Dorf Gottes 2-Tag 2

  1. #41
    Mit stumpfem Blick beobachtete Luise, wie Brunhild die eigene Verzweiflung weggestoßen hatte und wieder zu der gutmütigen Wirtin geworden war, die jeder kannte.
    Sie war keine Lumianerin. Konnte es unmöglich sein.
    Aber wie sollte sie, die kleine Apothekertochter, ihnen das klar machen? Erwachsene waren immer so. Hatten sie einmal ihre Schlüsse gezogen, ließen sie sich nicht dazwischenreden. Erst recht nicht von einem Kind.
    Aber was konnte sie schon bewirken? Sie konnte Brunhild nur retten, indem sie einen anderen dem Tode weihte. Womöglich einen Unschuldigen.
    Und das konnte sie nicht wagen, wenn sie sich nicht sicher war.
    Also schloss sie sich stumm der Menge an, welche Brunhild zum Galgen geleitete.
    Die Wirtin wirkte seltsam gefasst. Mit einem Lächeln drehte sie sich zu Luise, legte ihr das Schaffell um die Schultern und nahm Abschied mit den Worten:
    “Du gutes Kind, er hätte sicher gewollt, dass ich es Dir gebe. Bitte lass Dich nie vom Bösen verleiten. Wenn mir je eine Tochter vergönnt gewesen wäre, sie hätte exakt Dein Ebenbild in Äußerem wie Innerem sein sollen.“
    Sich nicht vom Bösen verleiten lassen? Eine Tochter im Äußeren und Inneren?
    Luise wollte schreien. Wollte ihr sagen, dass sie letztendlich auch eine Sünderin war. Dass sie es nicht wert war, ihre Tochter genannt zu werden.
    Aber auch, dass Brunhild seid Bridas Verschwinden für sie das gewesen war, was einer Mutter am Nächsten kam.
    Doch sie brachte kein Wort hervor. Kein Wort des Abschieds oder des Dankes. Luise sah einfach stumm zu, wie der Strick um Brunhilds weichen Hals gelegt wurde.
    Hörte die Worte für Konrad.
    Seltsam... vor zwei Tagen war sie noch entsetzt gewesen, bei dem Gedanken, jemand könne ihrem Vetter seine Liebe schenken. Nun wünschte sie sich nichts sehnlicher als dass Konrad hier wäre, um Brunhilds Worte zu hören. Doch als sie in Richtung Wald blickte, kam kein kräftiger, blonder Mann auf einem schwarzen Pferd namens Kobold angeritten.
    Und als Luise sich wieder umdrehte, hörte sie nur noch das Geräusch eines fallenden Körpers. Sah nur noch, wie Brunhild leblos in der Luft baumelte.
    Nun war auch sie fort.
    Luise hörte das aufgeregte, lauter werdende Gemurmel um sie herum. Man hatte eine Unschuldige gehängt. Schon wieder.
    Eine Weile stand das Mädchen einfach kraftlos da und ließ alles um sich herum einfach geschehen.

    Doch, wie so oft in den letzten Tagen, gab es jemanden, der sie aus ihrer Apathie riss.
    Noel.
    Noel, der ihr vor wenigen Stunden noch hatte versichern wollen, was für ein guter Menschenkenner er war.
    Noel, der kurze Zeit später in einem Anflug von Dramatik das ganze Dorf gegen Brunhild aufgehetzt hatte.
    Noel, der nun drauf und dran war, Tyrell den Hals aufzuschlitzen.
    Ein Schwall von Zorn brach in Luise los. Ein Gefühl, welches sie nie zuvor gekannt hatte. Ein Gefühl, dass ihr mehr Kraft gab, als sie jemals vermutet hätte. Sie hielt es nicht zurück. Schrie es einfach heraus:
    "HÖR AUF!"
    Noel ließ von Tyrell ab und starrte das Mädchen sichtlich betroffen an.
    Luise ließ sich nicht davon beeindrucken. Mit großer Mühe, ihren Emotionsausbruch zumindest ein wenig im Griff zu halten, sprach sie:"Noel... h-hör damit auf... du hast schon genug... angerichtet."
    Ihre Stimme zitterte. Aber es lag nicht an ihrer Scheue. Es lag an der nahezu unkontrollierbaren Wut, die man in jedem Wort hören konnte.
    Noel zog nun ab, mit dem Gebaren eines geschlagenen Hundes.
    Dennoch ließ er sich nicht daran hindern, kurz vor Luise stehen zu bleiben und ihr einen Gegenstand in die Hand zu drücken:
    "Das habe ich, seit wir uns kennen, kleine Elfe. Es ist... mein größter Schatz. Aber jetzt verdiene ich es nicht mehr. Es gehört dir."
    Bevor Luise eine Antwort geben konnte, fügte er noch mit tonloser Stimme hinzu:
    "Gib acht, dass du heute Nacht eine sichere Schlafstätte findest, ja...?"
    Luise antwortete nicht sofort. Doch nachdem Noel einige Schritte gegangen war, schleuderte sie das erhaltene Amulett mit aller Kraft zu Boden, wo es im Schlamm versank.
    "Ich bin nicht deine Elfe! Und deinen größten Schatz kannst du behalten... ich möchte keine Geschenke von jemandem wie dir."
    Sie achtete nicht auf eine Reaktion. Blickte nur wild umher.
    Ihre Augen blieben an Ross und Peter hängen. Die beiden, die so viel Vertrauen im Dorf genossen. Luises Stimme hatte sich wieder etwas beruhigt, aber ihre Worte trieften vor Bitterkeit: "So... hat es gut getan, eine Unschuldige zu ermorden? Seid ihr zufrieden damit, eine Frau tot zu sehen, die sich immer um das Dorf gekümmert hat? Die selbst den unausstehlichsten Gästen Bier eingegossen und selbst kurz vor dem sicheren Tod nicht ihre Freundlichkeit verloren hat? Das ist euer Dank!?" Luises Hände ballten sich zu Fäusten. "Vielleicht wollt ihr ja mich als nächstes hängen... falls ihr nicht in Wahrheit zu dieser Sekte gehört, und beschließt, mich heute Nacht zu beseitigen. Noel scheint ja euer treuer Schoßhund zu sein. Und wenn er mich beschützen will, kann ich mich wahrscheinlich besser auf meinen Fuchswelpen verlassen."

    Ihre Rede wurde von Tyrell unterbrochen, der sie umarmte und ihr auf den Rücken klopfte. Erst jetzt bemerkte Luise, dass ihr die ganze Zeit Tränen der Wut und der Verzweiflung über die Wangen gelaufen waren.
    Sie hörte seine Worte der Warnung - und diesmal verstand sie, was er meinte.
    Dann sah Luise, dass er blutete. Entschlossen fasste sie Tyrells Hand. "Komm mit! Ich kann das verbinden und außerdem einer Entzündung vorbeugen." Dann fügte sie noch hinzu. "Danke... danke, dass du mich gewarnt hast... auch wenn ich es wohl zu spät berücksichtigt habe... und danke, dass du dich für Brunhild eingesetzt hast. Mir... hat dazu der Mut gefehlt..."
    Dann betraten die beiden die Apotheke.

    Geändert von Zitroneneis (04.04.2013 um 13:02 Uhr)

  2. #42
    "Verfickte Scheiße!"
    Unter lautem Scheppern zerbrach ein halbvoller Krug an der Wand.
    "Nichts. Was. Ich. Mache. Bringt. Irgendwas!" Bei jedem Wort flog ein weiterer zufälliger Gegenstand durch die Taverne, während Tränen an ihren Wangen herunterkullerten, manchmal wild von ebenjenen flogen und leise platschend auf dem Boden landeten, unhörbar für Lumi, die in völlige Rage verfallen war. Sie schnappte nach einem Eimer und hielt ihn unter den Zapfhahn des Dünnbierfasses, was Brunhilda erst gestern angebrochen hatte, füllte ihn zur Hälfte und setzte ihn an. Einige kräftige Schlücke später landete auch der halbvolle Eimer in der Mitte des Raums und der Restinhalt ergoss sich schäumend am Boden. Mit Trauer und lange unterdrückter Wut in der Stimme machte sie ihrem Ärger Luft, äffte Horst nach, torkelte halbtrunken zwischen den Stühlen herum und hielt dabei wahrscheinlich das gesamte Dorf wach.
    "Nun, ich glaube Brunhilda ist eine Lumianierin weil ich habe Ahnung!", dann Noel. Der verkackte Noel. "Nem, nem, nem - IIIIICH habe Ahnung und lege Einspruch ein und änder' mein Meinung weil ich KEINE BESCHISSENEN EIER HABE!!!", sie rannte zur halboffenen Tür und brüllte es noch einmal hinaus in die Nacht: "Hörst du das, du Kurafi [•••••••••]? Fick dich Noel, ja? Dich soll der Blitz beim Scheißen treffen! Und den blöde Horst gleich mit, ja?!" Sie zog mit Schmackes die Tür zu, das laute Donnern hallte in den Gassen wider. Sowohl Rudi der doofnaive Hund als auch Djángo schienen sie wie von Angst erstarrt anzusehen und gaben keinen Ton von sich, während die Ungarin das komplette Möbiliar auf den Kopf stellte.

    Schlaff ließ sie sich in einen der wenigen Stühle fallen, die sie noch nicht durch die Gegend geworfen hatte, emotionslos "Miért? Miért, Brunhilda? [Warum?]" von sich gebend, ins Leere schauend. Meretes Tod war traurig, ja - aber Brunhildas Tod hatte Lumi das Herz gebrochen. Jetzt gab es wirklich keinen guten Grund mehr hierzubleiben. Und die Taverne hatte sie ihr auch noch vermacht. Verdammt.
    "Ich zieh' einfach Preise an für alle Rothaarigen, dann verdien' ich mir goldenes Nase...", murmelte sie halblaut, blinzelte langsam. Das gesamte dorf hatte sich gegen die Frau gestellt, die niemals auch nur im Ansatz irgendetwas Böses an sich hatte. Und wenn das heir so endete wie...
    Wie vor wenigen Tagen...
    ... dann würde am Ende niemand übrigbleiben. Das war doch der Sinn oder?
    Nicht gläubig genug oder zu gläubig. Gibt kein Dazwischen.

    Sie nickte mit dem Kopf auf dem Tisch ein. Die Vorratskammer war bereits aufgeschlossen, somit konnten zumindest weder Djángo noch der blöde Hund verhungern. Sabber lief ihr aus dem Mundwinkel auf den Tisch. Die Schwärze vor ihren Augen verwandelte sich in Bilder, die rasend schnell an ihr vorbeizogen.

    Ein blutiger Dolch.
    Ein Kruzifix in den Boden gemalt.
    Ein blondes Mädchen, das gerade 17 geworden war.
    Eine Notiz.

    "Deus lo vult"

    Drei Tote innerhalb von zwei Tagen.
    Und sie haben sie verjagt.
    Nach all den Jahren vertreibt der Szábo-Clan die Tochter des Anführers.

    Ihr Vater.
    Gebrochen.

    Ihre Mutter.
    Dolch im Herzen.

    "Deus lo vult".

    Zigeunerhetze als Sport seit fast einem Jahrhundert.
    Die Kirche.
    Die Christen.
    Und ihre militanten Söhne und Töchter.
    Und das Mädchen mit dem verfänglichsten Namen vertreiben sie weil sie denken sie wäre...

    "Luminitsa heißt 'Die Erleuchtete'. Wir haben dich so genannt, weil durch dich etwas wiedererweckt wurde, was unserer großen Familie lange fehlte. Lumi - meine Kleine. Du wirst immer leuchten. Immer. Und niemand wird dir jemals dieses Leuchten wegnehmen können, egal wie oft sie auf dir rumhacken wegen deines Auges. Egal, wie oft sie dir böse Namen geben. Egal, wie oft sie dich, mich oder deine Mama durch den Dreck zu ziehen versuchen - du bist eine waschechte Szábo. Stolze Verfechter der militanten katholischen Kirche rund um Budapest seit mehreren Generationen. Und ich habe dir hier jemanden mitgebracht, damit du stets daran erinnert wirst, wieviel du mir - uns bedeutest. Sag' hallo zu... hm, wie willst du ihn nennen?"
    "Ich... ich... ich weiß nicht, ich..."
    "Oh, entschuldige - überrumpeln wollte ich dich jetzt nicht mit all der Scheiße, ich meine..."
    "János! Du sollst vor ihr verdammte Scheiße nochmal nicht fluchen!"
    "Ich... ich hab' verdammte Scheiße nochmal nicht vor ihr geflucht! So einen Scheiß würde ich niemals machen, Schatz, das weißt du!"
    "János! Stell das 'Scheiße' vor ihr ein! Sie ist erst zehn Jahre alt!"
    "Lumi hat bis sie drei war gedacht, dass 'Scheiße' ihr Name wäre! Es war ihr erstes Scheißwort, verdammte Scheiße!"
    "János!"
    "Ágnes! Du zerstörst gerade einen Scheiße nochmal wichtigen Moment in ihrem-"
    "Djángo."
    [peinliche Pause]
    "Djángo. Klingt gut, oder?"
    "Wo hast du das Wort aufgeschnappt?"
    "Oma Csilla hat mir davon erzählt - es heißt sowas wie 'Ich erwache' oder so. Aber er klingt wunderschön für einen Marder, oder?"
    "Ja. Haha, ja, das klingt wunderbar, Lumi! Das ist der perfekte Name für den kleinen Racker! Djángo. Hörst du das, Ágnes? - Djángo!"
    "Ja, das klingt wunderschön!"

    Und dann ließen sie sie Jahre sptäer einfach so zurück, ohne eine Spur zu hinterlassen, ohne einen Grund.
    Es war nicht ihre Schuld, dass Mama starb.
    Mama starb weil irgendjemand es so wollte, weil irgendjemand, irgendwer...

    Kruzifix in den Sand gemalt.
    "Deus lo vult".
    Dolch in ihrer Brust.
    Zwei aufgeknüpft am Apfelbaum.
    Angst.
    Schrecken.
    Eine Welle aus Tod und Verderben zieht über sie hinweg auf der Flucht vor der Kirche.
    Blendet.
    Tritt einem kleinen Kind solange ins Gesicht bis sie links nichts mehr sieht.
    Lässt ihre Familie denken sie wäre...

    Verflucht.

    Dolch in ihrem Herzen.
    Kruzifix gemalt in ihre Gedärme mit einer heiß brennenden Klinge, die "Ketzer" schreit.
    Karten zinkt.
    Verteufelt.
    Mordet.

    "Deus lo vult".


    "AH!"
    Schweißgebadet erwachte sie, mitten in der Nacht, nur von einem vor ihr auf dem Tisch schlafenden Djángo und dem hundsdummen, vor ihr auf dem Boden liegenden und laut hechelnden Rudiger geäugt.
    "Traum. Nur ein Traum.", beruhigte sie sich selbst, wischte sich Speichel vom Mund und Schweiß aus ihrem Gesicht und zog den ebenfalls schweißgebadeten Umhang aus, um ihn zum Trocknen über die Bartheke zu werfen. Jetzt war sie zwar nur in weißem Leibchen und schwarzem kurzen Rock gekleidet, aber im Moment war eh egal, was sie tat. Sie würde zu dieser ganzen Sache nur noch dazu beitragen können, dass noch mehr Leute die nichts verbrochen hatten sterben würden.

    Sie würde heute nacht nicht mehr schlafen. Stattdessen begann sie, langsam mit einem Besen und akkuter Hyperaktivität bewaffnet die Taverne wieder aufzuräumen, die sie so zugerichtet hatte.

    Geändert von T.U.F.K.A.S. (04.04.2013 um 19:31 Uhr)

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