~*~ Der alte Wildpfad ~*~
Seine Füße fanden von selbst den alten Wildpfad, den er als Junge so oft gelaufen war. Er folgte dem Lauf des Flusses die Sägemühle hinab. Dem Tode entkommen wollte er noch einen Abend erfüllt leben. Wirklich und gut leben. Merete war aus dem Wald gekommen, nachdem sie den merkwürdigen Schweif gesehen hatten. Viktoria war sich nicht sicher gewesen ob es ein gutes Zeichen war. Aber Konrad war nicht auf den Kopf gefallen. Es hatte etwas für Merete bedeutet. Etwas wichtiges. Es hatte nicht mit der Hauptmannswahl zu tun gehabt. Vielleicht ein Zeichen zur Abwehr des Bösen? Nein... er hatte die Geschichten gehört, das alte Könige im Norden auf See verbrannt wurden. Brandpfeil. Ein Zeichen. Ihr Zeichen.
Tribut.
Er stolperte nicht, selbst als er die Augen schloss und im Lauf nachdachte...
Es roch noch nach den Torffeuern.
Schau das du ins Warme kommst.
Der Traum von seiner Tante.
Ich bin sicher, die Krankheit die meinen Onkel befiel ist vor allem die Einsamkeit durch ihren Verlust. Wüsste er von ihrem Verbleib... Wäre nicht diese rätselhafte Nominierung gewesen, hätte ich Merete darum gebeten mich in den Wald zu begleiten. Ross hätte es erlaubt. Er ist jünger als der alte Hauptmann und kennt den Wald.
Es roch nach frischem Harz.
Lauf nicht zu weit.
Du hast Igel, Meisen und Rehkitze angeschleppt, da warst du nichtmal so hoch wie die Tischkante. Ständig barfuß und mit diesem schrecklichen Lodenhut mit Federn und Steinen daran auf deinem strubbeligen Haar. Deine Tante hat oft versucht es dir abzuschneiden.
Es roch nach reinem Schnee vermengt mit aufgewühlter Erde.
Denn dort fressen dich die wilden Tiere.
Aber du bist auf und davon gehüpft um bei der Mühle im Nachbardorf Kröten zu fangen oder einfach nur mit den Möhren im Klostergarten zu reden um ihnen beim wachsen zu helfen.
Es roch nach den ersten zarten Blüten.
Denn dort holt dich der 3-Augen Bill.
Sie kam im selben Sommer hierher wie ich. Doch wir haben nie ein Wort gewechselt.
Mondwasser und klare Luft.
Und der Wyrm verschleppt dich in seinen Hort.
Aber sie war hier zuhause, wie ich hier zuhause bin.
~*~ Am Waldsee ~*~
Es war merkwürdig leicht gewesen an der Kirche vorbei zu gehen, die ihm nun verwehrt war. Er brauchte keinen heiligen Boden um bei Gott zu sein. Der Wald war seine Kathedrale. Die Räucherfässer und das Klappern der Gebetsketten fehlten zwar, aber der Wald lag still und nicht minder heilig da.
Die Laterne stellte er neben seinen Stiefel – da erst fiel ihm auf das er in den Fußabdrücken eines anderen stand. Er neigte den Kopf, sicherte seinen Stand in den kleinen Abdrücken und setzte die umwickelte Bolzenspitze an der Laterne in Brand. Dann schickte er mit ruhigen Händen einen Stern hinauf zum Himmel zusammen mit einem Gebet:
"Möge ihr letzter Wunsch in Erfüllung gehen." Er war nie ein besonders guter Schütze gewesen – die Sehne der kleinen Armbrust schnellte zurück und knallte ihm gegen die Hand und der Feuerbolzen wackelte bedenklich und stieg nur knapp über die Baumwipfel ehe ihn die Mitte des Sees verschluckte. Er hoffte nur das Meretes Seele den Schein gesehen hatte und lächelte.
Die dunklen Baumwipfel rauschten. Die Schaukel, die er als Kind gebaut hatte, hing tief in den See hinab. Seine Beine tauchten bis zu den Knien ein, seine breiten Schultern drückten die Hanfseile sacht auseinander als er auf das Brett kletterte. Seine Hand mit dem Abdruck der Sehne ins kühle Wasser hielt. Und sich vom Windspiel und vom See trösten ließ. Es war als würde er alte Freunde treffen.
Freude vermengt mit Leid, weil er verpasst hatte ihrer Geschichte zu lauschen.
Glück, Glanz und Ruhm verschwinden im Nichts wie ein Tropfen der ins Wasser fällt.
Eine kreisförmige Welle verläuft am Horizont. Es bleibt nichts zurück.
Konrad senkte den Kopf zum Gebet. Er atmete tief und ruhig und fragte Gott um Rat, wie er es immer tat wenn ihn etwas beunruhigte. Und er rief seinen Schutzpatron an:
Ad te beate, Josef. Sieh auf das Volk, das Jesus Christus mit seinem Blut erworben hat, und hilf uns mit deinem mächtigen Beistand. Du Beschützer der heiligen Familie, wache über unser Heim. Halte fern von uns alle Ansteckung durch Irrtum und Verderbnis. Du starker Helfer, steh uns bei im Kampf mit den Mächten der Finsternis. Nimm uns in deinen Schutz, dass wir nach deinem Beispiel und mit deiner Hilfe heilig leben, selig sterben und das ewige Leben erlangen... führ' Meretes Seele sicher heim an den Ort an dem ihre Anvertrauten auf sie warten.
„Besser ich als ein anderer.“
Deus Io vult - Gott will es.
„Ich hätte dasselbe tun sollen.“, die Worte kamen heraus wie ein Schluchzen. Sie war beispiellos vorangegangen. Doch er selber war von Furcht erfüllt gewesen es ihr gleichzutun. Zur eigenen noch eine fremde Stimme zu haben die in die Waage fällt...
Wie können sie wissen was Gott will? Sie können das heilige Wort lesen, Konrad. Du kannst es nicht. Gott spricht zu mir durch seine Schöpfung. Er ist gütig. Er vergibt, wo der Pfarrer mir nicht vergeben kann. Er ist größer als sie.
Ein Käuzchen raschelte mit seinem Gefieder. Es war Frieden. Für einen Moment. Der Mond floss zwischen dem Geäst hindurch, wisperte Geschichten im aufkommenden Nebel auf dem Leuchtkäfer dahinglitten. Kein Glasfenster könnte schöner sein oder reicher an Geschichten und Trost.
Lass die große Leere nicht in dein Herz, Konrad Mattisson. Die Welt ist gefährlicher geworden. Und allüberall ist Liebe nun verwoben mit Trauer. Und doch besteht Hoffnung, solange Vertrauen zu finden ist. Lass dir das Herz nicht schwer werden. Geh nun und ruh', denn du bist erschöpft nach so viel Plagen und Trauer. Schlaf in Frieden heut' Nacht.
~*~ Heimwärts ~*~
Er blickte zurück auf den Wald der sich nach Westen erstreckte. Irgendwo dort fand sich der Schlüssel – die Wahrheit über das Verschwinden seiner Tante. Er würde Rekon fragen. Ihm hatte Merete vertraut. So wie Ross sich für Noel ausgesprochen hatte. Vertrauen. Noch war nicht alles verloren, wenn sie vertrauten. Er würde sich treiben lassen und darauf hoffen, das Gott ihn durch diesen aufkommenden Sturm trug. Und sein Herz war leicht denn sein Weg war nun klar. Er bekreuzigte sich und schritt zurück ins Dorf.
Aus dem Augenwinkel meinte er ein helles Tier davonspringen zu sehen. Aber es war wohl nur der Mond und die Müdigkeit in seinen Gliedern.