Der erste Tag neigte sich dem Ende. Voller Schock und Schrecken registrierte Maria, was sie angerichtet hatte - Jetzt trug Maria eine Schuld, die Merete nicht getragen hatte. Merete war unschuldig. Und Maria verantwortlich für Meretes Tod.

Nur weil sie keine Christin gewesen ist, und Maria sie deswegen kaum kannte und einschätzen konnte, und Marias oberflächliche Einschätzung von Vorurteilen geprägt war, nur deswegen hätte Maria überhaupt in Betracht gezogen, dass Merete den Lumianern angehörte. Nein, das Böse war in anderen Menschen zu finden.

Vielleicht, so dachte Maria, vielleicht lauert das Böse wirklich in uns allen. Vielleicht hatte Merete recht... Das gesamte Dorf wird daran verenden. Vielleicht hat Gott uns verlassen und uns zum Abschluss die Lumianer geschickt...
Maria hielt sich die Hände vor den Mund, sank auf die Knie, und versuchte, sich auf's atmen zu konzentrieren. Es wurde alles so schwer.

Atmen. Maria, atmen.
, erinnerte sie sich selbst in Gedanken.

...

Warum eigentlich? Das tut Merete jetzt doch auch nicht mehr.

...


Plötzlich schossen Maria Worte durch den Kopf, nahezu unkontrolliert, und doch erschienen sie so wahr...

Nonne, du verdienst, zu sterben.
Du bist unwürdig.
Du bist unwürdig, die Kirche und das Kloster je wieder zu betreten.
Deine Sünden und deine Schuld werden nie reingewaschen sein.
Dein Leben ist dem Untergang geweiht.

Ihr war so schwer, als wenn irgendetwas sie zu zerdrücken versuchte. Sie spürte ihre Schuld, einem unschuldigen Menschen das Leben gekostet zu haben. Sie war diejenige, denen andere gefolgt sind. Auf ihr Wort wurde vertraut, und es war Falsch gewesen. Vielleicht würde man ihr nun nie wieder vertrauen.

Dann betrachtete Maria den Mond über ihnen, vor ihren Augen längst verschwommen. Auch die umgebenden Menschen kehrten ihr - langsam - wieder ins Bewusstsein zurück. Sie war immer noch auf dem Dorfplatz. Doch wo sollte sie hin, wenn die Nacht anbrach? Ins Kloster konnte sie nicht mehr, nein, da würde sie nicht mehr bleiben dürfen. Dafür hatte Maria zu große Schuldgefühle, man würde sie gewiss nicht mehr in Gottes Wänden sehen wollen. Alles, was sie nun noch tun konnte, war lediglich beten. Beten um Gottes Beistand. Um Gottes Vergebung. Und ob ihr selbst noch irgendjemand trauen würde?

Der nasse Boden unter Marias Füßen war kalt und hart. Viel zu kalt und viel zu hart... Genauso wie die ganze Luft voller toter Kälte stand. Doch Maria hatte nichts anderes verdient.

Da fiel ihr Blick auf Brunhild. Ob vielleicht zumindest Brunhild ihr noch vertrauen könnte? ... Ob man wohl Brunhild vertrauen könnte? Sie hatte ihre Wahl immerhin nicht öffentlich gemacht. Was für eine kluge Frau.
Maria blieb kaum eine andere Wahl, als es zumindest zu versuchen.
Auch wenn sie nun vielleicht die sündigste aller Nonnen war, so brauchte sie nun einen Platz, um die Nacht zu überbrücken.

"Brunhild", sie sprach die gute Frau leise an. "Brunhild... Ich weiß, dass dieser Fehler unverzeihlich war. Doch fürchte ich nun, dass ich heute Nacht nicht mehr in Gottes Wänden verbringen können werde. Zu tief sitzt mir die Schuld in allen Gliedern ob des unschuldigen Fräuleins Leben. Ob ich... ob ich vielleicht ... zumindest diese Nacht.. bei euch im Gasthaus verbringen dürfte?"
Und nach einem kurzen Zögern fügte sie eilig hinzu:
"Ich... ich bin auch bereit, mich dafür von euch einschließen zu lassen, sodass ich nicht aus dem Zimmer heraus kann, wenn ihr mir nicht traut. Ich werde heute Abend nur noch beten, und dann schlafen gehen, sofern ich denn heute noch einmal Frieden fände..."


Traurig und Hoffnungsvoll blickte sie Brunhild an.