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Thema: Das Dorf Gottes 2-Tag 1

Baum-Darstellung

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  1. #15
    Einen Moment lang stand Luise einfach da, ihre Hände in Marias, und ließ sich die Worte der Nonne durch den Kopf gehen.
    Was andere uns zutrauen, ist meist bezeichnender für sie als für uns.
    Luise glaubte, den Satz zu verstehen, obwohl sie selbt Schwierigkeiten hatte, jemanden einer Schandtat zu bezichtigen.
    Doch sie hatte schon oft gesehen, wie Erwachsene sich gegenseitig mal mehr, mal minder üble Beschuldigungen an den Kopf warfen, wenn es Probleme gab. Und oft genug stellte sich heraus, dass sie genau das Verhalten am Gegenüber kritisierten, was ihnen selbst zu eigen war.
    Somit war es auch durchaus möglich, dass jene, die zuerst begannen andere als Lumianer zu beschuldigen, selbst solche waren.
    Aber würde Luise sich nicht selbst schuldig machen, indem sie jemanden wählte, ohne Beweise zu haben, dass er wirklich einer dieser bösartigen, menschenverachtenden Ketzer war?
    Sie sollte dies im Hinterkopf behalten. Denn selbst wenn das Dorf einstimmig jemand anderen als Konrad bestimmen würde, und selbst wenn sich der Gewählte als einziger Lumianer im Dorf herausstellen - selbst dann hätte Luise Mitschuld an seinem Tod. Selbst wenn der Lumianer den Tod verdiente, sein Blut würde dennoch auch an Luises Händen kleben. Einem Menschen seine Wahlstimme zu verleihen, bedeutete den Versuch, ihn zu töten. Sie durfte nicht vergessen, dass auch Entscheidungen einer Gruppe nicht die Sünde des Einzelnen entschuldigen.
    Dennoch war sie Maria dankber. Die Nonne vermochte vielleicht selbst nicht genau zu sagen, wer hier der Schuldige war oder wer in Frage kam. Doch ihre Worte waren tröstlich und gaben Luise Hoffnung, dass auch andere von Konrads Unschuld überzeugt waren. Und sie ließen hoffen, dass womöglich sogar der Pfarrer sich manchmal irrte. Es war die richtige Entscheidung gewesen, Luises Gedanken und Gefühle der Nonne anzuvertrauen. Immer schon hatte man Schwester Maria vollstes Vertrauen entgegenbringen können. Und Luise würde genau dies auch weiterhin tun.
    Mit einem dankbaren Lächeln ließ das Mädchen die Hände der Nonne los und wischte sich die Tränen aus den Augen.
    Dann sprach sie mit wieder gestärkter Stimme: "Ich danke Euch, Schwester Maria. Ich bin sicher, dass Ihr recht habt, mit Eurer Einschätzung. Der G-gedanke einen anderen Menschen dem T-tode zu weihen... e-er gefällt mir gar nicht." Luise schluckte schwer und fuhr dann fort: "Aber es ist wohl tatsächlich notwendig, um Unschuldige zu schützen... ehrliche Menschen wie Konrad." Dann warf sie einen Blick auf den Altar und sagte: "Ich würde gerne mein Gebet verrichten. D-danach möchte ich mich, bevor die Wahl beginnt, noch mit Noel sprechen. E-er mag ein... M-menschenhasser... sein, aber e-er hat sicher einen Grund dafür u-und i-ich glaube nicht, dass er sein Wissen um die Lumianer so öffentlich teilen würde, w-wenn er selbst einer wäre."
    Nach diesen Worten kniete sie sich vor den Altar, faltete ihre Hände und schloss ihre Augen.
    Luise mochte diese Kirche. Sie war klein und beschaulich und durch die Buntglasfenster fiel stets ein warmes Licht. Sie war so anders als jene gewaltige Kathedrale, welche Luise als kleines Kind betreten hatte, während sie mit ihren Eltern zu Besuch in einer großen Stadt gewesen war. Die Steine waren von einem Kalten grau gewesen und die Decken so hoch, dass Luise alleine vom bloßen Ansehen schwindelig geworden war. Es hatte sort auch Buntglasfenster gegeben, viele sogar. Aber das durch sie hindurchfallende Licht hatte nur die graue Kälte, das ständige Dämmerlicht und die schreckliche Leere betont. Luise hatte sich verloren gefühlt und war glücklich gewesen, wieder auf die belebte, sonnenbeschienene Straße zu treten.
    Und dieser Eindruck war nichts gewesen, im Vergleich zu der Bedrohlichkeit, welche die hohen steinernen Wände nachts ausgestrahlt hatten...
    Aber das war im Augenblick unwichtig. Wichtig war, dass Luise nun ihr Gebet sprach und sich danach zu Noel aufmachte, bevor die Wahl begann.
    Leite mich. Lass mich den richtigen Weg finden. Alles worum ich bitte, ist jetzt ein gerechtes Urteil. Bitte beschütze deine treuen Diener und führe sie zu den wahren Übeltätern. Und vergib mir, dass ich womöglich jemandes Tod verursachen werde. Ich werde dafür büßen, wenn die Zeit gekommen ist.
    Als sie fertig gebetet hatte, bagab Luise sich, der Nonne noch einmal dankbar zunickend, zum Dorfplatz. Hier draußen schüttete es wie aus Eimern und selbst der dicke Mantel bot wenig Schutz. Schon bald spürte das Mädchen die Nässe im Gesicht, unter der Kleidung und in den Schuhen. Doch Luise ging entschlossen weiter und kam schließlich durchnässt am Dorfplatz an, wo sie Noel zuletzt gesehen hatte.
    Es dauerte nicht lange, da hatte sie ihn auch schon entdeckt, sah wie er aus der Taverne trat. Allerdings schien auch die Wahl des zu Hängenden bald zu beginnen. Luise blieb keine Zeit.
    Eilig hastete sie auf den jungen Mann mit dem blauen Mal im Gesicht zu und begann atemlos:
    "Noel! I-ich weiß, d-dass ich dir heute M-morgen wohl zu n-nahe getreten bin. I-ich habe dich sicher verletzt m-mit meinem unüberlegten Gerede." Sie würde nie wieder gedankenlos über Schiffe reden. Das wusste sie jetzt schon. "D-du musst w-wirklich wütend sein. B-bestimmt hasst d-du mich jetzt dafür..." Das würde jedenfalls sein vorheriges Auftreten auf dem Dorfplatz erklären. Es musste hart gewesen sein, einfach so an seine furchtbare Schiffsvergangenheit erinnert zu werden. Sicher tat das einiges dazu bei, ein schlechtes Menschenbild zu entwickeln. Also fuhr sie, noch immer sichtlich nervös und schuldbewusst fort: "U-und das ist auch dein g-gutes Recht. I-immerhin w-war ich wirklich taktlos..." Sie schwieg eine Sekunde lang, um all ihren Mut zu sammeln. Dann blickte sie Noel direkt an und sprach: "A-aber das ist m-meine Schuld, nicht die der anderen Dofbewohner. I-ich kann d-dich schlecht um Verzeihung b-bitten, w-wo ich d-deine Gefühle so verletzt habe. A-aber selbst wenn du mir nicht vergibst - ich bitte dich dennoch darum: Teile dein Wissen über die Lumianer mit uns! Hilf dabei, die Unschuldigen zu schützen, indem du uns mit deiner Erfahrung und deinem Wissen beistehst!"
    Es musste einen ziemlich einfältigen Eindruck machen, wie sie hier auftauchte, durchnässt wie ein im Regen verlorenes Kätzchen, all den nassen roten Strähnen im Gesicht, welche sich den Tag über aus ihrem Zopf gelöst hatten, und dann auch noch Forderungen stellte. Aber es war ihr wichtig. In ihren Augen schimmerte Verzweiflung, doch sie senkte nicht den Blick, sah Noel direkt ins Gesicht.
    "B-bitte. Du musst es n-nicht für mich tun. E-es ist für alle, die hier leben. A-alle die e-ein friedlliches Leben führen wollen. Alle, d-die all das Unglück der Welt vergessen wollen. I-ich werde d-dich nicht weiter belästigen, w-wenn du das nicht möchtest. A-aber denk bitte an alle, die n-nichts mit a-alldem zu tun haben!"

    Geändert von Zitroneneis (26.03.2013 um 10:26 Uhr)

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