Maria war immer noch ins Gebet vertieft, und bemerkte kaum, dass Luise die Kirche betrat und sich neben sie stellte. Erst, als das rothaarige Mädchen sprach: "Ich bitte Euch, Schwester Maria. I-ich bitte Euch im Namen des Herrn und bei all seinen Engeln und Heiligen. Bitte, rettet Konrad!" blickte Maria überrascht auf. Sie spürte die Dringlichkeit des Wunsches, zumal Maria auch von Luises familiärer Beziehung zu Konrad wusste, und fing an, nach Worten zu suchen, die dem Mädchen helfen würden. Jedoch sprach Luise weiter, ehe Maria antworten konnte.
"Bitte! Ich werde alles tun, was Ihr wollt. Ich würde mich sogar selbst an seine Stelle setzen, wenn Ihr das für notwendig erachtet. Ich vertraue Euch. Ihr werdet im Namen des Herrn urteilen, das weiß ich." Maria wusste zunächst nicht genau, wie sie sich formulieren sollte, als sie die Traurigkeit erkannte, die in Luises Augen lag. Voller Tränen standen sie, und so wie die Lage aussah, würde es eine Weile dauern, bis das Mädchen wieder Sorglos vor sich hin leben dürfte. Luise redete weiter in Marias beginnenden Gedankengang hinein: "Ich weiß, es ist eine große Bitte. Aber helft mir, weise zu handeln und Konrad zu retten!"
Maria würde sich sehr freuen, wenn das Apothekermädchen überhaupt jemals wieder sorglos leben könnte, denn wer weiß, welche Leben diese Sekte in den nächsten Tagen kosten würde. Vielleicht nur noch die der Sektenmitglieder, vielleicht auch die aller Unschuldigen. Es war ein so furchtbarer Gedanke, dass Maria schlecht dabei wurde. Wo war dieses ansonsten so friedliche Dorf da nur reingeraten? ... Eins stand jedoch fest: Wenn einer helfen konnte, die Lumianer aufzuspüren, und das schlimmste zu verhindern, dann vermutlich Noel. Er schien Erfahrung mit ihnen zu haben, hatte er ja nach eigenen Angaben mit den Lumianern bereits zu kämpfen gehabt.
"Luise", begann Maria schließlich, und blickte ihr tief in die traurigen Augen. Jetzt galt es, dem Mädchen wieder Mut einzubringen, denn die Stimme des Pfarrers entsprach nicht der Meinung aller Dorfbewohner. "Es gibt da diesen Psalm, den ich erst vorhin wieder gelesen habe:
'Mit Tränen bringen wir die Saat aus, doch jubeln dürfen wir, wenn die Zeit der Ernte kommt.'*
Ich sehe, dass es dir zurzeit nicht allzu gut geht. Ich brauche dich nicht einmal dafür anzusehen, nein. An deiner Stimme ist es zu hören, und wer deine Situation kennt, der braucht nichtmal deine Worte dazu. Aber auch die nächsten Tage werden keine schönen sein. Und jede Wahl, die wir treffen, wird uns im innersten Schmerzen, denn dies bedeutet jeden Abend ein weiterer Abschied. Hoffentlich erwischen wir die richtigen Personen, also diejenigen, die verbergen, ein Lumianer zu sein. Aber genau wissen werden wir es erst hinterher."
Luise schien merklich betroffen zu sein, sodass Maria dem Bedürfnis, diesem schwachen, hilflosen Wesen eine schützende Umarmung zu geben, weder widerstehen konnte noch wollte.
"Ach, meine liebe Luise. So mach dir doch nicht so viel Sorgen um ihn. Ich kann nicht oft genug wiederholen, dass ich fest von Konrads Unschuld überzeugt bin. Er ist ein pflichtbewusster, stattlicher Mann von großer Güte und Treue und er möchte die gewiss Lumianer mit ebenso großem Interesse verjagen, wie wir alle. In der Bibel heißt es 'Gottes Wege sind vollkommen. Er ist ein Schild allen, die ihm vertrauen.**' - Konrad ist einer von uns, der Gott vertraut. Deswegen vertraue ich Konrad." Die Nonnige ließ los, ergriff stattdessen Luises Hände und sah sie Luise erneut an, diesmal mit einem festen und entschlossenen Blick.
"Das ändert natürlich nichts daran, dass er bereits eine Stimme auf dem Wahlzettel bekommen hat. Denke daran, dass eine Stimme allein nicht gilt, sondern alle Stimmen, die am Abend zusammen kommen, zählen. Heute Abend werden wir gemeinsam einen aus unserer Reihe bestimmen müssen - auch du wirst eine Wahl treffen - wer das Dorf als Lumianer verlassen muss. Der Pfarrer muss einem Irrtum unterliegen, vielleicht vertraut er selbst dem Falschen. Wer weiß wer diese Person ist, die das Vertrauen des Pfarrers so stark innehält, dass dieser sogar den Treuen Konrad wählt. Hast du gehört, was Noel erzählt hat? Anscheinend hat er sie früher schon einmal bekämpft." Maria blickte bei dem Gedanken an Noel, der ihr immer noch ein wenig unbehagen bereitete, einen Moment zum Kirchenfenster, durch das, bunt gestreut, schwaches Tageslicht hineinfiel, und sah dann wieder Luise ins Gesicht. "Die Lumianer sind vermutlich sehr trickreich und erfahren, denn laut unserem Bibliothekar haben sie bereits viele Leute in die Irre geführt. Wer weiß, ob nicht ein Lumianer mit dem Pfarrer gesprochen hat. Ein Lumianer, der jetzt versucht, das furchtbare Werk seiner Sekte anzutreiben, und umso mehr Menschen leiden zu sehen."
Einen Augenblick fehlten ihr weitere Worte, doch sie besann sich ihrer Nonnigkeit und versuchte, noch ein wenig mehr zu sagen, was Luise helfen könnte.
"Konrad macht sich um dich gewiss genauso viele Sorgen wie du dir um ihn. Aber wenn du ihm helfen willst, bleibt dir kaum etwas anderes übrig, als jemand anderen dafür zu wählen. Luise. Ich kann dir nicht sagen, wen du wählen sollst. Dies ist eine schwere Wahl, die auch ich bisher nicht treffen konnte und die mir auch noch sehr schwer fallen wird." So langsam wurde Maria bewusst, dass sie sich wiederholte. Doch vielleicht war das ganz gut so, denn sie empfand es als wichtig, was sie versuchte, Luise mitzuteilen, und wiederholungen sollen ja bekanntlich besser im Gedächtnis bleiben.
Erneut läuteten die Glocken und Maria blickte in die Richtung, in der etwa die Glocken hängen dürften, die man vom Kirchraum aus nicht sah. Nach dem das Geläut verklungen war, führte sie ihren Monolog zu Ende, Luises Hände immer noch haltend:
"Aber wenn ich dir einen Rat geben darf, der aus dem tiefsten Herzen einer Nonne kommt, dann bedenke folgende Worte: Was andere uns zutrauen, ist meist bezeichnender für sie als für uns."
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* (Psalm 126,5)
** (2.Samuel 31)