Sie war allein.
Ihre Füße wund auf dem eiskalten Boden. Ihr Mund trocken. Ihre Augen blind in der Dunkelheit.
So schutzlos.
Zerbrechlich.
Schwach.
Doch sie ging weiter. Und weiter. Und immer weiter.
Bis sie eine ruhige Stimme hörte, kaum mehr als ein Wispern: “Was für ein kleiner Vogel hat sich denn zu solch später Stunde hierher verirrt? Tritt näher, Täubchen, damit ich dich sehen kann!“
Sie trat näher.
Sofort begann die Finsternis sich zu bewegen. Schatten sprangen auf sie zu. Hände griffen nach ihren Füßen. Zerrten an ihren Armen. Krallten sich in ihr Haar. Tausend Paar Hände.
Formlos, kalt, schwarz. Wie die fleischgewordene Nacht.
Sie war gefangen.
Schutzlos.
Zerbrechlich.
Schwach.
“Nun... willst du es wissen? Willst du wissen, wer ich bin? Hier. Schau nur gut hin, kleines Höllentäubchen.“
Ein gleißendes Licht breitete sich aus.
Erhellte. Blendete.
Zitternd wachte Luise auf. Ihr Herz raste und verzweifelt schnappte sie nach Luft. Atmete panisch schneller und schneller, als sie bemerkte, das sie keine bekam.
Erst nach einem kurzen Moment, der wie eine Ewigkeit erschien, fiel ihr wieder ein, was sie zu tun hatte. Mit einer fahrigen Bewegung griff sie die Bettdecke und presste sie vor Nase und Mund. Ließ die überschüssige Luft, welche sie in ihrer Panik eingesaugt hatte, wieder heraus.
Ihr Herzschlag beruhigte sich wieder, aber ihre Hände zitterten noch immer. So saß sie für ein paar kurze Minuten aufrecht im Bett und tat nichts, außer langsam ihren Atem zu beruhigen und ihre Gedanken zu sortieren.
Es war längst nicht das erste mal gewesen, dass sie einen derartigen Traum gehabt hatte. Diese Träume verfolgten Luise seit sie ein kleines Mädchen war. Es gab Zeiten, da sie jede Nacht träumte und am Morgen zitternd und schwer atmend aufwachte. Manchmal vergingen Wochen, ohne dass irgendein Traum jeglicher Art kam.
Doch sie kehrten immer wieder.
Als Luise zwölf Jahre alt gewesen war, hatte sie geglaubt, die Nachtmahren abgeschüttelt zu haben. Denn damals war es schon lange her gewesen, dass sie solche Alpträume gehabt hatte.
Doch dann war ihre Mutter verschwunden. Und die Träume wiedergekehrt, in einer bis dahin nie gekannten Intensivität. Und hatten sie nicht mehr für längere Zeiträume verlassen.
Luise sprach nie darüber. Zum einen, weil sie weder ihrem gutmütigen Vetter noch ihrem kränklichen Vater eine Last sein wollte.
Zum anderen aber auch, weil sie Angst hatte, davon zu erzählen.
Wenn sie schwieg würden die Träume vielleicht eines Tages verschwinden. Doch wenn sie ausgesprochen wurden, gab man ihnen einen Namen. Einen Körper. Man würde sie dann nicht einfach vergessen können.
Nachdem Luise sich etwas beruhigt hatte, erhob sie sich. Ihre bloßen Füße trafen auf einen ungewöhnlich kalten Boden, und Luise hatte die stille Befürchtung, dass es zu einer weiteren Winterwelle kommen würde. Wenn sie später das Haus verließ, würde sie ihren warmen Mantel brauchen.
Heute würde sie außerdem nicht den gleichen Fehler begehen, wie gestern. Kurzerhand nahm sie die Bürste in die Hand, kämmte sorgfältig all das schreckliche, feuerrote Haar zurück und flocht es zu einem Zopf zusammen. Nun würde sie wenigstens halbwegs wie eine anständige junge Dame aussehen. Einigermaßen zufrieden ging sie in die Küche.
Nachdem sie ihrem Vater sein Frühstück gebracht und selbst etwas zu sich genommen hatte, fragte sie sich wo Konrad blieb. Nach der gestrigen Nacht war es natürlich gut möglich, dass er noch am Schlafen war. Aber bei ihm anklopfen, nur um sicherzugehen ob alles in Ordnung war, konnte ja nicht schaden.
Doch als sie an seine Tür klopfte, erhielt sie keine Antwort, sondern hörte nur ein leises Fiepen. Vorsichtig öffnete sie die Tür und warf einen Blick in den Raum. Konrad lag auf dem Bett, tief am Schlafen.
Doch - wie Luise erschrocken feststellte - war er nicht allein!
"Was machst du da?", wisperte sie entsetzt. "Sowas gehört sich nicht! Nimm ihn sofort aus seinem Gesicht raus! Er erstickt sonst noch daran."
Mit diesen Worten eilte Luise, sehr darauf bedacht Konrad nicht zu wecken, auf das Bett zu und packte Kürbis, der es sich in der Nacht wohl mit seinem weichen, puscheligen Schwanz in Konrads Gesicht bequem gemacht hatte. Der kleine Fuchs schleckte ihr nur scheinheilig die Wange ab, was dem jungen Mädchen das erste ehrliche Lächeln an diesem Tag entlockte.
"Na komm, mein Kleiner. Früstücke erst einmal etwas", sagte sie besänftigt, nachdem sie Konrad wieder alleingelassen hatte und gab dem Welpen etwas Dörrfleisch.
Nach den gestrigen Ereignissen beschloss sie, die Apotheke etwas später zu öffnen. Zuvor wollte sie ihren Plan, Noel zu besuchen und mehr über ihn zu erfahren, in die Tat umsetzen. Sich mit ihm unterhalten. Über Schiffbau. Ja, das war sicher ein wunderbares Thema, um jemanden näher kennenzulernen.
Bevor sie das Haus verließ, klebte sie einen in sauberster Handschrift verfassten Zettel an die Tür.
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