Nur kurz nach Tyrells Ansprache, in welcher der junge Mechaniker Merete für den frei gewordenen Posten der Dorfleitung vorschlug, trat sie zu ihm, ohne die Reaktionen der restlichen Bewohner Düsterwalds abzuwarten. Mit wieder gedrosselten Lautstärke sprach sie zu ihm.
"Ich danke Euch für das Vertrauen, das Ihr in mich setzt!" Sie nickte, war noch zu sehr in ihren eigenen Gedanken gefangen, um Tyrell über deren Essenz in Kenntnis zu setzen. War sie für diese Aufgabe geeignet? Wollte sie überhaupt für diese Aufgabe geeignet sein? Sie hatte die Gefahr erkannt, die dieser Posten offensichtlich beherbergte. Wollte sie diese Gefahr auf sich nehmen, ihre eigene körperliche Unversehrtheit, ihr Leben aufs Spiel setzen, um dem Dorf treu zu dienen, wie es der Hauptmann vor ihr getan hatte? Aber wer versprach ihr, dass dem so war? Wer sagte, dass die Aufgabe mit dem Risiko verbunden war, von dem sie ausging? Würden sich nicht früher oder später wieder alle für ihr Wohl opfern? So haben es zahlreiche Kämpfer der Uppreisamoti Kirkja getan. So hat es Arik getan.
"Ja. Ich danke Euch und lehne nicht ab." Ein erneutes, höfliches Nicken sollte ihren Worten den angemessenen Nachdruck verleihen, bevor sich Merete wieder von Tyrell entfernte, in der kleinen Menge der Dörfler verschwand und den Worten ihrer Nachredner lauschte. Rekon, der Holfzfäller - beide sagten Dinge, die sie nicht dumm fand. Je länger sie darüber nachdachte, desto bewusster wurde ihr, dass die Menschen in diesem Dorf wohl eine richtige Entscheidung treffen würden, für wen sie sich auch entscheiden würden. Das musste sie hoffen.
Ein Zerren am ledernen Rock der Isländerin weckte sie aus ihren Gedanken. Hm? Vermutlich der Wind, ihr treuer, frischer Freund, der diesem Dorf und ihr so oft einen Besuch abstattete. Er erinnerte sie an ihr Vorhaben.
Ohne groß auf den gesichtstätowierten jungen Mann zu achten, der in diesem Moment rüpelhaft an einigen anderen vorbeilief, verließ sie den Schauplatz der Versammlung und der Reden, die sie hörte, die sie sprach und die nun noch folgen würden. Ihr Ziel war eindeutig. Das Haus des Hauptmannes. Ein letzter Besuch bei dem Mann, der ihr ermöglichte, hier für zwei Sommer in Frieden zu leben, schien ihr unumgänglich.
Sie erreichte seine Unterkunft am Rande des Dorfes und schob die knarrende Eingangstür nach innen. Dort lag er, wie friedlich schlafend und nahezu komplett ins Dunkle gehüllt. Nur die geöffnete Tür ließ ein paar der späten Sonnenstrahlen des Tages hinein, um ihr den Blick auf seinen Leichnam nicht komplett zu verwehren. Bevor ihr Weg Merete zu seinem Bett führte, stellte sie sich an das Fenster, vor dem ein graues Leinentuch hing. Sie zog das Tuch herunter, ließ einen ganzen Schwall Licht herein, der das Todeszimmer des Hauptmanns in ein mattes aber ausreichendes Licht legte. Die Fischerstochter ließ sich einen Moment blenden, bevor sie sich umdrehte und seufzend an das Todesbett ihres engsten, vor kurzem noch lebenden Vertrauten zu machen. "Hauptmann..."
Nur kurz darauf fand sich Merete in den eigenen vier Wänden wieder. Sie tauchte den kleinen Teil des Leinentuchs, den sie vom Stoff des Vorhangs in der letzten Lebensstätte des Hauptmannes abtrennte, in ein kleines, etwa kruggroßes Fass mit Pech, zog ihn anschließend heraus und wickelte es gekonnt um die knöcherne Spitze eines Pfeils, den sie fest in der linken Hand behielt, während sie ihren Köcher auf die Holzablage legte, die ihr am nächsten war. Dann verließ sie das Haus in Richtung Wald. Auf das Jagen würde sie heute verzichten. Doch ihrer Tradition würde sie folgen.
Erst am kleinen Waldsee stoppte Merete, blickte für einen Moment raus auf die glasklare Oberfläche des Wassers und ließ mit einer eleganten Bewegung den Bogen von ihrer Schulter rutschen, den sie schließlich auf einen großen Stein legte. Ihre rechte Hand fuhr an ihre Hüfte, zog an dem ledernen Fingerhandschuh, den sie fest zwischen Hüfte und Ledergürtel geklemmt hatte, streifte sich ihn über. Einen Augenblick später hatte sie schon ein kleines Knäuelchen Zunder aus dem Leinenbeutel neben dem Dolch genommen, an den ebenso aus dem Beutel stammenden Feuerstein gelegt, während sie den Pfeil unter ihrer linken Achsel einklemmte. Als letztes wurde das Funkeneisen aus dem Beutel geholt. Merete schlug es an den Feuerstein und die entstehenden Funken ließen das Zunderknäuel brennen. Sie führte es an die pechgetränkte Pfeilspitze, die sofort in Flammen aufging und ließ die restlichen Utensilien zu Boden fallen.
***
Der gespannte Bogen lag ruhig in ihrer Hand, sie sah durch die lodernden Flammen in den rotblauen Himmel und beruhigte ihren Atem, ihren Herzschlag, bis er kaum noch zu spüren war. Zeige- und Mittelfinger hielten - geschützt vom Leder des Handschuhs die Naturfeder und den dünnen Stab des Pfeils zurück, bis sie den Druck löste. Der brennende Pfeil schoss weit und steil in die Luft und Meretes Augen folgten ihm, bis er kehrtmachte und schlussendlich im Schlund des hungrigen Sees verschwand, ein letztes Zischen ertönte und dünne Rauchschwaden nur seicht in den Himmel stiegen, bevor sie nicht mehr auszumachen waren. Eine Tradition, die sie lernte, fernab von Staat und Kirche. Nicht mehr.
Sich nach ihren Sachen beugend, flüsterte die Schützin - stellvertretend für jeden Freund des Dorfleiters - ihren Wunsch in den Wind, bevor sie sich zurück in die Gemeinde begab.
"Auf dass Ihr erfüllt gestorben seid, Hauptmann!"