Die Zeit verflog, Noel hatte sich dazu entschieden, den Wolken beim vorbeiziehen zuzusehen. Das wäre entschieden spannender als die Dorfrunde. Seit etwa einer Stunde schon starrte er schläfrig in den Himmel, sanfter Wind strich schmeichelnd durch sein Haar und die Ruhe aufgrund der Distanziertheit seiner Position vom Mob ließen ihn seine Augen schließen.
Eine Weile verblieb er so, genoß die Ruhe.
Erst, als er eine allzubekannte, melodische Stimme entfernt vernahm, richtete er seinen Kopf auf und sah zur Bühne. Warmer Honig floss durch seine Brust.
Kleine Elfe.
Offensichtlich war sie sehr aufgewühlt, wohl wegen dem Hauptmann, so schloss Noel. Doch ansonsten schien es ihr gut zu gehen, wie er beruhigt feststellte.
Lächelnd wartete er darauf, was sie wohl zu sagen hatte. Vielleicht würde sie am Ende sogar aus Zuneigung für ihn stimmen?
Noel. Lass uns nach Hause gehen. Jetzt.
Etwas verwundert drehte Noel seinen Kopf nach rechts; Deus saß neben ihm auf der Bank, den Blick ungewöhnlich düster.
Warum? Sieh nach vorne, Hündchen, meine kleine Elfe ist gerade erschienen. Das werde ich doch nicht-
Lass uns gehen. Ich meine es ernst.
Der Wolf sprach völlig ohne Spott und Hohn, und Noel tat das schon selten, also wusste er, wovon er redete. Ruhig wanderte sein Blick wieder auf die Holzbühne. Luise sah sich noch unsicher in der Masse um, zitterte ein wenig.
Sie war so unbeschreiblich süß.
Verzeih... ich weiß nicht, was mit dir los ist, Deus. Aber wie könnte ich gehen, wenn sie etwas zu sagen hat? Das will ich nicht. Die Motte flattert auf das Licht zu, und nicht von ihm weg.
Deus ließ leicht den Kopf hängen und knirschte stumm mit den Zähnen.
Noel schenkte ihm keine weitere Aufmerksamkeit und ließ seine Sinne wieder zum Wesentlichen schweifen: Dem Engel.
"L-liebe M-mitbürger. B-bitte seid n-nicht wütend auf T-tyrell. Es ist meine Schuld, d-dass der H-hauptmann starb... weil i-ich nicht rechtzeitig s-seine V-vergiftung bemerkt h-habe und Herr H-hirschdung-Apfelriese..."
Hm. Natürlich, wie immer gab Luise sich die Schuld für Alles, war sie doch so herzensgut und rein. Einmal mehr flammte das Bedürfnis in Noel auf, dieses zerbrechliche Ding zu beschützen.
"W-wi auch immer. Ich möchte jemanden n-nominieren, d-der mir heute m-morgen in der Apotheke großen B-beistand geleistet hat."
Noel stoppte im Denkvorgang. Er spürte, wie sein ausgemerkeltes Herz begann, Luft zu schnappen und schneller zu schlagen.
Bei den dreizehn Niemanden der Niemalswelt, kann das sein... ?
Noel, du solltest wissen-
Still jetzt!
"Jemand, der mich trotz Kopfschmerzen unterstützt hat. Jemand, der wahrscheinlich immernoch unter Kopfschmerzen leidet, weil er den ganzen tag so aufopferungsvoll war...
Noels Mundwinkel zogen sich träumerisch nach oben. Das war er, der Moment, von dem er geträumt hatte, seit er in dieses Dorf gezogen und das erste Mal in seinem Leben einen Lichtstrahl gesehen hatte. Einen Lichtstrahl in Form einer kleinen, rothaarigen Gestalt. Nicht, dass es ihm irgendetwas bedeuten würde, Hauptmann zu werden... es ging um Luise. Gleich hätte Noel endlich Gewissheit, das seine kleine Elfe ihn nicht hasste. Das würde der erste Sympathiebeweis aus ihrem Munde werden, seit er sie kannte. Sein Gesicht brannte und wahrscheinlich würde er jede Sekunde an Herzversagen dahinsiechen. Aber wenn er nur lange genug lebte, um die Worte aus ihrem Mund zu hören... ! Er wäre so glücklich.
Noe-
SCHNAUZE!
Das Mädchen holte ein letztes Mal tief Luft, bevor sie zu sprechen begann. Noels Herz pochte wie verrückt, als sein Grinsen endgültig wie weggetreten wirkte und er fröhlich die Ohren spitzte.
"I-ich möchte, dass Tyrell (Ligiiihh) Hauptmann wird."
Millionen graue Glasscherben regneten herab und rissen seinen Körper in blutige, trostlose Fetzen. Von ihm blieb nichts übrig als eine erbärmliche Gestalt, die atemlos in sich zusammensackte und auf ihre Knie starrte. Es war ein beispiellos zerstörerischer Moment.
Vielleicht war es nicht, was sie gesagt hatte... doch wie sie es gesagt hatte... mit einem Lächeln im Gesicht, das wohl echter war, als jedes, dass er je bekommen hatte. Begegnete sie ihm doch stets nervös und ängstlich. Aber seinen Namen hatte sie reinlächelnd gesagt, vor allen Dorfleuten.
Kein Funke Unsicherheit. Ohne, dass er es merkte, entlief Noels linkem Auge eine Träne, die sich zuerst den Weg über seine blaue Wange bahnte und schließlich auf seinen schwarzen Mantel heruntertropfte.
"Warum... ?"
Neben dem apathischen Noel schüttelte der etwas ratlose Deus den Kopf.
Ab und zu könntest du ruhig auf mich hören, Noel. Nun, ich schätze, Belehrungen sind gerade unangebracht. Das war nur eine Nominierung zum Hauptmann. Das Amt juckt dich nicht, es steht in keinem Zusammenhang zu ihrer Sympathie dir gegenüber.
Ja, das stimmte. Deus hatte recht, das war doch nur eine Nominierung, wahrscheinlich hatte seine kleine Elfe nichtmal an ihn gedacht, es gab nicht den geringsten Grund, anzunehmen, irgendetwas an dem Verhältnis der beiden hätte sich geändert.
Ich habs! Ich werde einfach ihre Gedanken lese-
NEIN!
Noels Tatoo fing urplötzlich höllisch an zu brennen, stöhnend fuhr er sich mit der linken Hand an die Wange, verkniff sich einen Schrei.
Normalerweise hatte Noel seine Gedankenlesefähigkeit nie auf Luise angewendet. Bei jedem, aber nicht bei ihr. Das wäre ihm wie ein Eindringen in ihre Privatsphäre erschienen, eine Verletzung ihrer heiligen Grenze. Aber als er es jetzt versuchen wollte, funktionierte es nicht.
Verdammt, Deus! Warst du das?!
Ja Noel, das war ich, hrr! Erspar es dir um Himmels Willen, jetzt auch noch in ihren Kopf zu blicken! Lass es bleiben, Bengel!
Du hast mir gar nichts zu sagen! Ich mache, was ich will!
Ein erneuter Versuch. Wieder brannte seine linke Gesichtshälfte höllisch, intensiver als vorher nun. Noel musste sich mit den Händen im Mantel festkrallen, um nicht zu brüllen.
Was... was hast du mit mir gemacht?!
Der Wolf sah mit einem undeutsamen Blick weg, knurrte kurz.
Du kannst jetzt nicht mehr gedankenlesen. Wenn du es versuchst, brennt dein Tattoo. Jedes Mal stärker. Glaub mir, ich mache das, weil ich dich leiden kann. Diese Fähigkeit wird dich nicht glücklich machen.
Du dreckiger Köter, gib mir-
Doch da war der Wolf bereits verschwunden. Das wars, kein Gedankenlesen mehr. Stumm sank Noel auf der Bank zusammen, sein Blick fiel auf die Bühne; Luise schüttelte Tyrell lächelnd die Hand, welcher breit grinsend in die Masse winkte.
Wie ironisch. Hatte er den Burschen gerade noch in den Schlamm geworfen, war es nun Tyrell, der Noel wie einen Hund zusammentrat und ihn in den tiefsten Dreck warf.
Mit zitternden Augen und einer Kälte in der Brust, die ihm übel werden ließ, erhob Noel sich schlurfend von der Bank und schlich stumm in Richtung seines Hauses davon.