Merete trat aus der Tür und nahm einen tiefen Zug der frischen Luft in ihre Lungen auf. Obwohl sie nicht zu häufig die eigene Behausung verließ, so gehörte es zu den schönsten Momenten eines Tages, dies zu tun. In der Luft lag alles, was das Dorf ausmachte. Ruhe und Frieden. Keine Unsicherheit über die nächsten Stunden, den nächsten Tag. Hier war die Luft rein, nicht blut- und kampfgetränkt.
Den Bogen mustergültig neben der ledernen Halterung für den Köcher auf den Rücken geschnallt, trat sie langsam voran, ertaste mit starr nach vorne gerichtetem Blick den Jagddolch an der Seite ihrer Hüfte, dessen Schneide im hölzernen Schnitzwerk lag. Nur gelegentlich verließ ihr Blick die gerade Linie, blieb für wenige Augenblicke liegen auf den anderen Gestalten dieses Dorfes. Da war der Schreinergeselle, in etwa in ihrem Alter, offenbar verzweifelt auf der Suche nach irgendetwas.
So wie Merete die anderen, interessierteren Bewohner von Düsterwald kannte, würde sie zu ihm gehen müssen, ihn Fragen, wen oder was er suche, um unter Umständen helfen zu können. Irgendein neugieriger Teil in ihr fragte sich manchmal, ob sie es nicht einfach tun sollte. Sich einfach der Versuchung hingeben, das Gespräch suchen, vielleicht auch, um die ein oder andere Sympathie zu erfahren, auf die sie zurückgreifen könnte, wenn sie Hilfe bräuchte. Doch bis jetzt hatte sie alles alleine geschafft. Und das Interesse war nicht groß genug. Verdammt, sie wusste ja nicht mal den Namen des Mannes. Wenn sie genauer darüber nachdachte, kannte sie nur vier Namen.
Da waren auf der einen Seite die junge Apothekerstochter Luise und ihr Vater Adalbert. Bereits häufig war Merete in die Verlegenheit gekommen, die Dienste der beiden in Anspruch zu nehmen, wenn die Schmerzen im Kopf zu groß wurden oder sie sich bei der Jagd verletzte.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie darüber nach, in welcher Verbindung zum Apotheker der junge Schreinergeselle stand. Irgendetwas sagte ihr, dass die beiden verwandt seien, doch nur wenig später ertappte sie sich beim unerwünschtem Entwickeln von Interesse und schob den Gedanken bei Seite. Was kümmert es dich?
Auf der anderen Seite war da Rekon, der ältere und erfahrenere Jäger im Ort. Nicht, dass sie jemals viel mehr als die üblichen Begrüßungsfloskeln ausgetauscht hätten, doch allein ob seiner Profession stand er Merete näher als jeder andere Bewohner des Dorfes. Ihn hatte die junge Isländerin noch nicht entdecken können, doch wie sie vermutete war er bereits in den frühen Morgenstunden im Wald gewesen. Sie vermied das, nicht zuletzt, weil man sich in der Gegend von einem Bären erzählte, der das Vieh riss und auch für sie eine Gefahr darstellen könnte. Nicht, dass sie sich nicht zutraute, sich vor einem Bären schützen - ach was, ihn erlegen - zu können, doch gefiel ihr das Risiko nicht. Ihr Kampfeswille war im Zuge des Sesshaftwerdens eingeschlafen - und so war es sicher auch ihr Reaktionsvermögen.
Der letzte, ihr bekannte, Name war der des Hauptmannes. Ein guter Mann, dem Merete dankbar war. Er machte eine Frau zur Jägerin, ermöglichte ihr dieses neue, ruhige Leben, welches ihr gefiel, weil es nicht den Tod bedeutete. Umso bezeichnender war es, dass ausgerechnet er derjenige war, der nun im Sterben lag. Auch - und hauptsächlich - für ihr eigenes Wohl wäre es zuträglich, wenn der Hauptmann am Leben bleiben würde. Solange er das war, konnte sie ruhigen Gewissens der Jagd nachgehen.
Gerade in diesen Tagen wurde so viel gejagt, wie sonst selten. Ein Fest stand bevor und benötigt wurden große Mengen an Wild. Merete hatte - wie so oft - aufgrund von mangelndem Interesse vergessen, um was für ein Fest es sich handelte, doch war sie sich sicher, dass es eine dieser Feierlichkeiten war, die sich jährlich wiederholten.
Ein Blick in den Himmel riss sie aus ihren Gedanken. Die Sonne stand hoch, schien heiß auf das Dorf und die angrenzenden Wälder. Zu heiß. Das Wild würde sich nun eher in den schützenden, tieferen und weiter entfernten Wäldern befinden, sich nicht der Sonne aussetzen. Sie müsste noch eine Weile warten, bis die Tiere zurückkehrten.
Die Augen schützend zusammengedrückt setzte sie sich an den Dorfbrunnen, blickte stumm zum Wald hinaus, zog den Dolch von ihrer Hüfte und malte mit ihm musterlose Bewegungen in den weichen Grund.