Zwei Tage zuvor, im Nachbardorf
"Ich schwör, sieht nur so aus, ist eigentlich nicht so und wenn du Beweis haben willst, dass nicht so ist, schwör ich da gerne nochmal drauf.", sagte sie in schneller Abfolge mit starkem osteuropäischen Akzent, pausierte eine Sekunde und fügte ein langgezogenes "Schwööööö~r." hinzu.
"Lumi, hör' auf mich anzulügen.", sagte der etwas dickliche Kerl mit der Axt dessen Namen sie sich ums Verrecken nicht merken konnte. "Ich sehe den kleinen Tisch, sehe die Würfel, habe genau gehört wie du gewürfelt und 'Ohhhh, wiederrrr kein Glück!'...", dabei äffte er ihre Sopranstimme und ihren Akzent nach, "... gesagt hast."
Auf frischer Tat ertappt. "Bassza meg... [Och scheiße...]", flüsterte sie leise in ihren nicht vorhandenen Bart und sah nur noch eine Möglichkeit, dieser Situation...
"Lumi, nein. Guck' mich nicht an mit diesem Hundeblick. Das funktioniert nicht, diesmal nicht, diesmal...", reagierte er folgerichtig auf ihre Taktik, mit der sie offensichtlich gegen eine Wand lief. Weiterhin den Hundeblick auf dem Gesicht sagte sie: "Was soll ich tun, damit du mich ziehen lässt?", während sie im Hinterkopf dachte: Oh Gott, bitte sag' nicht das was ich hoffe dass du nicht sagst bitte bitte bitte...
"Erzähl' mir 'nen Witz.", war seine Antwort. Er verschränkte die Arme und blickte auf die zierliche 1,55 m kleine, blonde, grünäugige Gestalt herab mit einem Lächeln auf dem Gesicht. "Wenn du mich zum lachen bringst, lasse ich dich ziehen."
Kurz musste sie verarbeiten, was er da von ihr wollte. Der Dackelblick wich einem entgültig skeptischen Gesichtsausdruck samt halbgeöffneten Mund und hochgezogener Augenbraue. Und außer einem "Im Ernst?" wollte erst einmal so nichts recht aus ihrem Mund kommen.
"Ja, aber warte, ich hole noch kurz-UWE! PETRUS! MANFRED! Kommt mal eben kurz!", er trommelte jetzt nicht ernsthaft...? Doch. Die drei anderen Vigilanten, die einen auf Wache in dem Dorf machten, kamen jetzt auch dazu, einer weniger sympathisch aussehend als der nächste.
"Gut, fang' an, Zigeunerin!", sagte er, grinsend seine Kollegen und danach wieder sie ansehend.
"Hát... [Nun...]", begann sie, kratzte sich unter ihrem linken, halbblinden Auge und dachte spontan an den einzigen Witz den sie kannte:
"Also, ein Mann sitzt... Ein Mann sitzt bei Arzt. Arzt sagt: 'Ich habe geguckt bei dir, ähm, untenrum, ja!? Und untenrum ist soweit gut, nur du hast zwei verschiedene, ähm, golyók - Eier. Hoden. Und Mann sagt: 'Oh, was meinen Sie denn damit?' Und Arzt sagt dann: 'Ein Ei ist aus Gold und ein Ei aus Bronze.' Der Mann ist, ähm, rázott, weißt du - völlig weg, so und sagt: 'Wie soll ich das denn mein Kindern erklären?' Der Arzt guckt so überrascht und sagt: 'Kinder? Schwör?' und Mann antwortet: 'Ja, der Midas ist 3 und der Koloss von Rhodos ist 5."
Totenstille. Der Hauptwachmann grinste zwar milde, aber das konnte nie und nimmer als Lachen gezählt werden.
Sie starrte in die Runde und fügte im furztrockenen Tonfall "Ist lustiger in mein Muttersprache." hinzu.
Als der Kerl plötzlich und ohne Vorwarnung mit seinen riesengroß erscheinenden Händen in ihre Richtung griff, griff sie wiederum in den Beutel mit dem "Wunderpulver", das sie immer nach einer Wahrsagung verstreute (einer meistens völlig falschen, natürlich) und schleuderte ihm eine Handvoll in die Augen, bevor sie ihn mit einem saftigen Tritt ins Gemächt kurzfristig außer Gefecht setzte. Mit einem Bocksprung hüpfte sie über den vor Schmerzen am Boden knienden Kerl und rannte einfach, hinter ihr großes Geschrei der anderen drei "Wachen" hörend. Kurz hörte sie Djángos Gefiepe aus ihrem um den Rücken geschnallten Allzweckbeutel und konnte nur mit einem "Tut mir leid! Wollt' dich nicht wecken!" antworten.
Heute
Querfeldein ging sie durch das kleine Wäldchen am Straßenrand, zwar der Straße folgend, aber doch respektvollen Abstand von ihr haltend. Bis sie endlich Rauch am Horizont aufsteigen sah. Sie war hungrig, ihre Füße schmerzten, ihr Rücken noch mehr, Djángo hechelte genau wie sie, sich nach etwas zu fressen sehnend. "Bassza meg... [Och scheiße...]", stöhnte sie. "Ist das irgendwie Vision oder so? Stadt erst nah dran, dann weit weg, dann nah dran... Ist zum kotzen, ist immer dasselbe mit... Elegem van! [Mir reicht's!] Verdammte Scheiße!", sie stoppte um sich beide Hände vors Gesicht zu halten, schreite frustrierte Hasstiraden in ihre Weisheitslinien.
Warum habt ihr mich zurückgelassen?
Doch lange hielt diese Frustrationswelle nicht an. Sie ging weiter der Stadt entgegen, langsam, die Hände immer noch vor dem Mund haltend, aber nichts sagend und die Tränen zurückhaltend. Etwa paar hundert Meter vor dem Eingang entfernte sie die Hände vom Mund und rieb sich damit die Augen. Und als sie endlich hineintrat, wurde ihr verschiedene Düfte in die Nase getrieben, Rauch, Essen, Essen, Schafscheiße, Essen. Sie wusste noch nicht genau, woher sie das letztere organisieren sollte, aber irgendetwas würde ihr schon einfallen. Selbst Djángo - das schwarze Frettchen mit weißer Bauchlinie - streckte neugierig den Kopf heraus und schaute sich um, während augenscheinlich einige Blicke an ihr klebten.
"Oh, das wird lustig...", murmelte sie sich selbst mit sarkastischem Tonfall zu und fixierte in diesem Moment mit ihrem guten Auge einen rothaarigen Burschen, der irgendwie nicht so recht ins Bild passen wollte. Dennoch ging sie strickt in die Richtung, in die sie vermutete, unauffällig etwas zu essen abgreifen zu können. Und vielleicht sollte sie auch noch jemanden suchen, der sich ihren linken Fuß ansah. Denn lange konnte sie so nicht durch die Gegend humpeln mit dem gefühlten halben Dornenbusch in ihrer Fußsohle...