Nachdem Dio der Schlingel noch nicht geantwortet hat, antworte ich mal auf Tyr:

Zum ersten Punkt:
Ich denke es ist eben sehr wichtig hier weiter zu unterscheiden. Du machst das ja selbst schon, indem du Arbeit und privates trennst. Ich kann aber auch z.B. von meiner Einstellung her gerne mehr Zeit mit meiner Familie verbringen wollen (und das auch ernsthaft so sehen) es aber trotzdem nicht umsetzen können, weil es beruflich und monetär nicht möglich ist.

Selbiges sehe ich auch im Privatleben als durchaus möglich. Ich kann deinen Punkt mit dem Glückwünschen absolut verstehen und finde es auch seltsam, wenn man nach dem Befinden fragt, es aber im Grunde gar nicht interessiert. Ich glaube aber auch, dass man hier deutlich zwischen sozialer Konvention bzw. ggf. small talk und aufrichtigem Interesse unterscheiden muss. Dass sich der Bankangestellte nicht_wirklich für meine Befindlichkeit aktuell interessiert, sondern man eben fragt wie's geht, finde ich bspw. durchaus verständlich. Bei seinen Freunden kann man ggf. schon eher erwarten, dass sich diese für einen interessieren, obwohl man auch da sagen muss, dass es sicher auf den Grad der Intimität der Beziehung ankommt, d.h. wie eng ist man wirklich befreundet.
Vielleicht schlägt auch der Aspekt der Notlüge da mit rein bzw. dass man nur halbaufrichtig ist, wenn man etwas gefragt wird. Manchmal möchte man andere Leute einfach nicht vor den Kopf stoßen, weil man weiß, dass sie es übel nehmen würden, oder das es zu Konflikten führen würde. Soll man dann trotzdem den Konflikt eingehen? Das geht eben auch nur bedingt. Will heißen, konstante Ehrlichkeit ist mMn. eine Illuision, jeder von uns flunkert täglich etliche Male oder sagt gewisse Dinge vielleicht "diplomatisch".

Zum zweiten Punkt:
Sowas gibt es für mich ehrlich gesagt nicht. Ich bin der Meinung dass Persönlichkeit im Wechsel zwischen Indiviuum und Gesellschaft entsteht und ich glaube nicht an eine genuin inhärente Ausprägung von Persönlichkeit/Charakter. Ich lasse von mir aus gelten, dass wir durch unterschiedliche genetisch-hormonelle Anlagen unterschiedliche Temperamente etc. haben und dass sich dies in einem gewissen Rahmen auswirkt, aber eben nur in einem gewissen Rahmen. Alles darüber hinaus ist aus meiner Sicht wie gesagt im Austausch von Individuum und Gesellschaft konstruiert.
Insofern kann und darf man alles thematisieren und kritisieren. Natürlich macht der Ton die Musik und man sollte mMn. niemanden vor den Kopf stoßen, es gibt Diskussionsregeln etc., aber warum sollte man andere nicht kritisieren können? Auch die Behauptung, das ein bestimmter "Glaube" schon durchdacht sein wird, halte ich für ziemlich fragwürdig. Glaube ist für mich nicht gleichbedeutend mit Wissen und es gibt genug Beispiele, in denen einfach irgendwelche Dinge "geglaubt" werden, ohne das diese reflektiert werden. Schau dir die Verschwörungstheoretiker an, die glauben man sei nie auf dem Mond gewesen. Deren Argumente sind - wissenschaftlich gesehen - völliger Unfug und damit sollte man diese Leute konfrontieren (können), damit sich andere, die sich eine Meinung bilden möchten, anhand der Fakten/Argumente selbst ein Urteil bilden können, welche Position sie einnehmen.
Jemand der einfach nur glauben will, sich wider aller Argumente nicht überzeugen lässt, ist wahrscheinlich ignorant oder ziemlich borniert. Ich bin dabei davon überzeugt, dass jemand, der sich seiner Sache sicher ist, auch immer entsprechende Argumente parat haben wird, um seinen Standpunkt (weiter) zu verteidigen. Es geht insgesamt eben immer darum, dass man sich mit dem Argumenten die gebracht werden auseinandersetzt und prüft, ob und ggf. was an den Punkten dran sein könnte. Das muss ja auch nicht heißen, dass man den eigenen Standpunkt verlässt oder komplett aufgibt und ins Gegenteil verkehrt, aber es kann bedeuten, dass man die eigene Position überdenkt, ergänzt und erweitert. Was übrigens auch aus meiner Sicht ein wichtiger Punkt ist, um persönlich zu reifen, denn wenn man mit 25 noch die selben "Ideen" und Konzepte im Kopf hat, wie mit 15, ist mMn. irgendwas in der Entwicklung schiefgelaufen.

Natürlich gibt es keine ultimative Weise zu leben, schon gar nicht in unserer aktuellen Gesellschaft. Aber gerade der Austuasch und die Auseinandersetzung führt eben zu Normen, nach denen wir uns alle richten bzw. an denen sich ein Großteil der Menschen orientiert, tun wir alle, du genauso wie ich. Es geht mir nicht darum, jemandem etwas aufzuzwingen, sondern darum, dass man prinzipiell offen sein sollte, wenn man mit Kritik konfrontiert wird. Wenn man aber meint, "ich bin so, weil ich so veranlagt bin" oder "weil Gott mich so will" oder "weil das eben mein Schicksal ist", verschiebt man die Verantwortung auf eine abstrakte, nicht greifbare Ebene, gibt die Verantwortung ab und zwar ohne, dass man tatsächlich aktiv werden müsste (weder im Denken noch im Handeln), weil alles ja sowieso schon fix ist.

Ich glaub auch, dass das Netz immer ein heikler Ort für solche Debatten ist, aber auch hier zählen mMn. echte Argumente. Tun wir ja auch gerade. Ich schreibe hier nicht, um eine Diskussion zu "gewinnen", sondern weil ich natürlich meinen Standpunkt vertrete und versuche, dir durch Argumente eine andere Perspektive zu bieten, mit der du dich auseinandersetzen kannst. Genauso wie ich mir deine Punkte durchlese. Wenn diese für mich schlüssig sind, dann werd ich da für mich auch die entsprechenden Konsequenzen ziehen, ganz klar, denn das ist eben der Unterschied zwischen Glaube und Argumenten. Würde ich am Glauben hängen, würd ich meine Meinung verabsolutieren, meine Haltung hängt aber nicht absolut an dem was ich glaube, sondern an dem was ich - aktuell - glaube und das kann durch neue Erkenntnisse und Informationen immer erneuert und erweitert werden.