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Young Imperial Combo
Das kleine Lokal, das ein beeindruckendes Ambiente dafür, dass es auf einem Schiff war, aufwies, schien gut besucht. Zumindest an diesem Tag gab es wenig freie Plätze und die Sitze an der Bar waren voll belegt. Es gab tatsächlich einen kleinen Bereich, der wohl für Abendunterhaltung zur Verfügung stand, zumindest stand in einer Ecke ein Mikrofonständer neben einem kleinen Lautsprecher.
Clover zögerte nicht lange, schlängelte sich durch die Gäste und schaltete die Box an. Ein unangenehmes, kurzes Rauschen folgte und die Menschen im Lokal zuckten zusammen. "Was zum-", hörte man den wütenden Ausbruch des Mannes hinter der Bar, aber mitten im Satz schien ihm die Luft wegzubleiben.
Alle starrten die rothaarige Frau an, die nun nervös eine sehr mitgenommen aussehende Gitarre in die Hand nahm. Erster Auftritt mit sechs Saiten. Na dann mal los.
Believe in Dreams
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Ian und Clover hatten mehr als zwei Jahre damit verbracht, nach Shelley zu suchen. Lange waren sie rastlos umhergezogen und während den unzähligen Schiffsfahrten hatte Clover eine Gitarre erstehen können. Nachdem sie ihre Ukulele damals liegengelassen hatte, hatte sie fieberhaft nach Ersatz gesucht, aber in Zeiten wie diesen war es nicht einfach, genau das aufzutreiben, was man suchte. So hatte Clover viel Zeit damit verbracht, sich Gitarrengriffe beizubringen. Ian war der einzige, der ihr dabei zuhören durfte. Wenn er einmal mehr nahe dran war, die Hoffnung wegen Shelley beinahe aufzugegeben, hatte sie sich sogar ab und zu überwunden, ihm mit ihren holprigen Gitarrenkünsten komplette Lieder vorzuspielen.
Am Ende hatte sich die Reise jedenfalls gelohnt - sie hatten Shelley gefunden. Auch wenn die Begegnung Clover mit einem gewissen Schuldgefühl behaftet hatte, war es doch der notwendige Schritt gewesen, um eine gemeinsame Zukunft verbringen zu können. Und diese sollte es auf jeden Fall geben - während der zahlreichen Monate hatte es genug Zeit gegeben, um die Wunden der Vergangenheit zu erläutern und vielleicht sogar zu heilen. Clover wollte ohne Zweifel ihr ganzes restliches Leben mit Ian verbringen.
"Und wo?" Ian setzte gerade das erste Mal seit Tagen einen Fuß an Land und reichte Clover die Hand, um sie im Getümmel nicht zu verlieren. Die Häfen waren für ihre geringe Größe in letzter Zeit immer recht überlaufen - hauptsächlich von Menschen, die weg wollten. "Am besten weit fort, schätze ich.", antwortete Clover lächelnd. "Du hast gehört, wie düster es aussieht, wir sollten wirklich langsam aus der Gegend hier verschwinden. Jetzt, wo wir auch wirklich hinkönnen, wo wir wollen." Sie strich Ian über die Wange, damit er wusste, dass es nicht so hart gemeint war wie es klang. Aber er wusste es ohnehin. Inzwischen verstand er sie auch ohne Worte.
"Dann lass uns mal sehen, welches Schiff von hier das entfernteste Ziel hat und wir sind auf und davon!" Ian wollte Clover an der Hand weiterziehen, doch sie schien plötzlich wie versteinert. Er folgte ihrem Blick, der sich auf eine Richtung fixiert hatte und Sekunden später stand ihm der Mund offen. "Ist das..." "Josh."
Josh war am Ende seines Tagwerkes angekommen und glücklich seinem Feierabend entgegengerannt, begleitet vom Klimpern des frisch verdienten Geldes in den Tiefen seiner sonst inzwischen leeren Tasche. Erneut hatte ein Passagierschiff seine bunte Fracht an Land gespuckt und der Hafen war vollkommen überlaufen. Joshua, der gegen den Strom der Menschenmenge gelaufen war, hatte sein bestes getan, den Menschen auszuweichen, doch in einem derartigen Gedränge achtet niemand auf ein mageres, elfjähriges Kind mit einer Irenmütze und so war er nicht umhingekommen, unschöne Bekanntschaften mit Kofferkanten und Ellenbogen zu machen. Unsanft an die Seite gedrängt, spürte er schließlich den Handlauf einer Absperrung im Rücken.
Aber ja doch...
Mit einem Satz war er oben gewesen und nun balancierte er seinem Ziel entgegen, den Kopf für alle sichtbar einen guten halben Meter über der Menschenmenge. Da vorne sah er schon die "Little Ireland". Die Neuankömmlinge strömten wie ein Fluss an ihm vorbei. Plötzlich sah er aus den Augenwinkeln heraus etwas, das ihn irritierte. Er hätte es jedoch nicht näher beachtet, wenn er nicht zwei ihm bekannte Stimmen gehört hätte, die seinen Namen aussprachen.
Er fuhr herum und sah einen roten Schopf in der Menge aufleuchten, darunter ein ihm bekanntes Gesicht. Direkt daneben ein zweites. Seine Kinnlade sackte herunter. Das konnte doch nicht... nein... kein Zweifel. "Clover! Ian!"
Der Junge sprang von der Brüstung und stolperte geradezu in das junge Pärchen hinein. Lachend und fassungslos umarmte er sie. "Dass ihr ausgerechnet hier seid, zur selben Zeit wie ich... Drei Jahre!" Er war außer sich vor Freude.
"Josh! Du bist so groß geworden! Es ist so gut, dich zu sehen!", Clover umarmte ihn gleich noch einmal.
"Wo sind die anderen? Léo, Noah, Alistair, geht es ihnen allen gut?"
Wie ein Keil standen die drei in dem Strom aus Menschen und wurden unsanft hin und her geschubst. Aber es war ihnen egal.
"Oh ja! Es geht ihnen gut, wir denken oft an euch. An alle. Kommt mit mir, ihr müsst sie unbedingt wiedersehen. Wir wollen morgen schon wieder ablegen!"
"Ablegen? Wohin?", fragte Clover etwas atemlos.
"Na... Überall hin. Wohin ihr wollt." Joshua lächelte. "Wir haben mit einigen anderen eine Zigeuner-Flotte gegründet. Unser eigenes kleines Irland, als das alte... vor die Hunde ging." Er sah die beiden eindringlich an, "Ich kenne nicht eure Pläne und ich weiß nicht, was euch hier her führt, aber ihr wisst, ihr seid jederzeit willkommen."
Ian und Clover wechselten einen Blick. Es ging alles so schnell. Das Schicksal drehte in diesen Zeiten häufiger als der Wind. Sie sahen einander in die Augen und wussten, dass sie beide dasselbe dachten.
Schmunzeln.
"Du bist also Teil dieser Zigeunerflotte, du kennst die Sicherheitsvorkehrungen..."
"...und bestimmt auch einen Weg, zwei Erwachsene da unbemerkt raufzubringen?"
"Aber ja.", der Junge klang irritiert.
Clover kicherte.
"Wenn das so ist, Josh, dann hätten wir eine Bitte an dich."
~~~
Das Lied war vorbei und Clover legte die Gitarre nach den letzten Akkorden behutsam neben den Lautsprecher und das Mikrofon. Danach richtete sie sich auf und blickte zur Bar. Ohne ein weiteres Zögern stürmte sie zu dem Mann, der sie immer noch verwirrt anstarrte und fiel ihm um den Hals. Alistair hatte sich kaum verändert, seine Bartstoppel kratzten an Clovers Wange und ein leichter Geruch nach Alkohol ging von ihm aus. "Das hat mir irgendwie gefehlt.", hauchte die Sängerin und Tränen waren ihr in die Augen gestiegen. "Verdammt Mädchen, ich dachte schon, heute hätte ich es eindeutig übertrieben.", murrte Alistair, als er offenbar erkannt hatte, dass er nicht an Halluzinationen litt und Clover nun auch drückte. "Wie bist du denn hierher gekommen?" "Mit Glück.", antwortete Clover, als sie sich von ihm löste und klopfte ihm auf die Brust. "Mit wirklich viel Glück." Sie lächelte ihn an und wischte sich eine kleine Freudenträne aus dem Gesicht.
"Bist du alleine?", fragte der Ire dann mit hochgezogenen Augenbrauen. Die Sängerin schüttelte den Kopf und deutete zum Eingang des Pubs, wo Ian gewartet hatte. Er stand dort allerdings nicht mehr alleine. Er hatte ein Mädchen auf dem Arm, das sich seelig an ihn kuschelte, während Josh und Noah um die beiden herumtänzelten und aufgeregt auf sie einredeten.
Alistair machte einen knurrenden Laut, der allerdings nicht bedrohlich oder enttäuscht, sondern eher zufrieden klang. "Willst du sie nicht auch begrüßen?", fragte er und schob sie sanft in die Richtung der fröhlichen Truppe.
Ian setzte Léo wieder auf dem Boden ab, als er Alistair und Clover erblickte. Clover brachte kein Wort heraus, als sie Léo musterte. Sie war ziemlich gewachsen und hatte auch ein kleines bisschen den unschuldigen Ausdruck in ihren Augen verloren. Als ihr Blick die Sängerin traf, fühlte sie sich all die Jahre zurückversetzt zu dem Moment, in dem das kleine Mädchen ihr das Wichtigste geworden war. Der Mensch, für den es sich zu kämpfen gelohnt hatte und der nun nach langer Zeit wieder vor ihr stand und ihr das strahlendste Lächeln schenkte, das man sich nur vorstellen konnte.
Clover musste sich nicht einmal mehr richtig bücken, um Léo in die Arme zu schließen. Augenblicklich schossen die Freudentränen zurück in ihre Augen und bahnten sich unaufhaltsam den Weg über ihre Wangen. Sie drückte das Mädchen so fest sie konnte und in dem Moment fühlte sie sich, als müsste sie jemand schon gewaltsam fortreißen, um Léo jemals wieder loszulassen.
Nachdem Ian Lèo abgesetzt hatte und eine Weile mit einem Grinsen das emotionale Wiedersehen von ihr und Clover betrachtete, fiel sein Blick auf den Iren, der die rothaarige Sängerin eben noch zu ihnen geschoben hatte. Ian war sich stets bewusst gewesen, dass er sich auch - und ganz besonders - auf ein Wiedersehen mit Alistair freute, seit sie durch Zufall von Josh aufgegriffen wurden. Der grobe, auf den ersten Blick unsensible Kerl hatte damals dafür gesorgt, dass Ian an sich selbst zweifelte - und das war der Grundstein für die Kraft gewesen, die er in den letzten 3 Jahren entwickeln musste. Deshalb wandte er sich jetzt auch an ihn. "Hey!"
Alistair blickte auf Ian. Er schien sich verändert zu haben, zumindest äußerlich. Er nickte zum Gruß nur knapp und verschränkte dann die Arme vor der Brust, als er ein Ziehen an seinem Hemd spührte und Noah neben ihm stand und erwartungsvoll zu ihm aufblickte. “Bleiben die zwei jetzt bei uns?”
Der Ire schaute zu Clover, und dann wieder zu Ian. Besonders Leo freute sich über das Wiedersehen.
Auch Ians Blick wurde neugierig. "Jaa - bleiben wir zwei jetzt hier?", fragte er und lächelte, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass das zumindest sein Wunsch wäre.
Alistair schaute in die leuchtenden Kinderaugen, zog sich die Mütze vom Schädel und kratzte sich am Kopf. Dann knurrte er kurz und verschränkte wieder die Arme vor der Brust.
“Meinetwegen”, brummte er und wandte sich dann wieder an Ian, “Hast es ja immerhin bis hierher geschafft und dafür gesorgt, dass auch Clover bis jetzt überlebt hat.” Er entspannte sich und ließ die Arme locker runter hängen. “Aber jeder der uns begleiten will, muss auch zum Wohl der Gemeinschaft beitragen, deshalb solltet ihr euch geeignete Jobs suchen.”
Breit grinsend nickte Ian. "“Klar! Hast du da was für uns im Kopf?”
Alistair sah sich um.
“Nimm’s mir nicht übel, Ian, aber mir wär es lieber, wenn ich dich vorerst noch im Auge behalten könnte. Deshalb kannst du mir erstmal hier im Pub aushelfen. Tische putzen, Getränke ausschenken und so nen Kram. Meinst du, du kommst damit klar?”
Der Ire grinste ihn ein wenig schadenfroh an.
Das Grinsen verschwand nicht aus Ians Gesicht, wurde sogar noch etwas breiter. Vor ein paar Minuten hätte er nicht darauf wetten wollen, überhaupt hier bleiben zu dürfen.
"Alles, was du willst!", antwortete er und reichte dem Iren seine Hand. "Und Clover?"
Alistar schüttelte die ihm dargebotene Hand und deutete mit der freien in Richtung Bühne.
“Wir haben ne Musikertruppe hier, die am Abend und zu besonderen Anlässen für Stimmung sorgt. Ansonsten gibt es bestimmt noch andere Kleinigkeiten, bei denen sie ab und an mal aushelfen kann.”
Clover, die Léo nun doch noch losgelassen hatte, strahlte Alistair und Ian an, unfähig zu entscheiden, wem sie zuerst um den Hals fallen sollte. Schließlich entschied sie sich für Alistair und hauchte ihm ein "Danke!" ins Ohr. Danach küsste sie Ian überschwänglich und blieb schließlich eine Weile in seiner Umarmung stehen. Ihr fiel kein Moment ein, in dem sie glücklicher gewesen war. Die Zukunft konnte kommen.
~~~
Es waren einige Wochen vergangen, als Clover ein weiteres Mal in Alistairs Pub vor dem Mikrofon stand. Inzwischen hatten Ian und sie sich gut eingelebt - er machte ohne Widerworte alles, was Alistair ihm auftrug und der Ire schien wirklich zufrieden mit seinem Helfer zu sein. Die Sängerin hatte indessen viel Zeit mit den Musikern auf dem Schiff verbracht und war dort auf richtige Virtuosen gestoßen. Gerade im Gitarrenspiel konnte sie richtige Fortschritte machen und nun war der Zeitpunkt gekommen, etwas zu wagen, das schon drei Jahre lang in ihrem Kopf herumgeisterte.
Nachdem die rote Ukulele damals auf dem Dach zurückgelassen werden hatte müssen, war es Clover nicht mehr möglich gewesen, ein Versprechen einzuhalten. Zwar war es nur ein Satz im Crown Hotel gewesen, doch die Sängerin hatte nicht vergessen, worum Tess sie dort gebeten hatte.
In den vier Tagen nach der Rettung auf dem Schiff hatte Clover es nicht hinbekommen, ohne Instrument "Dust in the Wind" zu performen, aber einige Zeit später erkannte sie auch, dass es selbst mit der Ukulele schwierig gewesen wäre.
Jetzt, nach einiger harter Arbeit, wollte Clover das Versprechen endlich einlösen. Sie wusste natürlich, dass Tess niemals davon erfahren würde, aber ihr unerschütterlicher Optimismus ließ sie in dem Glauben, dass sie es trotzdem irgendwie spüren würde - wo immer sie auch war.
Es ging jetzt auch nicht darum, einer einzigen Person ein Lied vorzuspielen, sondern dieses Lied für jeden zu singen, der sie auf ihrem Weg aus Sydney begleitet und gerettet hatte. Egal wo sie alle nun waren, ob tot oder meilenweit entfernt, man durfte sie und alles was sie getan hatten niemals vergessen.
Niemals hatte sie all denen danken können, die es überhaupt ermöglicht hatten, dass sie nun am Leben war und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken konnte - mit Menschen, die sie liebte.
Dust in the Wind
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