Mit purpurenen Wangen war Léo neben Josh zu den Anderen gelaufen In ihrem Leben hatte sie schon viele Küsse an Männer verteilt: an Papa, an ihre Onkel, an hilfsbereite Fremde, auch Riley hatte einen bekommen. Aber noch nie, niemals hatte sie einen Jungen in ihrem Alter geküsst, weil das ja mal etwas vollkommen Anderes war. Nach ihrer unglaublichen Tat hatte sie Josh er ein paar Momente strahlend angelächelt, dann schockiert, und war dann rasend schnell aufgesprungen, weil sie ja zum Hafen laufen wollten. Sie konnte ihn einfach nicht mehr ansehen, warum genau, wusste sie selbst nicht, es ging einfach nicht. Josh hatte sich stumm bei ihr eingehakt und war mit ihr losgegangen.
Als erstes rannte Noah zu ihnen und fiel seinem Bruder und dann dem Mädchen um den Hals. Léo wirbelte mit dem kleinen Jungen um die eigene Achse und zufällig trafen sich Joshs und ihr Blick. Sofort hörte das Wirbeln auf, ein paar ewige Momente schaute sie in sein leicht gerötetes, hübsches Gesicht und lächelte ihm dann zu. Da war nichts zum Nicht-angucken, sie hatte ihm vollkommen verständlich auf die Wange geküsst, er war ja auch ein lieber Junge. Und sie hatte ihn ja gar nicht auf dem Mund geschmatzt, also war alles in Butter.
Zusammen erreichten sie sehr schnell, unter Rücksichtnahme der Behinderung durch der herumliegenden Sachen und Menschen, den Hafen, der in das warme Licht des Sonnenaufgangs gehüllt war. Nur wo war das Schiff, mit dem sie fahren wollten? Der Gedanke wurde auf später verschoben, denn Onkel Alistair rannte auf die drei zu und sie taten es ihm gleich. Überschwenglich fiel die Begrüßung aus. Nach einem dicken Stirnschmatzer für jedes der drei Kinder sprach Noah das aus, was ihnen allen wohl nun am meisten auffiel:
"Wo ist denn das Boot?"
Léo blickte sich um. Am Hafen war definitiv keines, das hätte man ja schnell gesehen. Viele der großen schauten zum Sonnenaufgang über dem Meer, also tat sie es ihnen gleich und schirmte das Licht etwas mit Rileys tollem Schal ab. Da war etwas…mit zusammengekniffenen Augen machte die Kleine mit ziemlicher Sicherheit ein Schiff aus. Si deutete mit ausgestrecktem Arm auf ihren Fund.
Da vorne, es ist ohne uns los…
Noch einmal glitt ihr Blick umher über das Gelände. Nirgendwo sah sie einen Militärtruck oder einen Mexikaner, der fieberhaft nach seiner kleinen Tochter suchte. War er vielleicht da vorne auf dem Schiff? Aber er würde nie hier wegwollen, wenn sie nicht dabei wäre. Aber vielleicht hatte er auch gedacht, dass sie bereits auf dem Schiff ist und sucht sie jetzt gerade auf ihm. Léo seufzte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es noch eine ganze Weile dauern würde, bis sie Papa wiederfinden würde. Aber es wird irgendwann klappen, da war sie sich sicher, denn sie hatte ja großartige liebe Leute hier, die ihr bestimmt helfen würde. Auch wenn Onkel Alistair eben gesagt hatte, dass Irland kommen könne für ihn und die Brüder, wo Papa bestimmt nicht war. Außerdem machte sie der Gedanke daran, dass die drei dann für immer von ihr weg waren, unglaublich traurig. Sie schüttelte sich. Nicht mehr traurig sein, das hatte sie sich doch geschworen!
"Hey seht mal was ich hier habe" zog Onkel Alistair sie wieder in die Wirklichkeit. Der Ire gab Noah, Josh und ihr jeweils einen Lollie und Léos Augen begannen zu leuchten, als sie sich die süße Kugel am Stiel in den Mund schob. Noah wirkte jetzt ganz traurig, und während sich das Mädchen umschaute nach dem Rest ihrer Gruppe, hörte sie ihn schniefend sagen:
"Andris, er hat gesagt ... er würde einen anderen Weg finden. E...her passte nichte durch das Loch. Do...hob ha...hatte noch nach ih...him gerufen aber er hat nicht geantwortet."
Ihre Augen weiteten sich. Er hatte Recht, der alte nette Mann war nirgends zu sehen. War Andris jetzt etwa…? So wie Travis und Ryan und Axel? Der Lollie fiel ihr aus dem Mund und landete auf dem Boden. Wie automatisch kam ein Ich bin gleich wieder da aus ihr heraus.
Mit Álvaro und Campanilla dazwischengeklemmt auf dem Rücken ging sie über das weite Hafengelände, auf der Suche nach einem schönen, unbemüllten Platz. Vorne am Hafen erstreckte sich ein kleiner, aber sehr hübscher Strand, sie stolperte fast über einen großen, ovalen, vollkommen glatt geschliffenen hellgrauen Stein und wusste, dass das der perfekte Ort war. Nicht mal verabschiedet hatte sie sich von dem Alten, weil sie sich so sicher gewesen war, dass sie ihn hier wiedersehen würde. Die Kleine sah sich nach weiteren hübschen Steinen um, die man dazulegen könnte und fand in der Tat noch zwei weitere, die sie auf dem großen zu einer Art kleinen Turm aufbaute. Außerdem fand sie eine wunderschöne, große Muschelschale, die sie auch mitnahm. Der oberste Stein war sehr flach, und so legte sie behutsam die Muschel darauf. Dann nahm sie Álvaro vom Rücken, öffnete seinen Bauch und kramte ein wenig in ihm herum, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte.
Die Calavera de dulce grinste sie mit ihren überaus weißen Zähnen und aus leeren Augenhöhlen an. Bedächtig kratzte sie das „Leocadia“ vom Totenkopf und ritzte dann mit ihren Fingernägeln voller Hingabe an der Stelle „Andris“ ein. Den Zuckerschädel, die Speise für die Toten in México, platzierte sie hinter der Muschel auf dem Stein. Eigentlich war es sehr makaber, dass sie ihren eigenen immer dabeigehabt hatte, aber jetzt erfüllte er einen besseren Zweck als in einem Plüschaffen zu versauern. Während sie bedächtig die Cempasúchil-Blütenkette auf dem selbstgebautem Grab des Letten drapierte, begann sie leise mit ihrer klaren Stimme zu singen.
Tränen bildeten sich in ihren Augen.
Abuela hatte dieses Lied zur Beerdigung von Onkel Rámon Eduardo gesungen. Léo mit Drei Jahren hatte das Versprechen ihrem Papa gegenüber gehalten und Niemandem davon erzählt, dass sie gesehen hatte, wie und von wem ihr lieber Onkel umgebracht wurde, es einfach vergessen, wie versprochen. Ihr jüngster Sohn saß direkt links neben der klagend singenden Mutter, ihre Enkelin zu ihrer Rechten. Léos Mama musste ganz hinten sitzen, aber das war Angela auch sehr recht gewesen. Dem Kleinkind war das Wasser aus den Augen gequollen, doch Abuela wischte diese unbeirrt weiter singend weg und deutete an, dass Léo das lassen sollte. In México sollten die Toten bei der Beerdigung und danach nicht mehr beweint werden, das würde ihre Reise auf die andere Seite nur unnötig schwer machen und sie würden zum Dia de los Muertos nicht mehr gerne zu ihren lebenden Lieben zurückkehren. Augenblicklich stoppte das Bächlein und die kleine lächelte zu ihrer Großmutter hoch. Natürlich wollte sie, dass Onkel Rámon ordentlich tot sein konnte…
Und auch Andris sollte das können. Sie durfte nicht traurig sein. Die Tränen wurden schnell weggewischt, und als sie mit ihrem Lied geendet hatte, strich das Kind behütsam über den das Grab umgebenden Sand, ein hübsches Muster streichend. Im orangenen Licht der aufgehenden Sonne, den Geruch des Meeres in der Nase und das Rauschen der Wellen im Ohr war es ein wundervoller Anblick. Sanft lächelte sie, umfasste dann ihr Rosenkranzarmband und betete für Helena, Cyrillus und vor allem Riley, dass alles bei ihnen gut laufen würde und sie sich baldmöglichst wiedersehen konnten.
Langsam kehrte sie zurück zu den Anderen, immernoch ganz bendebelt von der wunderschönen Idylle des Ortes der letzten Ruhe für den alten Letten, den sie so gern gehabt hatte.
Sie hörte Tess rufen, dass doch Jemand anderes Sherlock spielen soll, wenn er das wollte und plötzliche Begeisterung machte sich in ihr breit. Das war jetzt genau das Richtige. Mit Josh und Noah würde das bestimmt ein Riesenspaß werden! Gerade lenkten sie ihre Schritte zu den Jungs, als sie entfernt Onkel Alistair sah, der Ian wieder am Kragen packte und die beiden dann umfielen und sich irgendwie rangelten. Völlig perplex stand sie da. Was hatten denn die beiden für ein Problem miteinander? Es ging ihr absolut nicht in den Kopf. Onkel Alistair war absolut lieb und Ian doch eigentlich auch…obwohl, er hatte schon lange nichts mehr mit ihr gemacht, woher wollte Léo wissen, dass Ian jetzt nicht böse geworden war? Aber Clover hatte ihn doch so lieb und würde ihn heiraten, also konnte er nicht böse sein! Der Ire war aufgeprungen, trank den Apfelsaft für Fortgeschrittene und stapfte dann zu Abbys Söhnen. Ian dafür…bekam gerade eine Ohrfeige von Clover, die doch noch nie auch nur irgendwie jemanden etwas hätte tun können! Ian war also doch definitiv böse geworden. Deswegen wollte er auch nicht mehr bei ihr sein und Léo hatte gedacht, sie hätte einen Fehler gemacht. Schnell lief sie den Jungs und ihrem Irenonkel, das schlimme Gefühl, dass in ihrem bauch hochkommen wollte, gar nicht zulassend. Sie musste glücklich sein für die Anderen, das musste sie, weil die anderen doch so viel für sie machten, sie konnte nicht einfach traurig sein.
Bei den dreien angekommen, fragte sie ohne Umschweife die Brüder:
Wollt ihr was ganz Tolles für alle Lieben machen, die in unserer Gruppe waren?
Die Detektivarbeit müsste warten, sie wollte eigentlich mit Ian anfangen, doch nun war da irgendwie nicht mehr richtig.
Begeistert stimmten die Jungs zu.
Schweigend dachte Léo daran, wie wenige sie nun noch waren und dass da auch locker Clover und Onkel Alistair oder Tess oder der gute Dob dazugehören konnten, dem sie ja noch Papas Süßigkeiten geben wollte. Kurz schniefte sie, doch verbitt sich, traurig zu werden. Für die Anderen, das hatte ssie geschworen.
Plötzlich umarmte sie Noah und kurz darauf nahm Josh sie still bei der Hand und sie setzten sich neben Onkel Alistair. Die Frage Joshs an ihn bekam sie nicht mit, auch nicht, was Alistair ihm antworte. Sie dachte darüber nach, was sie jetzt machen sollte, wenn sich die Gruppe trennen würde und sie Papa noch nicht gefunden hatte. Eigentlich wollte sie bei Clover bleiben, weil sie einfach immer so lieb zu ihr war und das Mädchen die Sängerin einfach unglaublich gern hatte. Und weil Ian bei ihr war und sie ihn auch gerngehabt hatte. Doch jetzt, wo Ian offensichtlich böse war, konnte sie das ja nicht mehr machen und irgendwie hatte sie keine Ahnung, was sie sonst machen sollte. Onkel Alistair wollte mit Noah und Josh nach Irland, das wusste Léo, und den Iren hatte sie auch unglaublich lieb. Seit dem Hotel war er wie ein Eratzpapa für sie gewesen, immer da, wenn sie es nötig hatte und er hatte ihr ja auch gezeigt, dass sie ein Kobold war! Und dann Noah und Josh, die beiden hatte sie eben erst kennengelernt, doch schon in den wenigen Stunden so lieb gewonnen, dass sie eigentlich gar nicht mehr von ihnen wegwollte. Doch war ihr nicht klar, ob Onkel Alistair auch einen mexikanischen Kobold mit zu seiner Heimat nehmen wollten.
Sie wurde unglaublich traurig. Aber sie durf- ach was soll das denn? Léo war traurig, wegen allem, was sie in den letzten Tagen traurig gemacht hatte und sie einfach runtergeschluckt hatte und vor allem traurig von der Unsicherheit darüber, was aus ihr werden sollte.
Sie hob ihren Kopf, ihre Lippen zuckten und vor dem Wasser in ihren Augen konnte sie Onkel Alistair nur unscharf sehen, als sie ihn kleinlaut und fast schon flehend fragte:
Darf ich mit euch nach Irland kommen?