Als Ian offensichtlich alles Wichtige gesagt hatte und nun zur Seite starrte, zog Clover ihre Hand langsam aus seinem sanften Griff. Dann erhob sie sich, ging ein paar Schritte, nur um wieder umzudrehen und in die andere Richtung zu laufen. Bei diesem Hin und Her kam sie sich ein bisschen wie ein Tiger in einem Käfig vor, nur dass sie gerade bestimmt nicht bedrohlich, sondern eher komplett lächerlich aussah.
Aber sie konnte jetzt nicht still sitzen.
Erst nach einer Weile, nachdem sie nur stumm hin und her gelaufen war und ihre Unterlippe fast blutig gebissen hatte, blieb sie genau vor Ian stehen und starrte ihn so lange an, bis er endlich auch sie wieder ansah. Clover lächelte nicht, aber da war auch kein Ärger in ihrer Stimme - sie konnte eigentlich vollkommen ruhig sprechen. Wahrscheinlich der Schock.
"Weißt du eigentlich warum ich überhaupt Gefühle für dich entwickelt habe?" Ian schüttelte den Kopf als könnte er es sich nicht einmal ansatzweise erklären.
"Es war wegen Léo.", sagte Clover schlicht und zuckte mit den Schultern. "Léo hat die Gabe durch ihre schiere Anwesenheit oder nur ein kurzes Gespräch die Menschen zu verändern und Situationen zum Guten zu wenden. Und du warst derjenige, der dafür gesorgt hat, dass es ihr selbst gut gehen konnte." Sie lächelte kurz bei dem Gedanken daran. "Als du 'Hey there Delilah' für Léo gesungen hast war ich fasziniert und überwältigt und... ich habe mir eingebildet, dass du der beste Mensch der Welt sein musst. Alles was ich von dir mitbekommen hatte, waren gute Taten, die vielleicht nichts Großartiges waren, aber mir die Welt bedeutet haben. Weil sie meine Idealvorstellungen bestätigt haben. Also ich denke, ich mochte vor allem das Bild, das ich von dir hatte, und nicht dich."
Clover sah zu Boden und und lächelte bitter. "Aber ich bin nicht bescheuert. Zumindest meistens nicht. Ich wusste immer, dass du nicht perfekt sein kannst. Und ich wusste, dass der Moment kommen würde, an dem ich das nicht mehr ignorieren kann."
Sie setzte sich nun wieder neben ihn, da sie nicht wirken wollte, als würde sie auf ihn hinabsehen.
"Hast du seit wir in die LKWs gestiegen sind auch nur ein einziges Wort mit Léo persönlich gewechselt?", fragte sie nun und lächelte dabei, denn sie kannte die Antwort natürlich. "Schon damals ist mein Hauptgrund, warum ich überhaupt an dir interessiert war, gestorben. Ich hatte erwartet, dass mich so etwas so enttäuschen würde, dass ich erkenne, dass meine Gefühle eine Lüge waren. Aber nichts dergleichen geschah. Weil es da plötzlich noch tausend andere Gründe gab."
Ian sah die Sängerin nun zum ersten Mal wieder an, ohne dass sie das Gefühl hatte, er würde ihrem Blick ausweichen wollen. Sie sah ihm eine Weile in die Augen ohne etwas zu sagen und musste an das einzige Lied denken, das ihr als passend für den Moment einfallen wollte.
When I look into your eyes
It's like watching the night sky
Or a beautiful sunrise
There's so much they hold
"Ich muss nicht alles was du tust oder getan hast gut finden. Manches davon enttäuscht oder erschreckt mich. Vieles davon habe ich nicht mal mitbekommen. Aber das ändert nichts an den Momenten, die ich mit dir verbringen konnte und nichts an den kleinen Taten, mit denen du die letzten Tage für mich erträglich gemacht oder mir Hoffnung gegeben hast. Es ändert nichts daran, wer du für mich bist und macht alles Erlebte nicht weniger wahr. Ganz im Gegenteil."
And just like them old stars
I see that you've come so far
To be right where you are
How old is your soul?
"Gerade wenn du all das noch geschafft hast nach allem, was dir widerfahren ist dann finde ich es umso bewundernswerter. Ich möchte nicht wissen, was eine Vergangenheit wie deine aus mir gemacht hätte... Aber ich möchte wissen, was sie aus dir gemacht hat."
Clover nahm nun wieder Ians Hand. "Was ich zu dir auf dem Dach gesagt habe, war ernst gemeint und ich werde bestimmt nicht einfach weglaufen, nur weil es Dinge gibt, von denen ich nichts wusste."
I don't wanna be someone who walks away so easily
I'm here to stay and make the difference that I can make
"Ich werde dir nicht verheimlichen, dass mir deine Vergangenheit natürlich auch Angst macht. Offenbar bist du unberechenbar." Der leichte Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. "Aber ich vertraue dir. Dass du mir die Wahrheit sagst, bestärkt mich darin nur noch mehr."
Our differences they do a lot to teach us how to use
The tools and gifts we got yeah, we got a lot at stake
Clover lehnte ihren Kopf nun an Ians Schulter und sah etwas träumerisch aufs Meer hinaus. "Nach dieser Sache möchte ich, dass du mir mehr von dir erzählst. Ich will alles wissen, alle ekligen Details. Ich möchte alle Seiten von dir kennen. Aber für jetzt können wir es erst einmal dabei belassen. Wir haben später noch genug Zeit dafür. Ich möchte auf jeden Fall bei dir bleiben."
I won't give up on us
Even if the skies get rough
I'm giving you all my love
I'm still looking up
Still looking up.
Niki war am Boden zerstört und stellte sich wiederholt die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er jetzt einfach tot sein würde. Clover redete ihn darauf ein, sich nicht deswegen schlecht zu fühlen. Ansonsten wäre Danis Opferung ja umsonst gewesen, oder nicht? Er fühlte sich besser, war trotzdem immer noch bedrückt. Als Clover kurz wegging, legte er sich hin und legte seinen Kopf auf seine Hände, die er hinter sich verschränkte. Aus seiner Hosentasche kramte er die Taschenuhr hervor, die er von Riley erhielt. Er richtete sich wieder auf und drehte die Uhr auf. Eine kleine, niedlich klingende, Melodie ertönte. Niki saß stumm da und hörte ihr zu. Er versuchte sich besser zu fühlen und bildete sich Freudentränen ein. Doch er hatte Angst. Angst davor, was noch passieren würde. In den letzten Tagen dachte er viel nach, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Was würde er machen, wenn Alexis tot ist? Wen hätte er noch? Hinter sich spürte er plötzlich, wie Clover sich hinter ihm setzte. Er wusste nicht so recht, wieso sie das jetzt tat, allerdings dachte er auch nicht mehr viel darüber nach. Emotionslos saß er da und ließ alles auf sich zukommen, was auch kommen würde. Momentan hatte er einfach nichts, wofür er kämpfen würde... oder etwa doch?
"Alistair. Wenn wir in Irland sind, bring mir das Kämpfen bei."
Alistair strahlte bei diesen förmlich und seine Brust schien vor Stolz zu platzen. Auch wenn es absehbar war, dass Noah wöhl der kräftigere von beiden werden würde, er kannte das Geschäft und wusste, dass es nicht nur darauf ankam.
Der Ire legte seinen Arm um Joshua und grinste breit.
"Selbstverständlich Kleiner! Ich werde aus dir und Noah, wenn er das will, die besten Kämpfer machen die Irland, nein, die die Welt je gesehen hat."
Er fühlte sich super, die Kinder um ihn herum weckten alle seine Lebensgeister.
"Jungs, ich bin wirklich stolz auf euch. Ihr macht dem Andenken eurer Mutter alle Ehre. Sie kann wirklich solz darauf sein euch als ihre Söhne bezeichnen zu dürfen."
Dann nahm er alle drei, auch Leo, nocheinmal in den Arm.
"Waaas?", rief Noah entrüstet, "Von wegen! Ich werde ein Handwerker, wie Mami!" Er richtete sich auf und streckte seine Arme in die Luft. "Ich werde ganz viel bauen und heile machen! Und dann bin ich immer lieb zu den Leuten. Dann wollen die gar nicht mehr kämpfen!", er sah Alistair tadelnd an, schien ihm dann aber wieder zu verzeihen und tätschelte großmütig seinen Kopf. "Ich mag dich aber trotzdem, auch wenn du immer kämpfst. Sonst bist du ja lieb und Joshua natürlich auch."
Joshua, dessen Gesicht bei Alistairs Worten förmlich aufgeleuchtet hatte, räusperte sich jetzt und sah zu Boden. "Ähm. Ganz so einfach funktioniert das nicht, Noah. Es gibt Menschen, die wollen nicht nett sein. Dann muss man sich wehren können. Ich will meine Familie beschützen können."
"Wohl! Aber ihr werdet ja schon sehen.", Noah lachte versöhnlich und ließ sich wieder auf seinen kleinen Hintern plumpsen.
Die Ruhe die dann für ein paar Sekunden einkehrte wurde dann jedoch von dem kleinen Mädchen unterbrochen. "Darf ich mit euch nach Irland kommen?"
Sie schaute ihn aus großen, tränenfeuchten Augen an, ihre kleinen Lippen zitterten. Alistair schaute sie zuerst hilflos an, weil er nicht wusste, warum sie traurig war. Ihn persönlich freute diese Frage. Vielleicht hatte die Kleine Angst, dass er nein sagen würde.
Mit einem sanften und warmen Lächeln hob er Leo an und setzte sie sich auf seinen Schoß.
"Hey, du musst nicht weinen. Natürlich kannst du mit Irland, ich hab mir sogar gewünscht, dass du mit den Jungs und mir mitkommen willst."
Anstatt zu lächeln, wie er erwartet hatte, brach Leo dann jedoch endgültig in Tränen aus und warf sich dem Iren um den Hals. Alistair dachte zuerst, er hätte etwas falsches gesagt, doch unter ihrem Schluchzen hörte er ein leises "Danke" heraus. Sanft lächelnd schloss er dann seine Arme um die Kleine und hielt sie fest in seinen Armen.
Es gab so viel, auf das Ian hätte antworten wollen.
Ein kurzes, gezwungenes Grinsen legte sich auf sein Gesicht, als Clover ihren Kopf an seiner Schulter abstützte. Er war nicht unberechenbar. Er war das ziemliche Gegenteil. Er wusste genau, wann er wieder werden würde wie damals. Wenn einem unschuldigen Menschen etwas passiert... Weil das alles war, was Versager wie er tun konnten, um den wirklich wertvollen Menschen auf dieser Welt ein lebenswertes Leben zu ermöglichen. Er machte sich nichts vor - er hatte ein lebenswertes Leben, das hatte er immer gehabt, trotz all der Härte und Schmerzen. Aber warum? Warum durfte ein gesichtsloser Niemand wie er leben, während die wichtigen Menschen ein zu frühes Ende fanden oder zu lange Zeit in einem Käfig blieben. Er hatte sich seinen Käfig selbst gebaut.
Die Luft schmeckte jetzt bitterer als noch zuvor. Bitter, aber doch immer noch süß. Eine süße Intensität, die er nicht verdient hatte.
Warum ich nicht mit Lèo geredet habe? Blöde Zufälle und die Angst, sie wieder in Gefahr zu bringen. Wie im Hotel, als sie verstecken gespielt haben und er für einen Moment das Gefühl hatte, sie zu verlieren. Durch seine Unachtsamkeit. Dadurch, dass er ein Versager war, der immer ach so tolle Pläne hatte, die nie aufgingen. Im Truck hatte Tess mit ihm reden wollen, weswegen er nicht zu Clover und Lèo gestiegen war. Weil er ein Versager war, der sich nicht durchsetzen konnte. Dann im Royal Botanic Garden ging alles so schnell. Er hatte den Kran untersucht, Clover von seinen Gefühlen erzählen wollen und war von Helenas Geständnis abgelenkt worden, hatte keine Zeit für Lèo. Nichts - außer diesem kleinen, unpersönlichen Funkspruch. Weil er ein Versager war, der große Erwartungen weckte und diesen nie gerecht werden konnte. Ein Versager, der immer gute Absichten hatte, diese aber nie umsetzen konnte.
Wenn du Erwartungen in Menschen weckst und diese enttäuschst, machst du sie niedergeschlagener als zuvor.
Ians Augen brannten schmerzhaft, aber sie waren nicht in der Lage dazu, Tränen entweichen zu lassen. Er hatte jetzt verstanden, was Alistair meinte.
Ich bin falsch. Ein falscher, egoistischer Versager, der Hoffnungen weckt und sich selbst belügt, obwohl er inzwischen wissen sollte, dass nie etwas klappt. Seine Absichten waren nicht gut. Sie versteckten sich nur hinter einer guten Fassade, von der er sich selbst täuschen ließ. Eine Fassade, die schon vor langer Zeit bröckelte und in der letzten Woche endgültig in sich zusammengefallen war.
Warum Papa nie für dich da war? Weil du es nicht wert warst und er das erkannt hatte. Shelley war in blinder Loyalität an seiner Seite geblieben, weil sie der Fassade geglaubt hatte. Weil sie glaubte, dass in ihm der Junge steckte, der Kindern und Schwachen half. Robin Hood, der sich um die Schwachen kümmerte und sich zwischen sie und die Starken stellte, sich vormachte, das Übel der Welt von all den Schwachen fernhalten zu können, die graue Welt im Angesicht der Kinder weiß zu färben, um ihnen die Illusion zu präsentieren, an die er selbst nicht mehr glauben konnte.
Er hatte stets mehr kaputt gemacht, als er reparieren konnte. Weil er zu viel reparieren wollte. Ehrlich wäre gewesen, sich nur um das zu kümmern, was er ändern konnte. Ehrlich wäre gewesen, sich keine Fassade aufzubauen, die nur ihm half, die alles um ihn herum, all die guten Menschen, nur tiefer in das Verderben stürzte. Ehrlich wäre gewesen, sich nicht auf Absichten zu verlassen, sondern wirklich etwas zu erreichen.
Es gab so viel, auf das Ian hätte antworten wollen. Aber er blieb stumm.
Vielleicht würde sie aus ihm einen guten Menschen machen. Einen Menschen, der wirklich half und dies nicht nur wollte.
Sie war die einzige, die das schaffen könnte. Die einzige, die die Liebe in ihm weckte, die ihn selbstlos werden lassen könnte.
Sie. Der reinste Mensch der Welt. Der Engel von D52.
Joshua sah bestürzt drein, als die süße Léo plötzlich in Tränen ausbrach und sich in Alistairs Arme warf. Er rutschte zögernd näher, unsicher, ob es in Ordnung war, sich einzumischen und streichelte dann unbeholfen ihren Rücken. War wohl alles ein bisschen viel für sie gewesen. Dem älteren Bruder war nicht entgangen, wie Léo immer wieder zu Clover und Ian herübergeblickt hatte. Offenbar hatte sie eine Bindung zu den beiden und hatte die ganze Zeit über vor einer schweren Entscheidung gestanden. Das Pärchen machte einen sehr netten Eindruck. Wahrscheinlich hätten sie gute Eltern abgegeben. Josh war jedoch auch nicht entgangen, dass Ian und Alistair offenbar ein Problem miteinander hatten, auch wenn er sich die Ursache dafür nicht erklären konnte. Er freute sich auf jeden Fall, dass das Mädchen mit ihnen kam. Jetzt musste er erst recht kämpfen lernen, um sie zu beschützen.
Noah dagegen war ernsthaft verwirrt. "Hä? Aber... aber stand denn das nicht schon die ganze Zeit über fest? Ich dachte, Léo kommt sowieso mit? Wo soll sie denn sonst hin?" Er schüttelte den Kopf über so viel Komplikation. "Arme Léo. Mussu nicht weinen. Ist doch alles gut. Wir machen das dann mit dem Dschungeln, nech? Nicht weinen."
Er schlang seine kurzen Ärmchen ebenfalls um Léo und Alistair, so weit er konnte.
"Erst mal müssen wir schauen, wie wir von hier wegkommen.", bemerkte Joshua.