"Ich möchte über uns reden", sagte Ian und auch er konnte die Nervosität kaum verbergen, die ihn in den letzten Sekunden übermannt hatte. "Können wir uns setzen? Mir geht's... im Stehen ist mein Magen gerade...", murmelte er und setzte sich. Ein kleiner Stein fiel von seinem Herzen, als auch Clover sich setzte, wobei die Nervösität nicht verschwand. Aber das hatte wohl auch gute Gründe.
"Ich... hab' mich gefragt, wie die Zukunft aussehen kann... oder wird. Ich weiß ja nicht, was noch kommt und wo wir hingehen werden, aber... also... was ich weiß ist, dass - egal wo das sein wird - ich dich in meiner Nähe haben will... immer! Das muss total bescheuert klingen, weil wir uns doch erst eine Woche oder so kennen... aber ich wünsche mir einfach Nichts mehr als das... du bist der Mensch, den ich niemals verlieren will... und... ich frage mich eben, ob du das genau so siehst oder...?!" Er holte einmal tief Luft und spürte, dass das seinem Magen ganz gut tat.
"Aber bevor du deine Entscheidung fällst, möchte ich, dass du weißt, wer ich bin. Weil du verdient hast, das zu wissen und ich keine Antwort von dir erwarten kann, wenn es irgendein Geheimnis gibt." Er streckte seinen Arm langsam aus und schloss seine Hand um ihre, akribisch darauf achtend, ob sie das überhaupt wollte. Wieder entspannte er sich ein kleines bisschen, als er bemerkte, dass sie nichts dagegen zu haben schien.
"Ich bin in Houston, Texas geboren." Wie belanglos, Ian. Warum sollte sie das wissen wollen? "Als ich zwölf war, ist meine Mutter ermordet worden." Na, viel besser. Gleich mit der Tür ins Haus fallen. "Das hat mein Leben verändert... ich bin damit zuerst nicht klar gekommen. Aber... nach einer Weile wurde ich selbstständiger und unabhängiger, auch weil mein Vater eigentlich nie großes Interesse an mir hatte." Er versuchte, keine zu große Emotionalität in seine Worte zu legen. Er wollte kein Mitleid oder irgendetwas in die Richtung. Er wollte nur, dass sie möglichst viel über ihn wusste.
"Als ich die High School beendet hatte, wusste ich nicht genau, in welche Richtung ich gehen möchte. Aber ich hatte die Vermutung, dass ich Kinder mag und sie mich. Also hab' ich für eine ganze Zeit in einem Kindergarten gearbeitet - und es war toll." Kommst du jetzt endlich zum Wesentlichen?
"Aber das hier ist das, was ich dir eigentlich erzählen möchte. Damit du weißt, wer ich bin und die Chance hast, ohne mich weiterzuleben, wenn es dich zu sehr schockiert... und ich verstehe, wenn du mit so einem Menschen nichts zu tun haben willst." Er sah sie an und bemerkte, dass ihr Gesichtsausdruck immer fragender und neugieriger wurde.
"Ich war mit den Kindern und Kollegen für ein paar Tage in einem Camp. An... einem Abend saß ich als letzter am Lagerfeuer und hab' darauf gewartet, dass die Flammen ausgehen und einfach noch ein bisschen dagesessen und die Ruhe genossen. Als ich Schreie hörte, bin ich ihnen gefolgt... und... am Ende sah ich Megan - eines der Mädchen aus meiner Gruppe - mit einem Kerl da stehen. Ich... wusste, was er vorhatte. So, wie er sie ansah und... naja. Ich hab' ihn überwältigt und sie weggeschickt. Und dann... dann war da dieser Hass. Ich konnte nicht verstehen, wie jemand einem kleinen Mädchen... ich... ich hatte mich nicht unter Kontrolle und hab' ihn umgebracht!" Eine stumme Träne trat aus seinen Augen und rannte seine Wangen hinunter. Er sah zur Seite, blickte Clover nicht mehr an. Er wollte keine Angst sehen, keine Abscheu vor ihm und seiner Tat. Nicht in ihren Augen.
"Ich war die letzten dreieinhalb Jahre im Gefängnis. Das war meine Strafe. Und jetzt bin ich hier und lerne dich kennen... und alles ist anders. Es kann... es kann irgendwie kein Schicksal geben... oder Karma... wenn sich irgendjemand ausdenkt, dass ein Mensch wie ich... jemand der sowas getan hat... mit DIR zusammenkommt... und DU mich liebst. Ich versteh' nicht, wie das geht. Ich kann dir nichts geben, außer das Versprechen, dich zu lieben und das Wissen, dass diese Liebe bleiben wird, so lange ich lebe. Und wenn du mich nicht mehr willst, dann hoffe ich nur, dass du jemanden findest, der dich so sehr liebt wie ich und der dich im Gegensatz zu mir verdient hat."
Mit purpurenen Wangen war Léo neben Josh zu den Anderen gelaufen In ihrem Leben hatte sie schon viele Küsse an Männer verteilt: an Papa, an ihre Onkel, an hilfsbereite Fremde, auch Riley hatte einen bekommen. Aber noch nie, niemals hatte sie einen Jungen in ihrem Alter geküsst, weil das ja mal etwas vollkommen Anderes war. Nach ihrer unglaublichen Tat hatte sie Josh er ein paar Momente strahlend angelächelt, dann schockiert, und war dann rasend schnell aufgesprungen, weil sie ja zum Hafen laufen wollten. Sie konnte ihn einfach nicht mehr ansehen, warum genau, wusste sie selbst nicht, es ging einfach nicht. Josh hatte sich stumm bei ihr eingehakt und war mit ihr losgegangen.
Als erstes rannte Noah zu ihnen und fiel seinem Bruder und dann dem Mädchen um den Hals. Léo wirbelte mit dem kleinen Jungen um die eigene Achse und zufällig trafen sich Joshs und ihr Blick. Sofort hörte das Wirbeln auf, ein paar ewige Momente schaute sie in sein leicht gerötetes, hübsches Gesicht und lächelte ihm dann zu. Da war nichts zum Nicht-angucken, sie hatte ihm vollkommen verständlich auf die Wange geküsst, er war ja auch ein lieber Junge. Und sie hatte ihn ja gar nicht auf dem Mund geschmatzt, also war alles in Butter.
Zusammen erreichten sie sehr schnell, unter Rücksichtnahme der Behinderung durch der herumliegenden Sachen und Menschen, den Hafen, der in das warme Licht des Sonnenaufgangs gehüllt war. Nur wo war das Schiff, mit dem sie fahren wollten? Der Gedanke wurde auf später verschoben, denn Onkel Alistair rannte auf die drei zu und sie taten es ihm gleich. Überschwenglich fiel die Begrüßung aus. Nach einem dicken Stirnschmatzer für jedes der drei Kinder sprach Noah das aus, was ihnen allen wohl nun am meisten auffiel:
"Wo ist denn das Boot?"
Léo blickte sich um. Am Hafen war definitiv keines, das hätte man ja schnell gesehen. Viele der großen schauten zum Sonnenaufgang über dem Meer, also tat sie es ihnen gleich und schirmte das Licht etwas mit Rileys tollem Schal ab. Da war etwas…mit zusammengekniffenen Augen machte die Kleine mit ziemlicher Sicherheit ein Schiff aus. Si deutete mit ausgestrecktem Arm auf ihren Fund.
Da vorne, es ist ohne uns los…
Noch einmal glitt ihr Blick umher über das Gelände. Nirgendwo sah sie einen Militärtruck oder einen Mexikaner, der fieberhaft nach seiner kleinen Tochter suchte. War er vielleicht da vorne auf dem Schiff? Aber er würde nie hier wegwollen, wenn sie nicht dabei wäre. Aber vielleicht hatte er auch gedacht, dass sie bereits auf dem Schiff ist und sucht sie jetzt gerade auf ihm. Léo seufzte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es noch eine ganze Weile dauern würde, bis sie Papa wiederfinden würde. Aber es wird irgendwann klappen, da war sie sich sicher, denn sie hatte ja großartige liebe Leute hier, die ihr bestimmt helfen würde. Auch wenn Onkel Alistair eben gesagt hatte, dass Irland kommen könne für ihn und die Brüder, wo Papa bestimmt nicht war. Außerdem machte sie der Gedanke daran, dass die drei dann für immer von ihr weg waren, unglaublich traurig. Sie schüttelte sich. Nicht mehr traurig sein, das hatte sie sich doch geschworen!
"Hey seht mal was ich hier habe" zog Onkel Alistair sie wieder in die Wirklichkeit. Der Ire gab Noah, Josh und ihr jeweils einen Lollie und Léos Augen begannen zu leuchten, als sie sich die süße Kugel am Stiel in den Mund schob. Noah wirkte jetzt ganz traurig, und während sich das Mädchen umschaute nach dem Rest ihrer Gruppe, hörte sie ihn schniefend sagen:
"Andris, er hat gesagt ... er würde einen anderen Weg finden. E...her passte nichte durch das Loch. Do...hob ha...hatte noch nach ih...him gerufen aber er hat nicht geantwortet."
Ihre Augen weiteten sich. Er hatte Recht, der alte nette Mann war nirgends zu sehen. War Andris jetzt etwa…? So wie Travis und Ryan und Axel? Der Lollie fiel ihr aus dem Mund und landete auf dem Boden. Wie automatisch kam ein Ich bin gleich wieder da aus ihr heraus.
Mit Álvaro und Campanilla dazwischengeklemmt auf dem Rücken ging sie über das weite Hafengelände, auf der Suche nach einem schönen, unbemüllten Platz. Vorne am Hafen erstreckte sich ein kleiner, aber sehr hübscher Strand, sie stolperte fast über einen großen, ovalen, vollkommen glatt geschliffenen hellgrauen Stein und wusste, dass das der perfekte Ort war. Nicht mal verabschiedet hatte sie sich von dem Alten, weil sie sich so sicher gewesen war, dass sie ihn hier wiedersehen würde. Die Kleine sah sich nach weiteren hübschen Steinen um, die man dazulegen könnte und fand in der Tat noch zwei weitere, die sie auf dem großen zu einer Art kleinen Turm aufbaute. Außerdem fand sie eine wunderschöne, große Muschelschale, die sie auch mitnahm. Der oberste Stein war sehr flach, und so legte sie behutsam die Muschel darauf. Dann nahm sie Álvaro vom Rücken, öffnete seinen Bauch und kramte ein wenig in ihm herum, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte.
Die Calavera de dulce grinste sie mit ihren überaus weißen Zähnen und aus leeren Augenhöhlen an. Bedächtig kratzte sie das „Leocadia“ vom Totenkopf und ritzte dann mit ihren Fingernägeln voller Hingabe an der Stelle „Andris“ ein. Den Zuckerschädel, die Speise für die Toten in México, platzierte sie hinter der Muschel auf dem Stein. Eigentlich war es sehr makaber, dass sie ihren eigenen immer dabeigehabt hatte, aber jetzt erfüllte er einen besseren Zweck als in einem Plüschaffen zu versauern. Während sie bedächtig die Cempasúchil-Blütenkette auf dem selbstgebautem Grab des Letten drapierte, begann sie leise mit ihrer klaren Stimme zu singen.
Tränen bildeten sich in ihren Augen.
Abuela hatte dieses Lied zur Beerdigung von Onkel Rámon Eduardo gesungen. Léo mit Drei Jahren hatte das Versprechen ihrem Papa gegenüber gehalten und Niemandem davon erzählt, dass sie gesehen hatte, wie und von wem ihr lieber Onkel umgebracht wurde, es einfach vergessen, wie versprochen. Ihr jüngster Sohn saß direkt links neben der klagend singenden Mutter, ihre Enkelin zu ihrer Rechten. Léos Mama musste ganz hinten sitzen, aber das war Angela auch sehr recht gewesen. Dem Kleinkind war das Wasser aus den Augen gequollen, doch Abuela wischte diese unbeirrt weiter singend weg und deutete an, dass Léo das lassen sollte. In México sollten die Toten bei der Beerdigung und danach nicht mehr beweint werden, das würde ihre Reise auf die andere Seite nur unnötig schwer machen und sie würden zum Dia de los Muertos nicht mehr gerne zu ihren lebenden Lieben zurückkehren. Augenblicklich stoppte das Bächlein und die kleine lächelte zu ihrer Großmutter hoch. Natürlich wollte sie, dass Onkel Rámon ordentlich tot sein konnte…
Und auch Andris sollte das können. Sie durfte nicht traurig sein. Die Tränen wurden schnell weggewischt, und als sie mit ihrem Lied geendet hatte, strich das Kind behütsam über den das Grab umgebenden Sand, ein hübsches Muster streichend. Im orangenen Licht der aufgehenden Sonne, den Geruch des Meeres in der Nase und das Rauschen der Wellen im Ohr war es ein wundervoller Anblick. Sanft lächelte sie, umfasste dann ihr Rosenkranzarmband und betete für Helena, Cyrillus und vor allem Riley, dass alles bei ihnen gut laufen würde und sie sich baldmöglichst wiedersehen konnten.
Langsam kehrte sie zurück zu den Anderen, immernoch ganz bendebelt von der wunderschönen Idylle des Ortes der letzten Ruhe für den alten Letten, den sie so gern gehabt hatte.
Sie hörte Tess rufen, dass doch Jemand anderes Sherlock spielen soll, wenn er das wollte und plötzliche Begeisterung machte sich in ihr breit. Das war jetzt genau das Richtige. Mit Josh und Noah würde das bestimmt ein Riesenspaß werden! Gerade lenkten sie ihre Schritte zu den Jungs, als sie entfernt Onkel Alistair sah, der Ian wieder am Kragen packte und die beiden dann umfielen und sich irgendwie rangelten. Völlig perplex stand sie da. Was hatten denn die beiden für ein Problem miteinander? Es ging ihr absolut nicht in den Kopf. Onkel Alistair war absolut lieb und Ian doch eigentlich auch…obwohl, er hatte schon lange nichts mehr mit ihr gemacht, woher wollte Léo wissen, dass Ian jetzt nicht böse geworden war? Aber Clover hatte ihn doch so lieb und würde ihn heiraten, also konnte er nicht böse sein! Der Ire war aufgeprungen, trank den Apfelsaft für Fortgeschrittene und stapfte dann zu Abbys Söhnen. Ian dafür…bekam gerade eine Ohrfeige von Clover, die doch noch nie auch nur irgendwie jemanden etwas hätte tun können! Ian war also doch definitiv böse geworden. Deswegen wollte er auch nicht mehr bei ihr sein und Léo hatte gedacht, sie hätte einen Fehler gemacht. Schnell lief sie den Jungs und ihrem Irenonkel, das schlimme Gefühl, dass in ihrem bauch hochkommen wollte, gar nicht zulassend. Sie musste glücklich sein für die Anderen, das musste sie, weil die anderen doch so viel für sie machten, sie konnte nicht einfach traurig sein.
Bei den dreien angekommen, fragte sie ohne Umschweife die Brüder:
Wollt ihr was ganz Tolles für alle Lieben machen, die in unserer Gruppe waren?
Die Detektivarbeit müsste warten, sie wollte eigentlich mit Ian anfangen, doch nun war da irgendwie nicht mehr richtig.
Begeistert stimmten die Jungs zu.
Schweigend dachte Léo daran, wie wenige sie nun noch waren und dass da auch locker Clover und Onkel Alistair oder Tess oder der gute Dob dazugehören konnten, dem sie ja noch Papas Süßigkeiten geben wollte. Kurz schniefte sie, doch verbitt sich, traurig zu werden. Für die Anderen, das hatte ssie geschworen.
Plötzlich umarmte sie Noah und kurz darauf nahm Josh sie still bei der Hand und sie setzten sich neben Onkel Alistair. Die Frage Joshs an ihn bekam sie nicht mit, auch nicht, was Alistair ihm antworte. Sie dachte darüber nach, was sie jetzt machen sollte, wenn sich die Gruppe trennen würde und sie Papa noch nicht gefunden hatte. Eigentlich wollte sie bei Clover bleiben, weil sie einfach immer so lieb zu ihr war und das Mädchen die Sängerin einfach unglaublich gern hatte. Und weil Ian bei ihr war und sie ihn auch gerngehabt hatte. Doch jetzt, wo Ian offensichtlich böse war, konnte sie das ja nicht mehr machen und irgendwie hatte sie keine Ahnung, was sie sonst machen sollte. Onkel Alistair wollte mit Noah und Josh nach Irland, das wusste Léo, und den Iren hatte sie auch unglaublich lieb. Seit dem Hotel war er wie ein Eratzpapa für sie gewesen, immer da, wenn sie es nötig hatte und er hatte ihr ja auch gezeigt, dass sie ein Kobold war! Und dann Noah und Josh, die beiden hatte sie eben erst kennengelernt, doch schon in den wenigen Stunden so lieb gewonnen, dass sie eigentlich gar nicht mehr von ihnen wegwollte. Doch war ihr nicht klar, ob Onkel Alistair auch einen mexikanischen Kobold mit zu seiner Heimat nehmen wollten.
Sie wurde unglaublich traurig. Aber sie durf- ach was soll das denn? Léo war traurig, wegen allem, was sie in den letzten Tagen traurig gemacht hatte und sie einfach runtergeschluckt hatte und vor allem traurig von der Unsicherheit darüber, was aus ihr werden sollte.
Sie hob ihren Kopf, ihre Lippen zuckten und vor dem Wasser in ihren Augen konnte sie Onkel Alistair nur unscharf sehen, als sie ihn kleinlaut und fast schon flehend fragte:
Darf ich mit euch nach Irland kommen?
Als Ian offensichtlich alles Wichtige gesagt hatte und nun zur Seite starrte, zog Clover ihre Hand langsam aus seinem sanften Griff. Dann erhob sie sich, ging ein paar Schritte, nur um wieder umzudrehen und in die andere Richtung zu laufen. Bei diesem Hin und Her kam sie sich ein bisschen wie ein Tiger in einem Käfig vor, nur dass sie gerade bestimmt nicht bedrohlich, sondern eher komplett lächerlich aussah.
Aber sie konnte jetzt nicht still sitzen.
Erst nach einer Weile, nachdem sie nur stumm hin und her gelaufen war und ihre Unterlippe fast blutig gebissen hatte, blieb sie genau vor Ian stehen und starrte ihn so lange an, bis er endlich auch sie wieder ansah. Clover lächelte nicht, aber da war auch kein Ärger in ihrer Stimme - sie konnte eigentlich vollkommen ruhig sprechen. Wahrscheinlich der Schock.
"Weißt du eigentlich warum ich überhaupt Gefühle für dich entwickelt habe?" Ian schüttelte den Kopf als könnte er es sich nicht einmal ansatzweise erklären.
"Es war wegen Léo.", sagte Clover schlicht und zuckte mit den Schultern. "Léo hat die Gabe durch ihre schiere Anwesenheit oder nur ein kurzes Gespräch die Menschen zu verändern und Situationen zum Guten zu wenden. Und du warst derjenige, der dafür gesorgt hat, dass es ihr selbst gut gehen konnte." Sie lächelte kurz bei dem Gedanken daran. "Als du 'Hey there Delilah' für Léo gesungen hast war ich fasziniert und überwältigt und... ich habe mir eingebildet, dass du der beste Mensch der Welt sein musst. Alles was ich von dir mitbekommen hatte, waren gute Taten, die vielleicht nichts Großartiges waren, aber mir die Welt bedeutet haben. Weil sie meine Idealvorstellungen bestätigt haben. Also ich denke, ich mochte vor allem das Bild, das ich von dir hatte, und nicht dich."
Clover sah zu Boden und und lächelte bitter. "Aber ich bin nicht bescheuert. Zumindest meistens nicht. Ich wusste immer, dass du nicht perfekt sein kannst. Und ich wusste, dass der Moment kommen würde, an dem ich das nicht mehr ignorieren kann."
Sie setzte sich nun wieder neben ihn, da sie nicht wirken wollte, als würde sie auf ihn hinabsehen.
"Hast du seit wir in die LKWs gestiegen sind auch nur ein einziges Wort mit Léo persönlich gewechselt?", fragte sie nun und lächelte dabei, denn sie kannte die Antwort natürlich. "Schon damals ist mein Hauptgrund, warum ich überhaupt an dir interessiert war, gestorben. Ich hatte erwartet, dass mich so etwas so enttäuschen würde, dass ich erkenne, dass meine Gefühle eine Lüge waren. Aber nichts dergleichen geschah. Weil es da plötzlich noch tausend andere Gründe gab."
Ian sah die Sängerin nun zum ersten Mal wieder an, ohne dass sie das Gefühl hatte, er würde ihrem Blick ausweichen wollen. Sie sah ihm eine Weile in die Augen ohne etwas zu sagen und musste an das einzige Lied denken, das ihr als passend für den Moment einfallen wollte.
When I look into your eyes
It's like watching the night sky
Or a beautiful sunrise
There's so much they hold
"Ich muss nicht alles was du tust oder getan hast gut finden. Manches davon enttäuscht oder erschreckt mich. Vieles davon habe ich nicht mal mitbekommen. Aber das ändert nichts an den Momenten, die ich mit dir verbringen konnte und nichts an den kleinen Taten, mit denen du die letzten Tage für mich erträglich gemacht oder mir Hoffnung gegeben hast. Es ändert nichts daran, wer du für mich bist und macht alles Erlebte nicht weniger wahr. Ganz im Gegenteil."
And just like them old stars
I see that you've come so far
To be right where you are
How old is your soul?
"Gerade wenn du all das noch geschafft hast nach allem, was dir widerfahren ist dann finde ich es umso bewundernswerter. Ich möchte nicht wissen, was eine Vergangenheit wie deine aus mir gemacht hätte... Aber ich möchte wissen, was sie aus dir gemacht hat."
Clover nahm nun wieder Ians Hand. "Was ich zu dir auf dem Dach gesagt habe, war ernst gemeint und ich werde bestimmt nicht einfach weglaufen, nur weil es Dinge gibt, von denen ich nichts wusste."
I don't wanna be someone who walks away so easily
I'm here to stay and make the difference that I can make
"Ich werde dir nicht verheimlichen, dass mir deine Vergangenheit natürlich auch Angst macht. Offenbar bist du unberechenbar." Der leichte Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. "Aber ich vertraue dir. Dass du mir die Wahrheit sagst, bestärkt mich darin nur noch mehr."
Our differences they do a lot to teach us how to use
The tools and gifts we got yeah, we got a lot at stake
Clover lehnte ihren Kopf nun an Ians Schulter und sah etwas träumerisch aufs Meer hinaus. "Nach dieser Sache möchte ich, dass du mir mehr von dir erzählst. Ich will alles wissen, alle ekligen Details. Ich möchte alle Seiten von dir kennen. Aber für jetzt können wir es erst einmal dabei belassen. Wir haben später noch genug Zeit dafür. Ich möchte auf jeden Fall bei dir bleiben."
I won't give up on us
Even if the skies get rough
I'm giving you all my love
I'm still looking up
Still looking up.
Niki war am Boden zerstört und stellte sich wiederholt die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er jetzt einfach tot sein würde. Clover redete ihn darauf ein, sich nicht deswegen schlecht zu fühlen. Ansonsten wäre Danis Opferung ja umsonst gewesen, oder nicht? Er fühlte sich besser, war trotzdem immer noch bedrückt. Als Clover kurz wegging, legte er sich hin und legte seinen Kopf auf seine Hände, die er hinter sich verschränkte. Aus seiner Hosentasche kramte er die Taschenuhr hervor, die er von Riley erhielt. Er richtete sich wieder auf und drehte die Uhr auf. Eine kleine, niedlich klingende, Melodie ertönte. Niki saß stumm da und hörte ihr zu. Er versuchte sich besser zu fühlen und bildete sich Freudentränen ein. Doch er hatte Angst. Angst davor, was noch passieren würde. In den letzten Tagen dachte er viel nach, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Was würde er machen, wenn Alexis tot ist? Wen hätte er noch? Hinter sich spürte er plötzlich, wie Clover sich hinter ihm setzte. Er wusste nicht so recht, wieso sie das jetzt tat, allerdings dachte er auch nicht mehr viel darüber nach. Emotionslos saß er da und ließ alles auf sich zukommen, was auch kommen würde. Momentan hatte er einfach nichts, wofür er kämpfen würde... oder etwa doch?
"Alistair. Wenn wir in Irland sind, bring mir das Kämpfen bei."
Alistair strahlte bei diesen förmlich und seine Brust schien vor Stolz zu platzen. Auch wenn es absehbar war, dass Noah wöhl der kräftigere von beiden werden würde, er kannte das Geschäft und wusste, dass es nicht nur darauf ankam.
Der Ire legte seinen Arm um Joshua und grinste breit.
"Selbstverständlich Kleiner! Ich werde aus dir und Noah, wenn er das will, die besten Kämpfer machen die Irland, nein, die die Welt je gesehen hat."
Er fühlte sich super, die Kinder um ihn herum weckten alle seine Lebensgeister.
"Jungs, ich bin wirklich stolz auf euch. Ihr macht dem Andenken eurer Mutter alle Ehre. Sie kann wirklich solz darauf sein euch als ihre Söhne bezeichnen zu dürfen."
Dann nahm er alle drei, auch Leo, nocheinmal in den Arm.
"Waaas?", rief Noah entrüstet, "Von wegen! Ich werde ein Handwerker, wie Mami!" Er richtete sich auf und streckte seine Arme in die Luft. "Ich werde ganz viel bauen und heile machen! Und dann bin ich immer lieb zu den Leuten. Dann wollen die gar nicht mehr kämpfen!", er sah Alistair tadelnd an, schien ihm dann aber wieder zu verzeihen und tätschelte großmütig seinen Kopf. "Ich mag dich aber trotzdem, auch wenn du immer kämpfst. Sonst bist du ja lieb und Joshua natürlich auch."
Joshua, dessen Gesicht bei Alistairs Worten förmlich aufgeleuchtet hatte, räusperte sich jetzt und sah zu Boden. "Ähm. Ganz so einfach funktioniert das nicht, Noah. Es gibt Menschen, die wollen nicht nett sein. Dann muss man sich wehren können. Ich will meine Familie beschützen können."
"Wohl! Aber ihr werdet ja schon sehen.", Noah lachte versöhnlich und ließ sich wieder auf seinen kleinen Hintern plumpsen.
Die Ruhe die dann für ein paar Sekunden einkehrte wurde dann jedoch von dem kleinen Mädchen unterbrochen. "Darf ich mit euch nach Irland kommen?"
Sie schaute ihn aus großen, tränenfeuchten Augen an, ihre kleinen Lippen zitterten. Alistair schaute sie zuerst hilflos an, weil er nicht wusste, warum sie traurig war. Ihn persönlich freute diese Frage. Vielleicht hatte die Kleine Angst, dass er nein sagen würde.
Mit einem sanften und warmen Lächeln hob er Leo an und setzte sie sich auf seinen Schoß.
"Hey, du musst nicht weinen. Natürlich kannst du mit Irland, ich hab mir sogar gewünscht, dass du mit den Jungs und mir mitkommen willst."
Anstatt zu lächeln, wie er erwartet hatte, brach Leo dann jedoch endgültig in Tränen aus und warf sich dem Iren um den Hals. Alistair dachte zuerst, er hätte etwas falsches gesagt, doch unter ihrem Schluchzen hörte er ein leises "Danke" heraus. Sanft lächelnd schloss er dann seine Arme um die Kleine und hielt sie fest in seinen Armen.
Es gab so viel, auf das Ian hätte antworten wollen.
Ein kurzes, gezwungenes Grinsen legte sich auf sein Gesicht, als Clover ihren Kopf an seiner Schulter abstützte. Er war nicht unberechenbar. Er war das ziemliche Gegenteil. Er wusste genau, wann er wieder werden würde wie damals. Wenn einem unschuldigen Menschen etwas passiert... Weil das alles war, was Versager wie er tun konnten, um den wirklich wertvollen Menschen auf dieser Welt ein lebenswertes Leben zu ermöglichen. Er machte sich nichts vor - er hatte ein lebenswertes Leben, das hatte er immer gehabt, trotz all der Härte und Schmerzen. Aber warum? Warum durfte ein gesichtsloser Niemand wie er leben, während die wichtigen Menschen ein zu frühes Ende fanden oder zu lange Zeit in einem Käfig blieben. Er hatte sich seinen Käfig selbst gebaut.
Die Luft schmeckte jetzt bitterer als noch zuvor. Bitter, aber doch immer noch süß. Eine süße Intensität, die er nicht verdient hatte.
Warum ich nicht mit Lèo geredet habe? Blöde Zufälle und die Angst, sie wieder in Gefahr zu bringen. Wie im Hotel, als sie verstecken gespielt haben und er für einen Moment das Gefühl hatte, sie zu verlieren. Durch seine Unachtsamkeit. Dadurch, dass er ein Versager war, der immer ach so tolle Pläne hatte, die nie aufgingen. Im Truck hatte Tess mit ihm reden wollen, weswegen er nicht zu Clover und Lèo gestiegen war. Weil er ein Versager war, der sich nicht durchsetzen konnte. Dann im Royal Botanic Garden ging alles so schnell. Er hatte den Kran untersucht, Clover von seinen Gefühlen erzählen wollen und war von Helenas Geständnis abgelenkt worden, hatte keine Zeit für Lèo. Nichts - außer diesem kleinen, unpersönlichen Funkspruch. Weil er ein Versager war, der große Erwartungen weckte und diesen nie gerecht werden konnte. Ein Versager, der immer gute Absichten hatte, diese aber nie umsetzen konnte.
Wenn du Erwartungen in Menschen weckst und diese enttäuschst, machst du sie niedergeschlagener als zuvor.
Ians Augen brannten schmerzhaft, aber sie waren nicht in der Lage dazu, Tränen entweichen zu lassen. Er hatte jetzt verstanden, was Alistair meinte.
Ich bin falsch. Ein falscher, egoistischer Versager, der Hoffnungen weckt und sich selbst belügt, obwohl er inzwischen wissen sollte, dass nie etwas klappt. Seine Absichten waren nicht gut. Sie versteckten sich nur hinter einer guten Fassade, von der er sich selbst täuschen ließ. Eine Fassade, die schon vor langer Zeit bröckelte und in der letzten Woche endgültig in sich zusammengefallen war.
Warum Papa nie für dich da war? Weil du es nicht wert warst und er das erkannt hatte. Shelley war in blinder Loyalität an seiner Seite geblieben, weil sie der Fassade geglaubt hatte. Weil sie glaubte, dass in ihm der Junge steckte, der Kindern und Schwachen half. Robin Hood, der sich um die Schwachen kümmerte und sich zwischen sie und die Starken stellte, sich vormachte, das Übel der Welt von all den Schwachen fernhalten zu können, die graue Welt im Angesicht der Kinder weiß zu färben, um ihnen die Illusion zu präsentieren, an die er selbst nicht mehr glauben konnte.
Er hatte stets mehr kaputt gemacht, als er reparieren konnte. Weil er zu viel reparieren wollte. Ehrlich wäre gewesen, sich nur um das zu kümmern, was er ändern konnte. Ehrlich wäre gewesen, sich keine Fassade aufzubauen, die nur ihm half, die alles um ihn herum, all die guten Menschen, nur tiefer in das Verderben stürzte. Ehrlich wäre gewesen, sich nicht auf Absichten zu verlassen, sondern wirklich etwas zu erreichen.
Es gab so viel, auf das Ian hätte antworten wollen. Aber er blieb stumm.
Vielleicht würde sie aus ihm einen guten Menschen machen. Einen Menschen, der wirklich half und dies nicht nur wollte.
Sie war die einzige, die das schaffen könnte. Die einzige, die die Liebe in ihm weckte, die ihn selbstlos werden lassen könnte.
Sie. Der reinste Mensch der Welt. Der Engel von D52.
Joshua sah bestürzt drein, als die süße Léo plötzlich in Tränen ausbrach und sich in Alistairs Arme warf. Er rutschte zögernd näher, unsicher, ob es in Ordnung war, sich einzumischen und streichelte dann unbeholfen ihren Rücken. War wohl alles ein bisschen viel für sie gewesen. Dem älteren Bruder war nicht entgangen, wie Léo immer wieder zu Clover und Ian herübergeblickt hatte. Offenbar hatte sie eine Bindung zu den beiden und hatte die ganze Zeit über vor einer schweren Entscheidung gestanden. Das Pärchen machte einen sehr netten Eindruck. Wahrscheinlich hätten sie gute Eltern abgegeben. Josh war jedoch auch nicht entgangen, dass Ian und Alistair offenbar ein Problem miteinander hatten, auch wenn er sich die Ursache dafür nicht erklären konnte. Er freute sich auf jeden Fall, dass das Mädchen mit ihnen kam. Jetzt musste er erst recht kämpfen lernen, um sie zu beschützen.
Noah dagegen war ernsthaft verwirrt. "Hä? Aber... aber stand denn das nicht schon die ganze Zeit über fest? Ich dachte, Léo kommt sowieso mit? Wo soll sie denn sonst hin?" Er schüttelte den Kopf über so viel Komplikation. "Arme Léo. Mussu nicht weinen. Ist doch alles gut. Wir machen das dann mit dem Dschungeln, nech? Nicht weinen."
Er schlang seine kurzen Ärmchen ebenfalls um Léo und Alistair, so weit er konnte.
"Erst mal müssen wir schauen, wie wir von hier wegkommen.", bemerkte Joshua.