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Ehrengarde
Die Gruppe machte sich bereit. Josh räumte das improvisierte Lager der beiden Brüder zusammen und verteilte mit großer Sorgfalt ihre wichtigsten Habseligkeiten auf die beiden Rucksäcke. Auf Größe oder Gewicht konnte nicht viel Rücksicht genommen werden. Er wusste genaugenommen nicht, ob er Noah je wieder sehen würde und für den Fall, dass einer der beiden es nicht schaffen sollte, wäre es gut, wenn der verbliebene Bruder seine eigenen Sachen im Gepäck hatte. Innerhalb weniger Minuten war alles verstaut, denn Noah und Josh besaßen nicht viel. Nur das Bild von Abby lag noch in Joshs Händen. Mama. Joshua berührte das Foto mit den Fingerspitzen, als könne er dadurch ihre Hand nehmen und spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er schluckte seine Traurigkeit herunter. Dafür war jetzt wirklich keine Zeit. Und jetzt musste er sich beeilen und eine Entscheidung treffen, denn es gab schließlich nur ein Bild. Josh überlegte nicht lange. Er strich ein letztes Mal über Abbys lächelndes Gesicht und packte das Foto in Noahs Rucksack.
"Josh?"
"Hey, Noah. Da bist du ja. Hier sind deine Sachen. Pass gut auf dich auf."
Die beiden Brüder umarmten sich fest.
"Ich hab dich lieb, Josh."
"Ich dich auch."
"Wir sehen uns doch wieder, ja?"
"Natürlich. Und Léo und Alistair auch."
Sie lösten sich voneinander und sahen sich in die Augen. Sie brauchten keine Worte für das, was sie in diesem Moment miteinander austauschten. Geschwister streiten sich um das größte Eis, nehmen sich gegenseitig das Spielzeug weg und sind trotzdem Verbündete, bereit, füreinander zu bis aufs Blut kämpfen. Sie waren Geschwister und sie würden es immer bleiben. Auf ewig verbunden. Auch jetzt, wo sie sich umdrehten und getrennte Wege gingen.
Joshua drehte sich nicht zu Noah um, als er sich den Rucksack aufsetzte und sich das gefundene Seil um Oberkörper hing. Es war alles gesagt und er trug seinen Bruder im Herzen.
Zielsicher steuerte der Junge auf die östliche Gebäudeseite zu. Er sah Alistair bei den Kämpfern stehen, sah ihm in die Augen und lächelte. Der Ire löste sich von der Gruppe, eilte auf Josh zu und sie umarmten sich.
"Bitte bleib am Leben.", murmelte Josh ungefähr auf der Höhe von Alistairs Bauchnabel.
"Natürlich, Kleiner. Du glaubst doch wohl nicht, dass sich ein Ire so einfach unterkriegen lässt! Und da Irland bald auch deine Heimat sein wird, darfst du das auch nicht, hast du verstanden?"
Josh nickte.
"Und das du mir gut auf die kleine Léo aufpasst."
Josh errötete und nickte erneut.
"Na los. Wir sehen uns auf der anderen Seite!"
Josh ließ den Iren los und rannte auf seine Position. Hier war alles getan. Jetzt wartete er nur noch auf Léo.
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Noch immer hatte Léo feuchte Augen von dem Geschenk und dem Abschied von Riley. Fest hatte sie ihren großen Freund umarmt und hätte ihn am liebsten nie mehr losgelassen, doch ihn zog es zu Clover und der Militärsfrau und so musste das kleine Mädchen sich von ihn lösen, ehe er davon ging. Ehrfüchtig band sie sich nun seinen Schal um den Hals, egal, ob sie darin unglaublich schwitzte oder nicht. Er war superweich und ewig lang und Léo würde ihn wie ihren Augapfel hüten, das schwor sie sich. Noch einmal blickte sie hinüber zu Riley, der bei dieser Militärsfrau stand und mit ihr sprach. Sie lächelte- ganz sicher würden sie sich irgendwann mal wieder sehen, das mussten sie einfach! Alle anderen waren bereits so geschäftig dabei, sich auf ihre Vorhaben vorzubereiten, dass das Mädchen keinen von ihren Freunden dabei noch stören wöllte. Hinter der Mauer würde man sich ja bestimmt wiedersehen. Also wand sie sich um und ging zu der Dachkante, von der aus die drei Eichen eine Linie zur Mauer zogen und Josh bereits auf sie wartete.
Geschwind zog sie ihre
Lieblingsspange aus Álvaro hervor und steckte damit ihr langes lockiges Haar zusammen, damit es sich nicht in den Ästen verfangen konnte.
Bist Du bereit, ein wenig herumzuklettern? fragte sie mit einem strahlenden Lächeln.
Joshua lächelte schüchtern zurück und nahm das Seil ab.
„Ja, lass uns klettern. Hier. Ich habe dieses Seil gefunden. Es sollte zum ersten Baum reichen. Von da aus schaffen wir es ohne. Allerdings muss einer von uns springen um es drüben zu befestigen.“, er verzog sorgenvoll das Gesicht.
Léo musterte den Abstand von der Brüstung bis zum ersten Ast. Am Fuße des Baumes tummelten sich die Untoten zwar nicht so stark wie am Strand, aber es war auch keine zombiefreie Zone. Der Sprung wäre wahrscheinlich machbar, wenn man gut Anlauf nahm, aber definitiv riskant.
„Ich würde vorschlagen, dass wir uns die Enden um den Bauch binden. Dann kann der, der springt nicht herunterfallen.“
„Ich mach das. Ich springe und knote das Seil an einen Ast. Das schaffe ich schon.“, sagte Léo
Josh wollte protestieren, aber das Mädchen klang so zuversichtlich, dass er schwieg. Er würde den Sprung in seinem jetzigen Zustand wahrscheinlich nicht schaffen, das wusste er.
Josh schloss die Augen. „In Ordnung“, sagte er leise. Konzentriert knoteten die Kinder die Seilenden um ihre Hüften. Léo lächelte Josh aufmunternd zu, machte einen Satz und landete mit der Geschmeidigkeit einer Katze auf der Brüstung.
„Bereit?“
Josh nahm einen festen Stand ein, stemmte sich gegen die Mauer und nickte mit blassem Gesicht. Léo sprang.
Sie flog durch die Luft, ihr Zopf und das zerrissene Kleid flatterten hinter ihr her und beschrieben eine perfekte Flugbahn. Kleine Hände schlossen sich nach dem Ast und … rutschten ab. Beide Kinder schrien, als Léo fiel und sich das Seil um Josh Hüfte spannte, so dass der Junge ruckartig an der Wand nach oben rutschte. Er konnte gerade noch Halt finden und stemmte sich mit aller Kraft gegen Léos Gewicht. Das Mädchen schwang in großem Bogen auf die Mauer der Lagerhalle zu und schaffte es gerade noch, sich um die eigene Achse zu drehen, so dass ihre Beine den Aufprall abfedern konnten. Der Stoß vibrierte ihr schmerzhaft in Muskeln und Knochen.
Einen halben Meter unter ihr streckten die Zombies die Hände nach ihr aus und verstärkten das Grauen der kleinen Léo. Sie zwang sich dazu, nicht zu schreien, aber es war eh schon zu spät. Auf der Mauer regten sich Läufe von Maschinengewehren. Die feindlichen Schützen hatten den doppelten Kinderschrei sehr wohl vernommen.
„Beeil dich!“
Auf Joshs Stirn standen Schweißperlen, als er mit aller Kraft das Seil mit dem Mädchen daran nach oben zog. Schneller! Warum hatte er nicht mehr Kraft? Seine Arme protestierten. Er hatte nicht genug Zeit! Er würde es nicht schaffen, bis...
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Dicht neben ihnen ertönte ein Schuss. Den beiden Kindern blieb beinahe das Herz stehen, aber es waren nicht die Feinde, die geschossen hatten, sondern Helena die mit Machete an ihrer Seite wie eine Kriegsgöttin brüllend die Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
Josh und Léo sahen kurz ihr Gesicht im Dunkel der Nacht, nur belichtet durch das Mündungsfeuer, dann war Léo wieder auf der Mauer. Ohne zu zögern sprang sie ein zweites Mal und landete sicher auf dem Ast.
Léo band schnell das Seil ab, knotete es mehrmals um den Ast, auf dem sie nun saß und winkte Josh zu. Dieser sprang ebenfalls. Er schaffte wie erwartet die Strecke nicht – das Seil schnitt erneut schmerzhaft um seine Mitte ein – aber er fing sich schnell und kletterte im Lärm des Kugelhagels das Seil hinauf, noch bevor es wieder zurückgeschwungen war. Die beiden Kinder saßen sich einen Moment lang schwer atmend, die kleinen Körper voller Adrenalin gepumpt, auf dem Ast gegenüber. Nach einigen Momenten lachten sie sich schließlich an und fielen sich erleichtert um den Hals, bevor sie ihre Kletterpartie fortsetzten.
Das Mädchen band das Seil um den Ast wieder los und abermals um ihre Hüfte. Sicher ist sicher. Vorsichtig neigte sie sich zu Josh und flüsterte ihm fast lautlos zu:
Ich klettere vor und schaue nach der dem einfachsten Weg, damit es nicht zu anstrengend für Dich mit dem Fieber wird. Das wir länger dauern, aber dann sollte es kein Problem werden, es bis zur Mauer zu schaffen. Und wir müssen ja eh leise sein, damit uns weder die bösen Toten noch die fiesen Soldaten bemerken, also wird das wohl ganz gut sein. Und das Seil ist jetzt auch gut, wenn mal ein Ast einnickt oder so. Ist das okay?
„Ja.“, hauchte er zurück.
Sie nickte ihm ernst zu und machte sich dann gleich daran, lautlos durch das Geäst zu kraxeln. Behutsam testete sie jeden Ast auf seine Belastungsgrenze und als sie den besten Weg zur Krone der nächsten Eiche gefunden hatte, kletterte sie genauso vorsichtig wieder zurück zum angespannt wartenden Josh. Stumm zeigte sie ihm mit Gesten die nacheinander die Äste an, die er ohne Probleme erklettern konnte. Dem Jungen fiel es aufgrund seines Gesundheitszustand um einiges schwerer als der Mexikanerin, doch eine Weile später befanden sich die beiden Kinder schon in der Krone des zweiten Baumes.
Erneut bewegte sich Léo voran, den optimalen Weg für Josh herauszubekommen. Dies gestaltete sich bei diesem Exemplar erheblich schwieriger, da ihn wohl irgenein Parasit oder das Wetter unglaublich morsch gemacht haben. Zahlreiche Äste, die in Frage kämen, gaben viel zu leicht auf ein sachtes Auftreten ihres Fußes nach, oder knackten berdohlich, wenn das Kind ihr Gewicht drauf verlagerte oder waren schlicht zu dünn, als dass man sie besteigen hätte können.
Alle stabilen Äste waren nicht ohne größere Anstrengung oder fast schon zirkusreife Akrobatik zu erreichen, sodass sie sich beim Rückweg den Kopf zerbrach, wie sie ihren Mitkletterer sicher zum dritten Baum befördern sollte. Josh war ihre tiefen Sorgenfalten nicht entgangen, als sie wieder vor ihm hockte und missmutig flüsterte er ein „Wir sitzen hier fest, richtig? Mehr eine Aussage denn eine Frage. Ein paar Augenblicke lang schaute sie ihm in seine tiefbraunen Augen, ehe sie energisch den Kopf schüttelte. Sie nahm den lockeren Teil des Seils und wand ihn um die beiden herum, so dass der Abstand auf einen knappen halben Meter verkürzt wurde.
Wir schaffen das, Josh, es wird viel schwerer für Dich, als ich wollte, weil der Baum total doof zum Klettern ist, aber ich werde Dir helfen, so gut ich kann.
Und so stiegen die Kinder gemeinsam durch das morsche Geäst. Ein ums andere Mal reichte Léo dem Jungen die Hand, um ihn zum nächsten Ast zu ziehen oder krallte sich ganz fest um einen dicken, noch stabilen Ast, damit Josh zur nächsten sicher Bank pendeln konnte. Die enorme Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben, seine Haare klebten an der nassen Stirn. Das Gekletter ging mit deutlich mehr Raschlern von statten und so mussten die Beiden häufig unterbrechen und still horchen, ob kein Soldat auf sie aufmerksam geworden war.
Schließlich atmete auch Léo schwer, aber glücklich, als sie sich zusammen mit dem angeschlagenen Jungen auf einem starken Ast der letzten kraftvollen, jungen Eiche befanden. Dieser Baum würde im Vergleich zum vorigen keine Herausforderung darstellen, war er doch sehr flach angelegt und verlief einladend wie eine Treppe hinauf zur Stahlmauer, hinter der sich die gesamte Hoffnung von allen erstrecken sollte.
Mit neuem Optimismus machten sich die beiden Kinder daran, sich durch die Äste zu bewegen. Léo musste hier keinerlei Vorarbeiten leisten, da der einfachste Weg so offensichtlich sich darbot. Lautlos und behände wie zwei Pumas kamen die Kinder voran, die Soldaten würden sie jetzt nicht mehr hören können, doch durch diese Zuversichtlichkeit achteten sie nicht drauf, was am schiefen Stamm ihrer gewahr wurde und sich mit plumpen, vermodernen Händen und Körpern daran machte, zu ihnen zu kommen…
Nur noch ein Meter war zu erklimmen bis zur Mauer, da schrie Josh entsetzt auf, als die angefressene Hand einer älteren Frau sich um seinen Knöcheln schloß und ihn zu sich zog, um von seinem jungen Fleisch zu kosten. Der Junge verlor das Gleichgewicht und riss damit auch die Kleine von den Beinen, die mit einem dumpfen Aufprall auf einen nebengelegenen Ast knallte. Den Schmerz ignorierend rappelte sie sich schnell hoch, um Noahs Bruder zur Hilfe zu eilen, der verzweifelt mit seinem freien Fuß die Tote wegzutreten versuchte.
Pansich trat sich mit und die blutverkrusteten Zähne näherten sich gefährlich der jungen Haut des Jungen, als ein platzierter Kopfschuss das untote Leben aus der Frau holte. Laute Stimmen in der Ferne wurden laut, es klang nach zackigen Befehlen und sowohl Josh als auch Léo wussten, dass das ein sehr, sehr schlechtes Zeichen war.
Ohne zu zögern halfen sie sich gegenseitig hoch und stürzten weiter in Richtung Mauer. Immer mehr Zombies drängten den Baum zu ihnen hinauf Schüsse fielen. Der Kopfschuss war bestimmt kein Glückstreffer gewesen. Hoffentlich hatten die Soldaten sie nicht gesehen doch darüber machten sie sich im Moment keine Gedanken. Die Militärtypen halfen im Moment sogar noch mehr, da sie die Untoten größtenteils davon abhielten, weiter zu ihnen emporzukriechen und die lebenden Leichen ihrerseits lenkte das Interesse des absolut lebendigen Feindes von den Kindern weg.
Hastig kletterten sie auf die Mauer, schauten nicht nach rechts und links, sondern nun auf den glorreichen Baum vor ihnen, der ihnen komplette Sicherheit gewähren würde. Ohne noch groß auf Lautstärke zu achten, fasste Josh Léo fest bei der Hand und beide sprangen in die grüne Krone. Glücklicherweise bremsten einige dünnere Äste ihren Aufprall, sodass sie ohne Verletzungen sich durch die größeren Äste auf die andere Seite der Eiche winden konnten. Große Gedanken um sein Fieber oder ob es zu anstrengend wäre, machte sich Josh nicht mehr, sie waren so nah dran…
Plötzlich brach ein Ast unter Léos Fliegengewicht zusammen und beide Kinder riss es hart nach unten auf den ausgedörrten, aber komplett Zombiefreien Boden. Josh landete zuerst und Léo kurz darauf halb auf ihm, doch sie verschwendeten keine Zeit und krochen zum Stamm, wo die Soldaten sie nicht sehen konnten.
Erschöpft lagen sie da, aber überglücklich- Léo schlang vor Freude ihre Ärmchen um Josh und küsste ihn auf die Wange.
Geändert von Mephista (04.09.2012 um 22:26 Uhr)
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