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Legende
Als die übrigen Sterne verloschen hockte Tess immer noch neben der Toten. Sie hatte keinen Gedanken an sich selber verschwendet. Als der Puls in Danis Hand erstarb, küsste sie sie auf den Hals – auch dort war kein Puls mehr. In ihrem Gesicht waren nur zwei schmale Streifen zu sehen – alles andre war bedeckt von Erde, Dreck und Ludwigs Schuhcreme für 5,71% mehr Überlebenschance. Scheiß doch auf Mathematiker. Scheiß auf das Schicksal. Scheiß auf … Sie schluchzte lautlos. Sie hatte nicht bemerkt das sie weinte. Haltlos. Aber nun schüttelte sich jede Pore ihres Körpers vor Schmerz. All das, was sie verloren hatten. Sie konnte nur an das denken was sie verloren hatten. Du warst anders. Was besonderes. Sie konnte ihren Blick einfach nicht von den starren blauen Jeansblauen Augen abwenden. Wieso lebte sie während alle um sie herum starben? Wieso konnte sie nichts tun? Es war ihr verdammter Job Leute zu retten. Engel in weiß. Die Leute sehen nur einen Arztkittel, aber eigentlich sind wir... Engel. Lebensretter. Die Gegenspieler des Todes.
Sie hatte noch gewitzelt, als alles so klar schien. „Hinkebein hält euch nur auf. Aber vielleicht mögen die Gardisten ja auch ein Tigerpflaster.“ Aber sie konnte nicht mehr. Genug.
Ihre Lippen waren mit Danis Blut bedeckt, ihre Hände waren mit ihrem Blut bedeckt, ihr Gesicht leuchtete rot im Feuerschein der Stadt und in der Morgendämmerung.
Versprechen. Du hast ihr ein Versprechen gegeben. Beweg dich.
Sie blickte auf die Erkennungsmarke. Sie hatte ihren vorherigen Trägern kein Glück gebracht. Wie auch wenn die Dinger „Grabstein“ heißen? Die dunklen dichten Baumwipfel über ihr rauschten, wandten sich im Sonnenlicht wie wehende Algenfahnen, schlossen sich zu immer neuen Mustern zusammen, als sie Dani zwischen den hochgerankten mächtigen und moosbewachsenen Wurzeln einer der mächtigen Eichen zog und sie dort hineinbettete. Das blau flirrte noch einmal kurz violett im wiedergespiegelten Feuerschein, blickte zum Himmel hinauf, dann schloss sie Danis Augen zum letzten Mal. Tess atmete durch, lauschte weiter – zwei Soldaten nahmen ihren Platz an der Mauer ein, wie Ludwig es vorhergesagt hatte, ihre aufgeregten Stimmen drangen bis zu ihrem Versteck. Die Zeitspanne zum durchschlüpfen war um. Das Ende würde kommen. So oder so. Sie ließ sich Zeit – jetzt war es egal, was geschehen musste würde geschehen.
Sie wandt sich keuchend aus der Uniformjacke. Tarngrün. Scheiß doch auf Tarnung. Und bedeckte damit die verschränkten Beine der Toten. Ihre goldenen Creolen blitzten kurz auf, dann legte sie sie in Danis Hand. „Geh damit an die Bar und hol Willy einen mit.“
Konnte man zum Zombie werden, wenn man bereits tot war? Tess wusste es nicht. Patient 0 war und blieb ein Rätsel. Aber sie wollte auf Nummer sicher gehen. Sie würde Dani nicht zu einem Monster werden lassen, auch wenn es unwahrscheinlich war... die beiden Stiche hatten sie zu sehr verwirrt. Allein beim Gedanken an die Leiche pochte ihre Lunge schmerzhaft auf. Sie hatte nur noch das Skalpell... allein der Gedanke die Leiche zu schänden jagte ihr Schauer über den Rücken. Nicht so.
Ihre Augenbrauen zogen sich ernst und nachdenklich zusammen. Mit beiden Händen umfasste sie dann zärtlich ihr totenblasses Gesicht, wie als wollte sie sie erneut küssen. Dann legten sich die Ellenbogen um den Hals und mit den Lippen an ihre Stirn gepresst und mit zusammengebissenen Zähnen ruckte sie der Toten plötzlich den Kopf herum. Tess Beinwunde riss unter der Anspannung ihrer Muskeln wieder auf. Glatter Genickbruch. Sie machen vor Ort einen wirklich guten Job, Fräulein Ehliger. Ja. Ich wollte immer schonmal Tote töten. Sie haben keine Ahnung wie gründlich ich den Scheißjob mache, Dr. Lölti. Scheiße.
Die blonden Haare wellten sich über den Hals, als sie sie losließ.
Ihr Verstand verdrängte, was sie jetzt besser tun sollte. Planen, Improvisieren, Laufen, Flüchten, Verstecken.
You're only opening the book
You're only on the first line of what's going to take a little while
Irgendwo an der Mauer entbrannte der Kampf. Schüsse. Schreie. Alistair war da draussen. Dob war da draussen. Die Kinder waren da draussen. Sie alle waren da draussen und kämpften. Und sie hatte ein Versprechen zu halten. Also würde sie auch kämpfen. Es wenigstens versuchen. Sie warf einen letzten zärtlichen Blick auf Danis Antlitz, dann kroch sie aus der Deckung.
Sie blickte hinter dem breiten Stamm hervor und ihr Mund blieb offen, von dem das was sie sah.
[Listening to: Ruhe in Frieden, Blumenmädchen. ]
Wie durch ein Wunder zogen die beiden Gardisten am Kontrollpunkt ab. Wie durch ein Wunder schweiften die roten suchenden Punkte am Boden von ihrem Versteck fort, das von der steigenden Sonne nach und nach immer mehr an Tarnung verlor und wendeten sich dem Kampfgeschehen zu. Und es kam keine Ablösung, kein Ersatz – ihr Team hatte ihr durch das entstandene Chaos, ihre Opfer und mit durch das Einsetzen ihrer Fähigkeiten den Weg freigemacht. Tess wartete noch drei Atemzüge lang - dann rannte sie los, stolperte, fiel. Mit jedem Schritt hinterließ sie einen roten Abdruck auf dem Untergrund, bei ihrem Sturz hinterließ ihr Körper eine Kuhle mit einem blutigen Abdruck im Boden – aber sie stand wieder auf. Ihre Schritte waren beflügelt vom Frieden in Danis Gesicht und der Gewissheit das Sanders Recht haben würde. Irgendwer würde überleben. Sie war nicht alleine hier draussen.
The only "surrender" tonight, shall not be our own
And maybe there is blood from the past, but that is not from me
They can take away one man, and they can take away his mic
But they cannot take us all
Du mußt es schaffen. Und vergiss niemanden. Versprech es mir.
Somewhere in time
The truth shines through
And the spirit knows
What it has to do
And you can be stronger
Than anything you know
Hold on to what you see
Don't let it go
Don't you let it go
Ihr Schatten rannte links von ihr. Die Sonne erwärmte ihre eiskalte, zitternde Haut. Und vor ihr lag der rettende Hafen. Die Mauer und der Tod blieben hinter ihr zurück.
Ich verspreche es.
Geändert von Viviane (04.09.2012 um 23:34 Uhr)
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