Er sah hoch. "Hey Ian. Kann ich mich kurz zu dir setzen?" Er nickte nur sanft und Clover setzte sich schräg neben ihn.
Warum? Warum setzt du dich zu mir?Ian sah sie eine Weile an, hatte so unfassbare Angst, dass sein Blick zu aufdringlich wirken würde, dass er irgendetwas falsch machen würde. Du hast dir etwas vorgenommen. Aber jetzt? Wann sonst? Willst du, dass es zu spät ist? Einige Male sah sie so aus, als würde sie den Mund öffnen wollen, aber das bildete er sich wahrscheinlich nur ein. Hör auf, sie anzustarren.
Obwohl diese Situation ihn fertig machte, ihn leiden ließ und sein Herz unter dem Hemd wieder ausrastete, fühlte er sich das erste Mal seit sie auf dem Festland waren nicht komplett schlecht. Sie war da. Sie lebte. Und das machte alles besser.
Sein elfter Geburtstag. Ian war immer schüchtern gewesen und hatte nicht viele Freunde. Aber die paar, die er hatte, waren toll. Und sie waren alle da gewesen. Nach und nach wurden sie abgeholt. Allesamt hatten sie länger aufbleiben dürfen, nur wegen seinem Geburtstag. Als er auch Keanu an der Tür verabschiedet hatte und herzhaft gähnte, legte seine Mom ihm die warme Hand sanft auf die Schulter. So, wie sie es immer tat, wenn es Zeit für das Bett war. Mit schweren Beinen vom vielen Tanzen und Spielen stieg er die Treppen hoch, stürmte in Endspurtmanier in sein Zimmer und warf sich auf's Bett. "ERSTER!!!", rief er glücklich und sah, wie sie hinterherlief. "Das gibt's doch nicht! Sag mal - willst du deine Mutter nicht auch mal gewinnen lassen?" Sie lachte, setzte sich schwungvoll auf die Bettkante und kitzelte ihn, was ihn wild strampeln und lachen ließ. Erst nach einer ganzen Weile hörte sie auf. Völlig außer Atem sah er sie immer noch freudestrahlend an. Wieder gähnte er. Der Tag war schön gewesen. Aber auch anstrengend. "So, ich mach jetzt das Licht aus... und du schläfst, ja?" "Jaaa, Mamaaa! Das musst du nicht immer sagen! Ich mach' das sowieso!" Sie beugte sich zu ihm herunter und küsste ihn auf die Stirn. "Ich hab' dich lieb!", hauchte sie und stieg von seinem Bett, schlich zur Tür. "Mamaaa... was heißt Liebe?" Er erinnerte sich an seine Freundin Veronica, die ihm vor ein paar Stunden im Wandschrank gesagt hatte, dass sie ihn lieben würde, als sie 'Sieben Minuten im Himmel' spielten. Dann hatte sie ihn geküsst. Seine Mutter hatte nun schon nach der Türklinke gegriffen und ließ ihre Hand wieder herunterrutschen, drehte sich zu ihm um. Während sie wieder an sein Bett trat, begann sie, zu erklären: "Du weißt doch, dass Mama dich lieb hat... und du hast doch auch Mama lieb?" Er nickte kurz und sie fuhr fort. "Das heißt einfach, dass man jemanden ganz doll mag... und Liebe... heißt auch, dass man jemanden mag... nur irgendwie anders." "Ich weiß - ich bin doch kein kleines Kind mehr. Aber ich versteh' das nicht." Sie seufzte lächelnd und stupste seine Nase mit dem Zeigefinger an. "Wenn du jemanden liebst, dann möchtest du alles für ihn tun. Du möchtest, dass es der Person immer gut geht und es fällt dir schwer, an etwas anderes zu denken. Du liebst nicht einfach irgendwen, du liebst eine ganz besondere und bestimmte Person." Sie machte eine kurze Pause und wischte ihm die verschwitzten Haare aus dem Gesicht, ging zur Tür und schaltete das Licht aus. "Und wenn du jemanden liebst, dann weißt du es!"
Mehr als zwölf Jahre war das her. Und der Mensch, der ihn mit diesen Worten - und mit so vielen anderen - prägte, war tot. Eine kühle Nachtbrise pfiff über das Dach und ließ eine leichte Gänsehaut auf seinen Armen zurück. Wieder der Blick zu Clover. Es fiel ihm leichter. Es war der richtige Blick - und egal, wie sie dazu stehen würde... egal, wie unerreichbar sie für ihn war... allein das Wissen, die Person gefunden zu haben, von der seine Mutter gesprochen hatte, machte ihn glücklich.
"Clover!", sagte er und rutschte dabei direkt neben sie. "Ich... das ist... ich hab' das nie einem Menschen gesagt, einfach... weil es eben nie gepasst hat!" Kleine Zweifel beschlichen ihn. Warum war das so hart? Was kommt als nächstes? Na los - sag ihr, was du fühlst, aber dass ihr nicht zusammen sein könnt, weil du Spiderman bist. Ein kurzes Grinsen, welches sich augenblicklich zu einem liebevollen Lächeln verwandelte, als er ihr ganz bewusst in die Augen blickte, seine Hand nach vorne streckte und ihre berührte, sie umfasste, sein Herz dabei ausschlüpfen und nicht mehr in seiner verdammten Brust bleiben wollte. Dies war der Moment. Der Moment, der seinem Leben nicht irgendeinen Sinn gab, sondern DEN Sinn. Der Moment, in dem all die Stränge seines Lebens - alles was er jemals für Richtig gehalten hatte, alle Dinge, an die er jemals geglaubt hatte - zusammenliefen. "Um mich herum geht alles kaputt. Menschen sterben, Menschen morden, die Welt zerfällt, alles geht kaputt... aber ich erwische mich dabei, wie ich glücklich bin - wegen dir!"
Er genoss diesen Moment so sehr, genoss den sanften Wind, der ihr funkelndes Haar so herrlich zum Wehen brachte, genoss ihre zarten, weichen Hände, die er unter seinen zitternden Fingern spürte, genoss, dass er in diesem Moment nichts von all dem Schmerz fühlte und nur die eine Person wahrnahm, die für ihn in so kurzer Zeit die Wichtigste geworden war. Er genoss, dass er nicht zu spät kommen würde, um zu sagen, was er fühlte.