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Thema: Gut und Böse

  1. #61
    @ Mordechaj
    Das ist sehr konstruktiv gedacht, aber ich denke, wenn man die Dystopie wieder zur Utopie umbiegen möchte, übergeht man das lustvolle Spiel mit dem Gegenteil. Natürlich redest du auch nicht von einer Reform zurück zum Naturzustand des Rosseau'schen Kinderlachens, eher schon zurück zum Wolfsgeheul Hobbes'. Aber wenn das Böse durch die äußeren Urzustände nun wieder unmittelbar würde, wäre die Zivilisation in diesem Gedankenbild der (vorübergehende) Schutzpanzer. Hingegen ist sie in der Dystopie nur ein wechselndes Gefäß des Bösen. Die Zivilisation implodiert dort wegen ihrer selbst und der erzählerische Reiz der endzeitlichen Folgen folgt meist aus dieser Grundfigur. DayZ wie Mad Max stellen keine Reset-Szenarien dar, keinen Rücksprung, keinen neuen Startversuch. Sie erzählen vom Ende als Fortsetzung, denn die verbliebenen Akteure werden von den Resten des Einstigen genährt. So, wie sie unfähig sind, davon zu lassen und all ihr Trachten darum kreisen lassen, bleiben sie verflucht. Das ist nicht nur pessimistisch und mit einiger Angst vor der Entwicklung seit der Industrialisierung beschwert, es ist auch esoterisch und damit auf die richtige Art lächerlich, die es für erzählende Spiele wertvoll machen kann. Mit einer guten Portion Verdammnis und Weihrauch bleibt das Böse in meinen Augen interessanter als eine psychologisierende Deklinationstabelle.

  2. #62
    Ich möchte auch den Bedrohungs- und Endzeitcharakter gar nicht herausnehmen oder vollständig psychologisieren; um ehrlich zu sein habe ich mit dem tiefenpsychologischen Ansatz selbst einiges an Problemen, sein Vokabularium bietet sich hier nur sehr gut an (zumindest für mich, der noch kein adäquateres entwickelt hat).

    Ich denke, es ist schwer verständlich zu machen, welche Dialektik da für mich drinsteckt, zumal sie vermutlich auch nicht nachweisbar ist. Ich finde es nur fast zu simpel, bei der bösen Verdammnis als Reiz an der Sache stehen zu bleiben. Denn warum ist dieser Reiz denn da, wie natürlich ist es für uns, diese Endzeitszenarien mit so einer merkwürdig anziehenden Faszination wahrzunehmen?

    Ich meine, genau da steckt die Dialektik: Die Dystopie, die gleichzeitig Utopie ist. Der Schutz der Gesellschaft, der gleichzeitig ungemein schwächt und das Individuum verschluckt. Der gesellschaftliche Schutz bedeutet gleichzeitig eine Freiheitseinschränkung (genau das führt ja zu so Sachen wie der Überwachungsdebatte -- wäre der Mensch zufrieden mit der gesellschaftlichen Teilhabe am eigenen Leben, hätte keiner ein Problem damit, sich Ortungschips implantieren zu lassen), der ewige Kampf und die gleichzeitig gegenseitige Bedingung zwischen Individuum und Gesellschaft kulminieren in einer fast wahnhaften Vorstellung der völligen Freiheit. Und dieses Freiheitsgefühl ist abgebunden in jenen Urerfahrungen; damals, als ein Mensch der Bestie (lies: dem anderen, dem Anderen, dem Unbekannten, dem Bösen) noch barhändig gegenüber stehen konnte. "Es ist immer beides." sagt man oft, und das halte ich hier sogar für eine zugrundeliegende Wahrheit. Natürlich ist es pessimistisch und dystopisch und auswegslos und eigentlich so unwünschenswert wie nur möglich -- aber dieser Reiz und diese Faszination, die dahinter steckt, begründet sich meiner Meinung nach nicht nur in der Was-wäre-wenn-Figur. Wir haben es hier im Grunde auch mit einer Zielgruppe zu tun, die sich scherzhaft oder sehr ernsthaft auf die Zombieapokalypse vorbereitet: Das Szenario ist klar abgesteckt und mehrfach in gleicherweise umerzählt, es sind Zeiten des Mangels und der Unsicherheit -- aber auch der maximalen Freiheit und Selbstbehauptung. Es ist ein Reset, der nicht zwangsläufig auch einen gesellschaftlichen Neustart au fur et à mesure nach sich zieht. In DayZ stellen sich allerdings einige interessante Phänomene ein, etwa neue (aber durchaus bekannte) soziale Strukturen, meist in Form der Rekreation der Sippengemeinschaft. Der Weg dahin ist noch genauso Urerfahrung wie die Wolfshierarchie.


    Es gibt eine ziemlich populäre Polarisierung in der Bewertung von gesellschaftlichen Handlungen, die glaube ich vor allem in den USA der 80er-Jahre sehr oft von Seelsorgern und Therapeuten bemüht wurde, die zwischen Liebe und Furcht. Was uns Kultur, Zivilisation, Gesellschaft, Ethik, Moral und wer nicht alles vermitteln, ist eindeutig die Übermacht und Rechtmäßigkeit des Konzeptes "Liebe" über das Konzept "Furcht". Aber was heißt das eigentlich? In einem westlichen Verständnis ist Liebe viel weiter gedacht als nur die Liebe zwischen zwei Menschen, es ist das gesellschaftliche Phänomen und fast die gesellschaftliche Pflicht der Selbstaufgabe und Prästion gegenüber anderen Menschen. Furcht hingegen ist so negativ belegt wie nur möglich, sie ist unehrenhaft, untugendhaft, unmännlich, schwach, gering etc.ppai. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass die Selbstaufgabe der Liebe ein unheimlich unnatürliches und das Individuum bedrohendes Konzept ist, die Selbsterhaltung der Furcht hingegen natürlich und absichernd. Die Gesellschaft will ersetzen, was das Individuum die Furcht zu Diensten macht, fordert dafür aber die stückweise Selbstaufgabe. Der Mensch ist nun aber genetisch nicht auf gesellschaftliche Sicherheit "vorprogrammiert" und so unterdrückt er lediglich den Furchtkomplex, den er in der Folge in fiktiven Welten ausleben will; dort wo er wieder ganz bei sich ist, im NatUr-Zustand.

  3. #63
    Da gehe ich weiträumig mit. Dass Geborgenheit auch erdrücken kann, findet sich ebenfalls im überindividuellen Ringen um die angemessene Befindlichkeit wieder - um Politik einmal als nervöses Leiden zu interpretieren. Von Urerfahrungen weiß ich zuwenig, um davon sprechen zu wollen, aber auf einer empirisch fassbareren Ebene sind diese Vorstellungen vom fruchtbaren Zusammenbruch ja absolut aktuell. Linke Aussteiger- wie rechte Redneck-Fantasien sehen dem Zusammenbruch der westlichen Welt, wie wir sie kennen, mit frohem Hoffen entgegen. Damit die andere - den eigenen Wünschen freiere - Welt möglich wird, muss das Alte weg. Nur: Ist hier das Böse nicht eigentlich eher ein guter Verbündeter? Ein Mäzen, der mit dem Chaos kreatives Baumaterial spendiert? Vielleicht verstehe ich dich falsch, aber ich glaube, das rückt weit von der traditionellen Vorstellung ab. Das ist nicht schlimm, aber für die erzählerischen Zwecke hat das herkömmlich Böse durchaus sein nützliches Bewenden.
    Und um eine Lanze für den Reiz der Verdammnis zu brechen: Die eigene, missliche Lage, in der (oder besser: durch die) man das Böse erfährt, wirft die Frage eigener Schuld auf. Kollektives Versagen, sündhafter Lebenswandel, persönliche Untaten - das Böse kann dann als Medium der Reinwaschung eingesetzt werden (Happy End) oder man hält es konsequent grimmig dystopisch. Stilistisch passt beides, es sattelt auf kulturell verankerten Bildern auf (immer praktisch beim Erzählen, weil man anzapfen kann, statt alles neu entwerfen zu müssen) und man ist schön frei, den eigenen Geschmack entscheiden zu lassen. Und ja, ich gebe nicht auf, den Thread immer noch ein wenig mit der Makerei in Berührung halten zu wollen.

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