Ian war gerade drauf und dran, Helena und Axel zu unterstützen - wenngleich er nicht wirklich wusste, wie ER das anstellen sollte. Er sprintete auf das Treppenhaus zu und wollte noch ins Mikrofon sagen, dass ansonsten bitte alle sicher auf den Zimmern bleiben sollten, da ertönte wieder die Stimme des Polizisten, der eine Entwarnung und Entschuldigung aussprach. Für einen Moment schnaubte er leicht wütend und wollte etwas in das Mikrofon sagen. Doch ihm fiel wieder rechtzeitig ein, wer da möglicherweise alles mithören könnte. Du bist so albern, Ian. Eine Welt voller Zombies und du willst nicht vor den Leuten fluchen? Er schmunzelte bei dem Gedanken unwillkürlich.

Mit einem Schlag war die Panik weg und Ian besann sich wieder auf sein eigentliches Vorhaben - die CD. Die CD, die ihm der Priester gegeben hatte. Der Priester will eine Messe halten. Um den Verstorbenen zu gedenken. Pff. Die Verstorbenen waren tot. Denen war scheißegal, ob man an sie dachte oder nicht. Wahrscheinlich hätten sie sich vorher gewünscht, dass man sich auch im Tod an sie erinnert - aber jetzt? Schwachsinn!

Er dachte an das einzige Mal in seinem Leben, in dem er in der Kirche war. Das einzige Mal, an das er sich erinnern konnte jedenfalls. Seine Mutter wurde beerdigt. Er hatte die gesamte Zeremonie über geweint. Der Schmerz konnte ihn aber nicht von der Rede des Priesters ablenken. Diese leere, austauschbare Rede. Geliebte Mutter, Tochter, Schwester und Frau... blah. Hätte Ians Vater sie geliebt, hätte er dann nur kurz nach ihrem Tod eine neue Freundin gehabt? Hätte er die Frauen im Wochentakt gewechselt? Hätte er ihn öfter im Gefängnis besucht? Hättest du dich mal um mich geschert?

Gott hat sie zu sich geholt... Gott - Diese Bezeichnung kotzte Ian an. Wo war Gott, als Mum erschossen wurde? Wo war Gott, als die kleine Megan in Gefahr war? Wo ist Gott JETZT? Gott war ein Fabelwesen. Eine Märchenfigur, an die die Menschen glaubten, um nicht selbst Verantwortung für ihr Leben übernehmen zu müssen. Um sich von allem davonstehlen zu können. Er wäre damals am liebsten aufgestanden und hätte dem Priester seine Meinung ins Gesicht gepfeffert - aber er war zu schwach gewesen. Er war so schwach.

Zuckend löste sich Ian aus seiner gedanklichen Lethargie, griff in die Fronttasche seines Rucksacks und zog sein Portemonnaie heraus. Er griff in das zerfledderte, schwarze Etwas und hielt schließlich das Zitat in den Händen. Das Zitat, das er aus diesem Buch abgekritzelt hatte, welches ihm damals die alte Frau aus der Bibliothek gegeben hatte. Die Bücher-Oma. Er hielt den Papierschnipsel in der Hand und las ihn sich leise vor.

"I am determined to be cheerful and happy in whatever situation I may find myself. For I have learned that the greater part of our misery or unhappiness is determined not by our circumstance but by our disposition.

War nur seine Einstellung die Falsche? War es hin und wieder in Ordnung sich einer tröstenden Macht hinzugeben, die man nicht greifen konnte? Nicht jeder Gläubige war verantwortlich für die schrecklichen Dinge, die seit Anbeginn der Zeit durch Religionen in die Welt getragen wurden. Dieser Priester hatte sich bereiterklärt, als erster den Deckel zu öffnen. Er ist nicht schwach. Er übernimmt Verantwortung. Vor Ians geistigem Auge sah er Lèo. Hat sie nicht einen Rosenkranz? Er konnte niemandem das Recht nehmen, zu glauben. Und egal, was er davon hielt - er war der Anführer. Er würde jeden unterstützen und begleiten, der dies für das Richtige hielt. Aber wenn dieser Priester belanglose Scheiße erzählt...

Fest entschlossen, an der Zeremonie teilzunehmen, machte er sich schließlich wieder auf die Suche nach einem funktionstüchtigen Rechner. Wenn er einen PC fände, würde er die CD des Priesters dort mal checken. Er zweifelte zwar ernsthaft daran, dass es sich dabei um etwas Wichtiges handelte, aber einen Versuch war es wert.

["Ich werde zur Messe kommen."]