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Ehrengarde
Nachdenklich blickte Cyrillus aus dem Fenster des Taxis, das ihn zum Flughafen brachte. Gestern hatte ihn die E-Mail eines befreundeten Zisterziensers erreicht, der ihm noch einen Gefallen schuldete. Als Sekretär eines der Mitglieder der Congregatio pro doctrina fidei hatte er Zugang zu deren Akten, und festgestellt, dass eine Liste angelegt worden war, in der alle Priester verzeichnet waren, die in der Zeit zwischen 1950 und 1990 aufgrund von Missbrauchsvorwürfen seitens der Gemeinde versetzt wurden. Wollte er sein Werk, seine Aufgabe, vollbringen, dann musste er diese Liste in die Hände bekommen. - Zeit nach Hause zurückzukehren.
Im Eingangsbereich des Flughafens gab er sein Gepäck auf. Prüfend sah ihn der Mitarbeiter der Flughafensicherheit an. „Den Stock ebenso!" „Aber, aber“, entgegnete Cyrillus, „Sie werden einem alten Mann doch nicht seine Gehhilfe nehmen wollen!" Fragend blickte der Beamte einen seiner Kollegen an, und tauschte mit ihm kurz ein paar leise Worte aus. „Nein, das geht leider nicht. Paragraf 52, Absatz 1 der Gepäckabfertigungsverordnung sagt aus, dass alle Gegenstände über dreißig Zentimetern die in ihrer Funktion geeignet sein könnten als Schlagwaffe eingesetzt zu werden, als Sondergepäck klassifiziert und abgefertigt werden müssen, und eben nicht als Handgepäck zählen.“ Grummelnd gab der Priester seinen Stock aus der Hand, nahm seinen Gepäckabfertigungsschein in Empfang, und schlenderte zu einer der Bänke, die an der Wand der Eingangshalle aufgestellt waren. Wenigstens hatte er noch seine Schleuder, die er anstatt seines kleinen Skapulieres um den Hals trug, seit er dieses verloren hatte.
Er fasste kurz in die Innentasche des Mantels seiner Habit, um zu prüfen, ob seine Karte auch noch sicher verstaut sei, und griff dann nach seiner Bibel, um sich mit dem Lesen eines Psalmes die Zeit zu vertreiben. Im selben Moment brach ein paar Meter von ihm entfernt röchelnd eine junge Frau in sich zusammen.
So schnell es mit seinem bösen Bein eben ohne Stock ging eilte Cyrillus zu der Frau, um Erste Hilfe zu leisten. Er kniete sich neben sie und fühlte nach ihrem Puls. Zu seiner Verwunderung konnte er keinen fühlen. Dennoch durchliefen Zuckungen den Körper der Frau, und ihr Röchelnder Atem wurde immer lauter. Plötzlich riss sie die Augen auf, und Cyrillus meinte in ihnen jenen gelben Schimmer erkennen zu können, den er auch bei den Besessenen gesehen hatte, zu den man ihn in den letzten Wochen rief. Cyrillus stand auf. Er ignorierte die Traube von Menschen, die sich um ihn und die Frau gebildet hatte, und zog seinen Ritus aus der Tasche.
„Exercízo te, omnis spiritus immúnde, in Nómine Dei, Patris omnipoténtis, et in nomine Jesu Christi Fílii ejus, Dómini et Júdicis nostri, et in virtúte Spirítus Sancti, ut discéndas ...“
Unsanft wurde Cyrillus zu Seite gestoßen. „Lassen Sie das einen Profi übernehmen“, meinte der junge Sanitäter, und beugte sich über die Frau. Cyrillus hingegen wich auf seine Bank zurück und entschloss sich für die Erlösung der Frau einen Rosenkranz zu beten.
„… Ave Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus ...“
Cyrillus Gedanken schweiften ab. Wieder war er in dieser dunklen, schummrigen Kirche. Nur von Kerzenlicht erhellt.
„... Heilige Maria, Muttergottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes ...“
Grinsend sah der eine der beiden Priester die vor ihm knieten auf, wohl wissend, dass die gerade abgelegte Beichte ihn schützen würde. Cyrillus wurde schlecht. Wie konnte man eine solche Tat überhaupt mit solchem Stolz beichten. Fasziniert beobachte Cyrillus wie sein eigener Arm, scheinbar ohne sein Zutun, nach dem schweren Kerzenständer neben sich griff, ihn anhob, und in einer schnellen Bewegung mit ihm den eben noch grinsenden den Schädel zertrümmerte. Eine Mischung von Schreck und Angst breitet sich auf dem Gesicht des anderen Knienden aus. Hastig raffte er sich auf und begann den Mittelgang hinab zu rennen. Cyrillus beobachte sich selbst, wie er den Kerzenständer hoch über seinen Kopf hob, und dem Fliehenden hinterher warf. Mit einem lauten Krachen zerbrach der Leuchter dessen Beine; Schreiend fiel er zu Boden. Langsam schritt Cyrillus den Gang hinab, kniete sich neben den schreienden Priester und riss sich sein Skapulier vom Hals. Er wickelte es um den des Schreienden, sprach „der Herr sei deiner Seele gnädig“, und begann es zu zuziehen. Ein leises Röcheln wurde immer lauter, und brach dann plötzlich ab.
Erschrocken blickte Cyrillus auf den Toten. „Was habe ich getan?" Langsam wankte er zurück zum Altar und setzte sich neben die andere Leiche. „Hatten sie das hier wirklich verdient?“ Cyrillus blickte auf den Priester neben sich. Das Blut das aus seinem Kopf sickerte schien auf dem Boden die Worte „Deus lo vult!“ zu bilden.
Eine Hand legte sich auf Cyrillus Schulter. Er schreckte auf. Zwei uniformierte Beamte standen vor ihm. Hatten sie es also doch herausgefunden? - Cyrillus nickte stumm, stand auf, und folgte den beiden. Doch statt ihn nach außen zu bringen, führten sie ihn tiefer in den Flughafen. Vor einer Tür, über der in großen Lettern "D-52" geschrieben stand, machten sie halt. „Bitte bleiben Sie bis auf Weiteres hier!“
Cyrillus durchschritt die hoffnungslos überfüllte Halle. An der Wand neben ihm lehnte ein rauchender Mann. „...ento Mor ...“, war in der Öffnung seines Hemdes zu sehen. Cyrillus wusste um den vollen Spruch und nickte ihm zu. Den Toten war wahrlich zu gedenken. Cyrillus stellte sich neben den Mann und fragte ihn: „Wissen Sie eventuell, was hier eigentlich los ist?“
Geändert von BIT (07.08.2012 um 11:54 Uhr)
Grund: Sig aus!
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