Genüsslich biss Ava in den Kirschkuchen. Das würde wohl das letzte Mal sein... Ava bedauerte es nicht zu sterben; sie hatte in den vergangenen Tagen mehr als genug Zeit gehabt, sich mit dem Gedanken anzufreunden, doch den Geschmack von frischen Früchten nie mehr zu schmecken, war unvorstellbar für sie.
Die Tür knarzte und Edmond betrat ihre Kammer. Immerhin hatte er den Anstand, sie persönlich zum Galgen zu führen. Hinter ihm folgten außerdem sieben Wachen, manche von ihnen Männer von Kurt Heinz Wolfinger von Kessel. Acht Männer, um eine einzige junge Frau dem Tod zu übergeben... Als wäre sie etwas Böses, Grauenvolles, das sie jederzeit in Stücke reißen konnte, sodass sie acht Männer bräuchten, um es zu bändigen.
Avas Gesicht verzog sich vor Abscheu. Doch es waren nicht die Wachen, die dieses Gefühl in ihr hervorriefen, sondern der Gedanke daran, dass man sie für einen.... stinkenden Köter gehalten hatte.

„Bist du bereit?“, fragte Edmond, worauf Ava rau lachten musste. „So bereit, wie man für Gevatter Tod sein kann!“
„Dann lass uns aufbrechen.“ Er wandte sich abrupt um. Was störte ihn so sehr? Dass sie lachte? Ihr Lachen wurde noch lauter, und diesmal lachte sie ihn aus. Verhöhnte ihn. Er hatte versagt. Die Stadt gemeinsam mit diesem unwissenden Bürschchen gegen sie aufgehetzt. Und für was? Die Genugtuung, endlich den Günstling hinrichten zu können, für den man ihn so lange gehalten hatte?

Ja, Ava war der Günstling, war es schon immer gewesen... Seit ihr Mann damals mit einer frischen Bisswunde zu ihr gekommen war, um ihr zu erzählen, dass er schon bald kein Mensch mehr sein würde. Sie war entsetzt gewesen. Doch was hätte sie tun sollen, außer zu versuchen, ihn vor Vampirjägern und anderen Häschern zu beschützen? Er hatte sich sein Schicksal schließlich nicht ausgesucht. Niemand von ihnen hatte das. Wer hätte ahnen können, dass er in der Nacht von einem Vampir angefallen werden und nur knapp mit dem Leben davonkommen würde?

Mit der Zeit verschwand sogar der Hass auf jene Wesen, die ihrer kleinen Familie so viel Leid beschert hatten. Sie waren, was sie waren. Es ist die Natur eines jeden Vampirs, nach menschlichem Blut zu dürsten. Vermutlich hatte ein jeder von ihnen mit der selben Vergangenheit zu kämpfen wie ihr Mann und konnte die gleiche Geschichte erzählen. Wer war sie denn schon, um über sie urteilen zu dürfen?
Sie wurde sogar wieder glücklich, für eine Zeit... Sie konnten zwar ihren Traum nach gemeinsamen Kindern nicht länger realisieren, doch es waren trotzdem erfüllte Tage gewesen. Ava hatte es stillschweigend hingenommen, dass ihr Mann nachts Menschen jagte. Sie waren Opfer, über die sie nur zu gern hinwegsah.
Doch dann kamen die Vampirjäger und nahmen ihr alles weg, das ihr etwas bedeutete. Skrupellos ermordeten sie ihn, als er gerade zum Obstverkauf gegangen war. Der Mord wurde vertuscht und als harmloser Überfall dargestellt. Das Volk durfte niemals von den Vampiren erfahren, da stimmten Vampirjäger und Vampire überein. Aber ein Überfall? Als ob sie etwas gehabt hätten, dass sich den Aufwand eines Raubes gelohnt hätte...
Ava selbst wurde nicht weiter behelligt. Sie wurde zwar argwöhnisch beäugt, doch da man ihr nicht nachweisen konnte, dass sie von den Aktivitäten ihres Ehemannes gewusst hatte, ließ man sie unversehrt. Doch das bedeutete ihr nicht mehr viel. Sie hatte alles verloren. Alles, außer ihrer Obstplantage.

In den folgenden Jahren war diese ihr Leben. Ava ging ihrer Arbeit nach und versuchte, keine festen Beziehungen zu den anderen Dorfbewohnern aufzubauen, damit sie nicht auf die damaligen Geschehnisse aufmerksam wurden. Denn allzu enge Freunde fingen an, Fragen zu stellen.
Bis in jener Nacht plötzlich jemand an ihrer Tür geklopft hatte. Es war ein Vampir gewesen. Er erzählte ihr von einem Machtkampf zwischen Menschen, Vampiren und Werwölfen, der sich wohl bald ereignen würde und bat sie um ihre Unterstützung. Ava willigte sofort ein. Sie scheute zwar die Auseinandersetzung mit den Menschen, deren Rasse sie angehörte, doch gegen tote Werwölfe hatte sie absolut nichts einzuwenden. Je weniger von diesem Abschaum es auf der Welt gab, umso besser. Verflohte, schmutzige, barbarische Monströsitäten! Schon allein bei dem Gedanken an diese haarigen Widerlinge schauderte Ava.

Edmond holte sie wieder in das Hier und Jetzt zurück. Er packte sie am Arm und zog sie auf das Podest. Als sie stolperte, wurde sie unwirsch von einem Soldaten wieder auf die Beine gezerrt.
Vor dem Galgen war die gesamte Bürgerschaft versammelt. Allen voran, in der ersten Reihe, standen die restlichen vier Vertrauenspersonen, zu denen sie bald nicht mehr gehören würde. Fast war sie froh darum. Keine Verantwortung mehr tragen zu müssen, hatte etwas Reizvolles an sich.
„Willst du uns nicht endlich offenbaren, wer oder was du wirklich bist?“, fragte der Bürgermeister schließlich eisig. Hah! Er glaubte immer noch, im Recht zu sein. Oder hörte sie da ein wenig Unsicherheit, die seine Stimme zittern ließ?
„Das werde ich!“, antwortete Ava gelassen. Vielleicht war es der Gedanke an ihren Mann, der ihr Kraft gab, oder die Tatsache, dass der Tod zu einer unvermeidlichen Tatsache geworden war. Was auch immer es war, es half ihr, ihre Angst zu vertreiben.

„Ich bin nicht das, wofür ihr mich haltet.“, eröffnete sie. Einige Vertrauenspersonen schlossen bestürzt die Augen bei dieser Offenbarung, andere wussten es schon und hatten es immer schon gewusst. „Dennoch...“, fuhr Ava fort, „...bin ich nicht unschuldig. Edmond Dantes stellte einmal sehr scharfsinnig fest, dass mein Wahlverhalten besser zu einem Vampir als zu einem Werwolf passen würde. Wahrscheinlich war das die einzig richtige Theorie, die er in der gesamten Amtszeit als Bürgermeister aufgestellt hat. Denn ich stand auf ihrer Seite und habe mich mit ihnen verbündet. Versteht mich nicht falsch, gegen Menschen und dergleichen hatte ich nie etwas einzuwenden; ich war nie eine reale Gefahr für euch. Mein einziges Ziel war es, Werwölfe aufzuspüren und zu vernichten. Der Tod am Galgen war nicht für mich bestimmt, sondern für eine dieser haarigen Bestien. Hätten wir es geschafft, eine aufzuspüren, wäre es vielleicht nie soweit gekommen. Ich wünsche euch viel Glück bei der Suche nach den Quellen des Übels.“ Ava lächelte noch einmal traurig in die Menge und begegnete Maxims Blick. Es war schade, dass ihre Freundschaft auf diese Art und Weise hatte enden müssen. Dann wandte sie sich Edmond zu und sagte entschlossen: „Ich werde mich nun eurem Urteil fügen.“

Als sie auf den Stuhl stieg, den man für die Hinrichtung bereit gestellt hatte, begann Ava ein Lied zu summen. Und sie fing an zu singen, als man ihr die Schlinge um den Hals legte, sang, als ihr Edmond den Stuhl unter den Füßen wegzog, sang, bis ihr der Strick die Luft abschnürte.

Selbst als Avas Füße längst aufgehört hatten in der Luft zu zucken, war die Nacht erfüllt von dem Klang des Liedes. Jedoch war es kein schmerzliches Lied, sondern eines, dass man die Obstbäuerin oft fröhlich beim Pflücken hatte summen hören. Es verhieß Glück, Freude und Liebe.
Es verhieß einen Neuanfang.