Rastlos wanderte Edmond in der letzten Nacht umher und zerbrach sich den Kopf über diese schicksalshafte Wendung, die der letzte Abend genommen hatte. Erneut war er vollkommen entkräftet und inzwischen kam ihm alles wie ein böser Traum vor, wie ein Streich, die höhere Mächte ihm spielten und es schien, als wäre er nichts weiter als eine Puppe in einem Theater, deren Fäden von gerade diesen unsichtbaren Kräften gezogen wurde. Gefangen in einem Körper, der in den letzten Tagen mehr Unheil zu verbreiten schien und sich somit seiner eigentlichen Bestimmung aufs Äußerste widersetzte.

Doch es steckte noch immer ein Funken Hoffnung in ihm und so lange er noch das Glück hatte zu leben, wollte er gewiss nicht aufgeben und tatenlos mitansehen müssen, wie diese Kreaturen der Nacht sich auch über die letzten menschlichen Stadtbewohner hermachen würden. Auch wenn ihr Schicksal inzwischen an einem seidenen Faden hing, so war sein Willen doch noch nicht gebrochen und schließlich war er niemand geringeres als der Bürgermeister dieses verfluchten Ortes!
Die Toten der letzten Tage hatten dennoch tiefe Wunden in die Seelen aller Bürgerinnen und Bürger gerissen, welche immer mehr anfällig wurden für jegliche Art der Verleumdung und Beschuldigung, aus denen einzig und allein ihre Feinde einen Vorteil ziehen konnten. Der unerwartete Tod Selenes hatte trotz allem auch bei Edmond tiefe Spuren hinterlassen, und während er so durch die Gänge auf und ab schritt, zweifelte er immer wieder an seinem Verstand. Waren seine Entscheidungen tatsächlich so falsch gewesen? Einen Mörder hatte er zum Tode verurteilt, doch konnte er damit nicht verhindern, dass dennoch jemand diesem wahnsinnigen Menschen zum Opfer will. Selene. Ausgerechnet Selene.

Ob ein Fluch an ihm haftete, dem jede Frau zum Opfer fiel, die sich ihm näherte? Wäre es um die Lage nicht so ernst bestellt, hätte man durchaus in Aberglaube verfallen können. Doch es half nichts. Dass sie sich Zeit ihres Lebens insgeheim der Aufgabe gewidmet hat, andere Leute zu beschützen, musste sie nun teuer bezahlen. Und nun schienen alle Mühen vergebens und all diese Menschen eines sinnlosen Todes gestorben zu sein. Nein, so sehr es ihn auch bewegte, so wenig durfte sich Edmond nun von seiner Trauer betäuben lassen. Wenn all dies vorbei war, dann würde er sicherlich genügend Zeit haben, diese persönlichen Verluste zu beklagen. Menschen mochten sterben, doch die Ideale der Freiheit und Gleichheit, von welchen auch Selene stets geträumt hatte, konnten nicht so einfach von irgendwelchen Tieren ausgerottet werden!

Wenn auch sichtlich erschöpft, bestritt Edmond entschlossen den neuen Tag und versuchte, Herr seiner Gedanken und Gefühle zu werden, um endlich Klarheit zu gewinnen. Er machte sich auf dem Weg zum Rathaus und als er zum Himmel hinaufblickte, fielen auch schon die ersten Tropfen. Die Wolken hatten sich bedrohlich dunkel zusammengezogen und der aufkommende Regen ließ das Gefühl erwecken, als würden sie über die Toten des vergangenen Abends weinen. Oder waren es Tränen ob der Opfer, die es noch geben würde, ehe wieder die Sonne erstrahlen sollte?

Es dauerte nicht lange und Maxim trat in Edmonds Arbeitszimmer. So schnell er gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Eine gar merkwürdige Szene, die sich dort abgespielt hatte, jedoch fehlte es dem Grafen in diesem Augenblick einfach an das notwendige Feingefühl, so dass Maxim ihn traurig und enttäuscht verließ. Auch ihm war Selenes Tod offensichtlich nahe gegangen und so verübelte Edmond ihm seinen Ausraster nicht weiter, wohlwissend, dass Maxim schließlich wieder zur Vernunft kommen würde, denn schlussends würde auch er begreifen, dass es manchmal Situationen im Leben gab, in denen persönliche Gefühle auf der Strecke bleiben mussten, denn schließlich ging es hier und jetzt um weit mehr, als um den Verlust eines geliebten Menschens. Vielleicht versuchte Edmond aber auch einfach nur die Tragik der letzten Ereignisse geschickt zu verdrängen,
Noch während Edmond über Maxims Worte nachdachte, sah er zum Fenster hinaus auch schon Miller, wie er sich zügigen Schrittes dem Rathaus näherte...