Müde und unsicheren Schrittes ging Miller durch die Straßen. Seine Beine hatten ihn zuerst in die Kirche geführt, wo er einige Worte mit dem Pfarrer wechselte. Noch immer verstört von dem nächtlichen Albtraum hatte er gehofft, hier guten Rat zu erhalten, doch er wurde enttäuscht - der Pfaffe empfahl Gebete und bemerkte, dass Fremde immer verdächtier als langjährige Stadtbewohner waren. Als Miller, einer schnellen Idee folgend, schließlich nach eventuellen Beichten fragte, die Aufschluss geben könnten, bat ihn der Pfarrer nachdrücklich und mit hochrotem Gesicht, die Kirche augenblicklich zu verlassen.
Als Miller auf den Marktplatz trat, konnte er vor dem Wirtshaus einen kleinen Menschenauflauf sehen. Anscheinend wurde erregt diskutiert. Im Näherkommen erkannte er einige der Vertrauenspersonen und ahnte bereits das schlimmste. In diesem Moment ertönte von einer kleinen Bühne auf dem Marktplatz die Stimme eines Kundgebers, der eine Mitteilung des Bürgermeisters verlas.
"... Zumindest an Wein dürfte es uns während der Diskussion heute nicht mangeln! Es unterzeichnet seine Exzellenz, der Bürgermeister Edmont von Dantes!"
Miller traute seinen Ohren kaum. Was für ein zynischer Geist kam auf die Idee, zwei Tage nach der fälschlichen Hinrichtung eines ehrenbaren Bürgers die Kelterei desselben zu plündern?! Doch dann fiel ihm ein, dass Herr von Dantes wahrscheinlich mit seinem persönlichen Vermögen dafür bezahlte. Möglicherweise stand sogar die berechnende List dahinter, mit dem Wein gewisse Zungen zu lockern, auf dass sie ihre Geheimnisse verrieten.
Der erste Teil der Nachricht hinterließ einen bittersüßen Nachgeschmack. Die Werwölfe hatten eine Vampirin ermordet. Konnte Miller sich darüber freuen? Nein, keineswegs - vielmehr war er erschüttert, dass die unscheinbare Elly, die sich ihm gegenüber nie verdächtig gemacht hatte, eine Ausgeburt der Hölle sein sollte. Damit erklärte sich jedoch der Auflauf vor dem Wirtshaus. Er eilte dorthin. Vor der Tür standen Havelock, Adryan und Libra.
"Ist bei Ihnen alles in Ordnung?"
Miller zuckte zusammen, als jemand von der Seite auf ihn zutrat. Er hatte Rowan nicht bemerkt. Er hob seine Arme und holte erst einmal Luft.
"Ich habe schlecht geschlafen, das ist alles. Es setzt uns allen zu, was letzte Nacht geschehen ist, denke ich." Miller bemerkte die Schnapsflasche neben Rowan. "Und jeder hat seine Art, damit umzugehen. Sagen Sie, was ist hier vorgefallen? Wer hat etwas gesehen?"
"Es war meiner selbst, dessen Augen diese Gräueltat zuerst zu erblicken verdammet waren. In der Folge gab meine Pistole auf mein Drängen einige Warnschüsse ab, so die Werwölfe vertrieben und die Bürger zugleich alarmiert sein würden. Der zu berichtenden Tatsachen bleiben nur wenige. Den Schankraum okkupieren momentan Herr Schönbrunn und Herr Dankwart sowie der trauernde Vater der Verstorbenen, deren Leiche bereits aus Gründen der Unsicherheit einer Verbrennung in geschlossenen Räumen durch Männer der Wacht fortgeschafft wurde."
Miller stutzte kurz, dann nickte er. "Vielen Dank. Ich denke, ich werde mich kurz mit den Personen im Wirtshaus unterhalten. Wenn ich die Mitteilung des Bürgermeisters richtig deute, könnte dies die letzte Gelegenheit sein, etwas Nützliches aus Herrn Schönbrunn zu erfahren."
Er wandte sich ab und öffnete die Tür, wobei ein sanfter Druck genügte, denn das Schloss tat seinen Dienst nicht mehr. Drinnen wischte der Wirt unter Tränen den Boden, vermutlich die Stelle, an der Ellys Leiche gefunden worden war. Seine Tochter war eine Blutsaugerin, doch sie war immer noch seine Tochter, dachte Miller bei seinem Anblick. Er liebt sie immer noch, aller Vernunft zum Trotz. Und... ist es nicht verständlich? Sie hatte sich dieses Schicksal nicht ausgesucht. Sie war nur ein Mädchen, das dunklen Mächten zum Opfer gefallen war.
Der Anblick des Wirts berührte ihn mehr, als Miller sich eingestehen konnte. Irgendwo da draußen...
Miller riss sich zusammen und sah sich nach Talis und Dankwart um. Talis lag stöhnend auf dem Boden und krümmte sich, er sah schwer zugerichtet aus. Was war hier nun schon wieder vorgefallen? Kurz überlegte er, ob er dem Verwundeten helfen sollte, doch dann entschied er sich, dass selbst sein Hauptverdächtiger das Recht auf menschlichen Umgang hatte - das eine, was die Bürger den Vampiren und Werwölfen voraus hatten. Er half dem Mann auf einen Stuhl und holte einen nassen Lappen, um die Verletzungen zu kühlen.