Shael schien ein Morgenmuffel zu sein. Mit zerzausten Haaren bot er Selene an mit ihr nach dem Frühstück gemeinsam zum Ermittler zu gehen, den er am gestrigen Abend in die Taverne begleitet hatte und bat sie solange vor dem schlichten Haus zu warten.

Lange Zeit geschah nichts, ausser das sie von weitem hörte das markante Tocken eines Gehstocks hörte, es aber nicht so recht einzuordnen wusste. Eine Wache, die Patroullie lief, kam bald schon auf Selene zu und fragte was sie hier zu suchen habe. Sie blieb dem Wachmann aber die Antwort schuldig – denn in diesem Augenblick gellte ein markerschütternder Schrei durch die Straßen Düsterburgs.

Selene rannte, so schnell wie ihre Füße sie trugen die Straße hinab zum Gasthaus, woher der Schrei gekommen war. Es war umgeben von alten Bäumen und nichts sah auf den ersten Blick ungewöhnlich aus. Der Wachmann schob sich eilig neben der zögernden Selene vorbei und pfiff durchdringend in eine metallene Pfeife, die er um den Hals trug.

Dann ertönte mitten aus der Stadt ein weiterer gellender Pfiff. Verwirrt blickte Selene zurück - hinter ihnen sah sie bereits Shael mit einem halb verschütteten Becher Kaffee in der einen Hand und einer Mistgabel in der anderen und immernoch mit wirrem Haar heranlaufen, sowie einige andere müde aussehende Bürgern die notdürftige Prügel bei sich hatten und weitere Wachen.

Als sie dem Weg des Wachmanns folgte, erblickte sie nach einigen Metern auch sein Ziel: Ein Haufen aus roten und schwarzen Haaren und violettem Stoff. Sie kniff die Augen zusammen und hielt sich die Hand vor den Mund – in diesem massigen Knäul waren drei Hände sichtbar... dort lag ein Mensch... nein, Gott bewahre... drei Hände... dann mussten es zwei sein...

Wieder gellte ein Pfiff vor ihr durch den frühen Morgen um den Herannahenden den Weg zu weisen. Dann keuchte der Wachmann vor Selene leise auf - „Ein Glück, eine Frau scheint noch zu leben.“ was sie dazu brachte sich dem schauerlichen Ort doch zu nähern.

Die junge Stadtwache blickte Selene durchdringend an und wies sie an nichts anzufassen, bevor er keine Tatortskizze gemacht hatte. Kurz darauf schleppten sie mit Hilfe des Wirts die rothaarige Abenteurerin in den Eingangsraum des Gasthauses.

Draussen hörten sie die Wachleute, die leise miteinander redeten - „Dieser Mantel wurde neben dem Gasthaus gefunden. Scheint sich vor allem um Knoblauch, Amulette und Spirituosen zu handeln. Eines der Fenster stand offen und wieder waren überall Haare verstreut und ein scheußlicher Geruch hing in der Luft.“ „Die Meldung am Hafen war nichts weiter, nur ein kleiner Streuner, der sich verletzt zu haben schien.“

~*~

Nichts entging seinem wachen Blick und Adryan sog alle Details in sich auf, die er bekommen konnte.

Einige Bürger brachten Fackeln mit und erhellten den Fundort weiter, wobei sie aber bald von einigen Wachen auf Abstand gehalten wurden um keine Spuren zu verwischen. Deutlich zeichneten sich auf dem Boden blutrote Tatzenabdrücke ab – zweimal so lang wie der Fuß eines ausgewachsenen Mannes.

Die weiße Birkenrinde eines nahestehenden Baumes war von blutverschmierten Striemen bedeckt, ebenso wie das Pflaster an manchen Stellen mit rötlicher Feuchtigkeit getränkt zu sein schien.

~*~

Überall an der hübschen Frau klebten Blut und kurze schwarze Haare... zum Glück schien die Frau aber unverletzt zu sein. „Libra“, murmelte Selene leise, als sie sich an ihr erstes Treffen mit der aufgeweckten Frau erinnerte das erst vor 3 Tagen gewesen war. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.

Sie war totenblass und ohne das forsche Glitzern ihrer grauen Augen sah sie merkwürdig schutzbedürftig aus. Aber es fanden sich viele hilfreiche Hände um es der jungen Abenteurerin so bequem wie möglich zu machen, also setzte sich Selene wieder ab und schnürte sich erst einmal vor der Gasthoftür die Schuhe wieder richtig zu.

Dann das Geräusch von schweren Stiefeln auf dem Pflaster. Ein dreckiger beiger Mantel schob sich in ihr Gesichtsfeld. Immer noch über ihre Stiefel gebeugt murmelte sie leise. „Gut das ihr hier seid, Adryan, ich meine Herr Clerk Sir.“

Shael hatte sich dem Ermittler bereits wieder angeschlossen und sein Haar dürftig glattgestrichen. „Die Lage ist klar, nicht wahr?“, murmelte er aufgeregt in Richtung des Ermittlers. Der jedoch wandte sich erst einmal interessiert an Selene. „Man sagte mir, sie hätten mich heute morgen gesucht?“

„Ja, das stimmt Sir. Ich möchte ihnen mit all meiner Kraft zur Seite stehen, so wie sie das derzeit bereits Shael erlauben. Sie sind der einzige von dem ich denke das er nicht mit den … Mördern... im Bunde steht. Und deshalb möchte ich mit ihnen über meine Verdachte sprechen. Was halten sie beispielsweise von dem, was Grandy gestern den Tag über zum besten gab? Ich meine, die beiden Geistesblitze die er gehabt haben will?“

Sie blickte mit großen Augen in das gezeichnete Gesicht des Mannes, der vor ihr stand. Er war noch jung, aber schien gleichzeitig auch uralt zu sein. Aber an diesem verdammten Ort schien doch jeder ein merkwürdiges Schicksal zu haben!

„Und Shael, was meinst du? Irrte er sich, versprach sich nur aus versehen oder log er ganz bewusst?“
Der Bauernsohn war bekannt für sein aufgewecktes Wesen (nach dem Frühstück wohlgemerkt) und sie wollte ihn auf jeden Fall ebenfalls mit in das Gespräch einbeziehen.