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Thema: [Vampire von Düsterburg] Tag 2

Baum-Darstellung

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  1. #11
    Miller hatte Tee gemacht und die Zeit genutzt, sich zu sammeln. Ihm gefiel nicht, welches Bild er da gerade abgeliefert hatte, aber sei's drum. Es waren gefährliche Zeiten, in denen ein wenig Angst und Vorsicht durchaus ihre Berechtigung hatten.
    Er trat mit dem Tee in die Stube. Seine Brille hatte er sich aufgesetzt, und so konnte er nun genau erkennen, dass vor ihm Libra, Dankwart, Adryan Clerc... und, ja, auch der Antiquar Havelock saßen. Während er Libra nicht einschätzen konnte und Adryan weiterhin eines düstren Charakters verdächtigte, war er erleichtert über die Anwesenheit der beiden älteren Semester, die dem plötzlichen Auftritt ihren bedrohlichen Charakter nahm. Miller schenkte Tee ein und fragte: "Nun, was ist der Grund dieses Überfalls?"

    Dankwart erhob die Stimme. "Ganz einfach, Herr Miller. Herr Clerc hier machte uns vorhin darauf aufmerksam, dass Ihr Verhalten am Vortag ein wenig ungewöhnlich war. Wir alle sind uns einig, dass es... äußerst merkwürdig von ihnen war, ausgerechnet einen Hund des Mordes zu beschuldigen. Darum, und da in Kürze eine Versammlung beginnt, bei der Sie auch anwesend sein sollten, sind wir direkt zu Ihnen gegangen, um ungestört Ihre Erklärung dazu zu hören."
    Miller blickte verwundert in die Runde. "Ich mag zwar nur ein einfacher Mann sein, aber Gott steh mir bei, mein Verstand bringt mich noch in Teufels Küche!" Er seufzte. "Ich möchte Sie eines fragen, meine Herrschaften - wenn nicht ein Hund oder Wolf, was war in jenem Augenblick Ihre Vermutung? Es hatte sich doch herumgesprochen, dass die Stadtwache einen Mörder suchte. Gleichzeitig erzählte man sich auf dem Marktplatz, dass der Tote Bissspuren eines Raubtieres aufwies. Benutzen Sie ihren Verstand, und verbinden Sie diese beiden Gerüchte, die mittlerweile als Tatsachen bekannt sind: Was ist die logische Schlussfolgerung? Ich gebe zu, es gibt viele Möglichkeiten, doch die erste, die mir in den Sinn kam, war: Der Mörder war ein Mann aus Fleisch und Blut, doch er hatte einen tierischen Komplizen - eine abgerichtete Bestie."
    Havelock meldete sich zu Wort: "Ich kann Ihre Logik nachvollziehen, jedoch muss auch ich sagen, dass ich den zweiten Schritt hier nicht verstehe. Warum haben Sie den Hund von Herrn Grandy beschuldigt?"
    "Das kann ich ganz leicht erklären: Ich habe den Hund nie beschuldigt. Das war ein Missverständnis, das ich sogleich wieder aus der Welt räumen wollte, jedoch arbeitete die aufgeladene Stimmung auf dem Marktplatz gegen mich. Unter keiner Situation würde ich einen Hund eines Mordes anklagen, sondern allerhöchstens den Besitzer. Wie dieser jedoch selbst feststellte, würde er nicht hinterrücks angreifen, sondern ein Duell fordern, und auch bedürfte er nicht der Hilfe seines Hundes - sein Schwertarm wäre vollkommen ausreichen, um einen Mann wie den Toten niederzustrecken.
    Grandy schied aus. Als ich ihn jedoch dort sah, fiel mir plötzlich die missliche Lage auf, in die er geraten könnte, wenn die Meute die gleichen Schlussfolgerungen wie ich zöge. Darum wandte ich mich an ihn, in der Hoffnung, ich könnte meine Gedanken verständlich machen und ihn dazu bewegen, seinen Hund schnell nach Hause zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt war Herrn Grandy immerhin noch nicht bewusst, dass Düsterburg eines der rückständigsten Systeme von Lynchjustiz südlich von Königsberg besitzt!"


    Für eine Weile herrschte Stille. Miller schlürfte seinen Tee und war gespannt, was die anderen zu dieser Erklärung zu sagen hatten. Havelock verzog einen Mundwinkel zu einem leichten Lächeln und nickte ihm zu. Dankwart lehnte sich zurück und schien ins Grübeln zu geraten. Adryan Clerc war still, schien sich aber seine Gedanken zu machen, welche, das wollte Miller sich nicht vorstellen.
    "Schön, Sie wollten Grandy also nicht anklagen. Und Julie auch nicht. Und überhaupt keinen, denn das System ist ungerecht. Da haben sie sich ja gerade einen schönen Heiligenschein aufgesetzt, Herr Miller!" Libra funkelte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. "Aber, was zum Henker haben sie dann gestern die ganze Zeit von Werwölfen gefaselt?! Das macht doch keinen Sinn!"
    "NATÜRLICH macht das SINN!", polterte Miller drauf los. "Junge Dame, wenn ich hier meine Gosche wund rede, dann hören Sie auch zu! Wie ich gerade erklärt habe, schied Grandy als Täter aus. Also, wer hat sonst noch einen Hund, bestenfalls abgerichtet, groß und gefährlich, und war vorgestern Abend hier in der Stadt? Niemand, das ist der Punkt! Hier in Düsterburg hält sich der Adel doch höchstens ein Schoßhündchen, das einen vielleicht mit seiner Zunge zu Tode kitzeln würde, und niemand sonst kann sich einen Hund leisten! Ein Wolfsrudel kommt nicht in Frage und widerspricht außerdem der Tatsache, dass die Stadtwache irgendeinen Hinweis gefunden hatte, der auf einen menschlichen Täter schließen und uns eine Abstimmung auf Leben und Tod halten ließ! Strengen Sie Ihren Verstand an, und gehen sie den logischen Schritt, den hier niemand gehen möchte! Gehen Sie den Schritt, den Sie hätten gehen müssen, als Sie sahen, wie sich ein Vampir in unserer Stadtkirche das Herz herausriss und zu Staub zerfiel!"

    Miller blickte zu Boden. Dann sagte er, mit ruhiger Stimme: "Buch der Richter, Kapitel 13-16. Schimschon war ein Mann, von dem es hieß, er habe göttliche Kräfte. Der Ursprung seiner Kräfte, so hieß es, waren seine Haare. Natürlich sagten die Israeliten, dass es göttliche Kräfte waren, denn er riss in einer Nacht ganze Zeltlager von Philistern. Doch war dies das Werk eines Gottes? Man glaubte, man habe seine Schwachstelle gefunden, als die Philister ihm die Haare scherten und ihn für sich arbeiten ließen, doch eines abends flehte er gen Himmel, das Heulen einer geblendeten, tollwütigen Bestie, und die Haare wuchsen ihm wieder, woraufhin er den Tempel mit tausenden Philistern darin mit einem gewaltigen Prankenhieb zerstörte. Dann bricht die Geschichte ab."
    Er sah Libra an und sagte: "Halten Sie mich für einen alten Narren, so viel sie möchten. Ich habe meinen Glauben und ich habe die Geschichten, die er mich lehrt. Und wenn da draußen ein Mörder unterwegs ist, der seine Opfer wie ein Wolf zerfetzt, dann sage ich gehobenen Hauptes: das kann nur ein Werwolf sein!"

    Dankwart und Havelock waren in eine Art Denkerstarre verfallen. Libra sah Miller mit großen Augen an.
    Es war Clerc, der sich als erster wieder zu Wort meldete, und damit die anderen wachrüttelte. "In wenigen Minuten beginnt die Versammlung. Wir sollten uns auf den Weg machen."

    Sie machten sich auf den Weg zur Taverne.

    Geändert von Schattenläufer (17.11.2011 um 20:12 Uhr)

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