Kein Kerzenschein oder ähnliches, nur der Mondschein erhellte das Schlafzimmer, und bis auf ein regelmäßges Ticken der großen, prunkvollen Pendeluhr, war kein Geräusch auszumachen.
Die Stille wurde höchstens von einem leisen Schlucken unterbrochen - nicht aber von Wimmern, Weinen oder gar Schluchzen. Sophia saß regungslos an ihrer Seite des Ehebettes, mit einem Glas Wein in der Hand. Stumm starrte sie in eine unbestimmte Ecke des Zimmers.

Es war einfach nicht ihre Art, zu weinen. Das letzte Mal, als sie geweint hatte, war sie noch ein junges Mädchen gewesen. Ein Vogel war ausgerechnet an ihrem Geburtstag gegen ein Fenster geflogen, und verendete nach dem Zusammenprall vor ihren Augen. Doch damals hatte sie gelernt, dass sich alles in ihrem Leben ersetzen ließ. Als Trost für den toten Vogel hatte sie wenig später einen eigenen in einem Käfig erhalten, der eine wundervolle Singstimme gehabt hatte. Etwas später war die Großmutter gestorben - eine vornehme Dame, die maßgeblich daran beteiligt war, dass Sophia lesen lernen konnte. Ihr Verlust wurde durch einen neuen Privatlehrer ausgeglichen, der einige Zeit auf See verbracht hatte, und Sophia mit seinen Geschichten von allen Unannehmlichkeiten bestens Ablenken konnte. Die Trennung von ihren Eltern durch die Heirat wurde zu einer Nichtigkeit, als sie Caspar von Busch das erste Mal gesehen hatte, und er den Platz in ihrem Herzen vollkommen ausfüllte. Und nun, da dieser Mann nicht mehr da war, da...
Da gab es nichts mehr. Nichts, das diese Lücke füllen hätte können. Was immer auch kommen sollte, wer ihre Wege kreuzen würde, oder was sie auch immer mit ihrem Geld kaufen konnte - nichts davon konnte Caspar ersetzen.

Sophia schwenkte das Glas in ihrer Hand leicht hin und her. Dann, mit einer schnellen, und für sie ungewöhnlich ungraziösen Bewegung, feuerte sie das Glas mit dem Wein an die Wand. Es zerbarst in tausend Scherben, die auf den Boden rieselten, und mit den leichten Reflektionen des Mondlichtes wirkten sie wie ein Regen aus kleinen, glitzernden Sternen. Eine rote Lache breitete sich aus. Selene oder Rebecca würden sich wahrscheinlich ärgern, Wein bekam man nicht mehr wirklich aus einem Teppich. Sophia strich kurz über die Seite des Bettes, auf der Caspar immer geschlafen hatte. Die Dienstmädchen hatten es Morgens natürlich gemacht, und so war keine Spur davon zu sehen, dass dort jemand geschlafen hatte - genauso gut hätte Sophia sich all die Zeit einbilden können, einen Gatten gehabt zu haben, so aufgeräumt war es hier. Aber es gab noch die Dinge, die man nicht offensichtlich sehen konnte, zum Beispiel die Gerüche, die noch in der Luft hingen, allen voran der verschüttete Wein, der derselbe war, den die von Buschs noch am Vorabend getrunken hatten, um die Bürgermeisterwahl zu feiern. Sophia erhob sich schwerfällig, öffnete das Fenster und atmete tief die frische Nachtluft ein. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht die Schatten bemerkte, die sich draußen regten. Sie erinnerte sich gut an die Aussagen der Bürger, dass Caspar etwas mit dem Mord zu tun gehabt hatte, und sein Tod kein Verlust war. Er war ein Betrüger, hatte eine geheime Identität, wollte nichts Gutes über die Stadt bringen. Irgendsoein Kauderwelsch. Doch Sophia hatte ihren Mann gekannt. Er hatte bestimmt Gründe, in den Mord verwickelt zu sein, und hatte keine Zeit mehr gehabt, sich zu erklären. Sie wusste, dass seine Leidenschaft für Düsterburg nicht nur Fassade sein konnte, sie hatte seine Augen gesehen, seine Aufregung gespürt, als er an der Rede gearbeitet hatte. Und, was am wichtigsten war, er hatte sie immer gut behandelt, seine Gefühle waren echt gewesen. Was in der Welt interessierten sie die Ansichten der Bürger von Düsterburg, wo sie ihren Mann doch so viel besser kannte, und niemals an ihm und seinen Motiven zweifeln würde.

Sie würde sich einfach hier verbarrikadieren, niemanden mehr sehen und warten, bis irgendetwas passierte, das ihr einen Weg weisen konnte; was zum Teufel - sie fluchte normalerweise nie - sollte sie sonst schon tun?
Nun, das "irgendetwas", auf das sie warten wollte, kam schneller als Sophia sich vorstellen konnte. Nachdem sie nur kurze Zeit so aus dem Fenster geblickt hatte, riss plötzlich eine Kreatur sie durch diese Öffnung nach draußen. Sie konnte nicht einmal mehr einen Gedanken fassen, so schnell war es vorbei mit ihr. Die wohlhabende, stolze Stadtbewohnerin starb, bevor sie den wahren Schmerz eines Verlustes voll zu spüren bekam, und war daher wahrscheinlich noch mit Glück gesegnet.