Tag 3, kurz vor Sonnenaufgang:

Ein ungutes Gefühl weckte Dorothea in aller Frühe auf. Am Horizont wurden gerade
die ersten Sonnestrahlen sichtbar und es würde noch eine Weile dauern, bis der erste Hahn seinen Schrei erklingen ließ. Dennoch widerstand Dorothea dem Drang, sich wieder unter ihre Decke zu verkriechen. Sie spürte in ihrem Inneren, dass etwas nicht in Ordnung war. Und solche Gefühle verrieten sie selten. Eilig kleidete sie sich an und verließ das Haus. Kaum, dass sie einen Schritt vor die Tür gesetzt hatte, erstarrte sie. Vor ihr stand eine nur allzu bekannte Gestalt. Und der unfreundliche Blick, der auf sie gerichtet war, verhieß nichts gutes.
"So, wer hätte gedacht, dass solch ein gottesfürchtiges, junges Fräulein in Wahrheit eine verdammte Ketzerin ist."
Dorothea senkte den Kopf. Also war sie entlarvt. Mit fester Stimme erwiederte sie: "Es ist nicht mein Wunsch, Unglück über dieses Dorf zu bringen. Ich habe niemandem jemals etwas zuleide getan und noch nicht einmal versucht, einen der Euren vom Glauben abzubringen. Ich habe keinen Fehler begangen." Die Augen ihres Gegenübers starrten sie kalt an. "Die Worte einer Ungläubigen können mich nicht von meiner Pflicht abbringen, Recht und Ordnung über unser Dorf zu bringen. Und Ketzer gehören dem Feuer." Eine kleine Pause entstand. "Nichtsdestotrotz seid nicht Ihr es, der unsere ungeteilte Aufmerksamkeit gelten sollte. Wir müssen die Lumianer unschädlich machen, alles andere ist zweitrangig. Ich werde Euch also die Wahl lassen: Verlasst das Dorf vor dem ersten Hahnenschrei und kehrt nie wieder zurück... oder erhaltet Eure gerechte Strafe und brennt sobald die Sonne untergeht." Mit diesen Worten wurde Dorothea allein gelassen. Sie war nicht sonderlich überrascht, hatte sie doch immer damit gerechnet, dass irgendjemand früher oder später hinter ihr Geheimnis kommen würde. Dennoch brannten ihre Augen, bei dem Gedanken, gehen zu müssen. Schweren Schrittes betrat sie ihr Haus, packte hastig ihre Runen, einige Bücher sowie ihr Nähzeug und einige Kleider und Vorräte zusammen. Dann trat sie nach draußen, schloss sorgfältig die Tür und steuerte auf den Waldweg zu. Irgendwo würde sie einen neuen Platz zum Leben finden
. Wo keine Sekte den Menschen nach dem Leben trachtete. Wo die die Gräber ihrer Familie keinen erinnerungsschweren Schtten auf sie warfen. Wo niemand ihr Geheimnis kannte. Eine einzelne Träne fiel zu Boden, als sie die Grenze zwischen Dorf und Wald überschritt und sich ein letztes mal umdrehte. In der Ferne krähte der erste Hahn.