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The Big Guns
Husky
Husky ist eine Boy-meets-Girl-Geschichte. Er lernt sie in der Psychatrie des Bundeswehrkrankenhauses kennen. Sie hat psychische Probleme, aber er sieht darüber hinweg und will mit ihr zusammen sein. Doch sie bringt sowohl ihn als auch sich selbst in immer tiefer greifende Schwierigkeiten, die enden müssen, wie es vorbestimmt zu sein scheint.
"Wie sieht es aus?", fragt sie mich mit belegter Stimme. Ich schaue mich um und sehe nichts als Chaos. Apokalyptisches Chaos. Leichen, brennende Autowracks, Menschen ziehen andere Menschen aus ihren Fahrzeugen und leisten erste Hilfe, Müll wurde auf die Straße geschleudert, ein Wohnhaus brennt ab, aus dem immer noch Leute fliehen. Blut klebt an Wänden und auf dem Asphalt. Patronenhülsen, zerbrochene Baseballschläger, es riecht nach Schwarzpulver. Schreie, Sirenen, Hupen erfüllen die Smog-geschwängerte Luft und mir kommt es vor, als wäre ich der einzige Überlebende eines Krieges.
Moment: Ich BIN der einzige Überlebende eines Krieges.
"Alles in Ordnung.", lüge ich und streiche ihr durch die rotblonden Haare. "Alles okay."
Sie liegt in meinen Armen und krallt sich mit beiden Händen an meinen Schultern fest. Die Schuss-, Hieb- und Stichwunden in und an ihrem Bauch, ihrer linken Brust und ihrem Unterleib sind tödlich. Sie blutet stark. Zu stark. Ihr weißes T-Shirt ist mittlerweile partiell rot eingefärbt. Ich weiß, dass sie es nicht schaffen wird bis der Notfallwagen auftaucht. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich nicht weine, obwohl ich es vielleicht tun sollte. Wir haben keine Angst.
Sie hat blaue Augen wie ein Husky und sieht mich mit einem dermaßen eindringlichen Blick an, dass es mir einen kalten Schauer über den Rücken jagt.
"Du lügst.", flüstert sie, "Ich mag deine Notlügen." Sie lächelt mild und lässt langsam, aber sicher von meinen Schultern ab. "Komisch. Mir ist nicht mal kalt." Ihre Hände gleiten von meinen Schultern und ruhen reglos auf meinen Oberarmen.
"Das ist gut.", antworte ich.
Ich bekomme keinen Ton mehr raus. Egal, wie sehr ich gegen die Tränen ankämpfe, sie kullern über mein Gesicht. Ich fange an, leise zu schluchzen. Sie regt sich nicht mehr. Und das Letzte, was sie sagen konnte war, dass sie meine Lügen mag. Ich falle über ihr zusammen, halte sie fest, will sie nicht gehen lassen. Doch jetzt ist es zu spät. Sie schließt die Augen, hört auf zu kämpfen. Aber nicht bevor sie leise und mit einem Lächeln auf dem Gesicht "Das hab' ich gut gemacht." sagt. Ich kann mehr oder weniger spüren, wie die Seele aus ihr herausfährt, als sie jede Art von Spannung in ihren Gliedmaßen verliert und ihr Körper nichts weiter ist als eine leere, wunderschön anzusehende, traurig stimmende Hülle.
Ich höre auf zu weinen, wische mir die Tränen aus dem Gesicht, richte mich wieder auf und streichel zärtlich ihre Wangen, während wir auf den Krankenwagen warten. "Ja. Gut gemacht.", sage ich ihr und blicke geradeaus ins Leere.
KAPITEL 1 - WANTED DEAD OR ALIVE
"Sie sind also ihr Verwandter?", fragte mich die dicke Krankenschwester hinter dem Info-Tresen des Bundeswehr-Krankenhauses mit einem markanten Hamburger Dialekt.
"Nein... also ja!", antwortete ich und wurde langsam ungeduldig. Seit einer knappen Viertelstunde stand ich hier und wollte nichts weiter tun, als meine Stiefmutter zu besuchen und ihr einen Blumenstrauß in die Hand zu drücken.
"Nun, dann bräuchte ich einmal Ihren Ausweis.", sagte die dicke Mutti und streckte ihre Hand nach mir aus. So, als ob sie bereits nach einem unsichtbaren Ausweis greifen würde, der in der Luft hing.
"Hören Sie, ich will ihr lediglich diesen Blu...", fing ich an zu erzählen (vor allem, weil ich meinen Ausweis nicht dabei hatte), wurde aber harsch abgeledert von Miss Tresen.
"Neeee, so läuft das hier nicht, mein junger Freund.", sagt's und wollte immer noch den Perso sehen.
"Ich bin lediglich hier, um meiner Stiefm...", setzte ich erneut an, wurde allerdings wieder unterbrochen von der Bundeswehr-Brüokratie.
"Nee, nee, nee, Sie können nicht hier einfach so reinstolzieren, ohne mir wenigstens einen Nachweis Ihrer Identi..."
"Geht denn mein Füherschein als Identitätsnachw...?"
"Neeee, neeee, neeee. Was ich brauche, ist Ihr Personalausweis!"
"Oh mein Gott!", rief ich entnervt, "Hören Sie: Miriam Steglhüber, geborene Heinrich, ist meine Stiefmutter. Sie ist am 4. Juli 1960 geboren, ist Soldatin der Reserve, genau genommen Birgadegenerälin und war hier wegen eines Tumors...", ich dachte kurz nach, ob das grammatikalisch richtig war, "...wegen einem Tumor... wegen... Egal: Wegen etwas an ihrer Niere, was entfernt werden konnte. Ich kann sie nicht leiden, aber ich bin trotzdem so verschissen nett gewesen, hier aufzuschlagen und ihr diesen...", ich knallte den Blumenstrauß auf den Tresen, "... verfickten Blumenstrauß zu schenken. Und zwar, weil mein Vater sie liebt, mein Bruder sie liebt, ich sie nicht liebe, aber ihren Zynismus sehr schätze. Und Sie...", ich deutete mit dem Zeigefinger auf Infotresen-Mutti, "... lassen mich bitte sofort durch!"
Infotresen-Mutti war ganz baff ob meiner Ehrlichkeit. Genauso waren es wohl die wartenden neukranken Patienten, die hier seit 7 Uhr saßen und immer noch nicht behandelt worden waren - dabei schlug die Uhr bereits 10. Sie schüttelte sich ein bisschen, sah mich mit starrem Blick an und fragte: "Kann ich dann - bitte - Ihren Personalausweis sehen?"
Ich rang mich endlich dazu durch, ihr zu sagen, dass ich ihn nicht dabei hätte.
"Naja. Doof, das.", sagte sie mit sarakstischem Unterton und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. "Unter diesen Bedingungen kann ich Sie leider nicht durchl..."
Es bedurfte zweier muskolöser Arzthelfer, um mich von Infotresen-Mutti zu lösen. Im Adrenalinrausch war ich über die Theke gehechtet, hatte sie gepackt, zu Boden gerissen und wollte sie gerade mit dem Blumenstrauß verprügeln, bevor ich unter großen Gebrüll und Gefluche meinerseits aus dem Krankenhaus gezerrt wurde. Auf dem Weg nach draußen hatten mich die Arzthelfer mit einer dermaßenen Wucht aus der Türe geschleudert, dass ich mit dem Gesäß voran auf dem Krankenhausparkplatz aufschlug. Diese Bruchlandung resultierte in einem Schmerz am Hintern und im Rücken, den ich nicht anders beschreiben kann, als mit der vagen Vorstellung, einen Schlagbohrer mit Dildoaufsatz trocken in die Rosette gerammt zu bekommen. Nicht, dass ich mich damit auskennen würde. Aber so müsste es sich anfühlen.
Die beiden Honks zerrten mich, schreiend und fluchend vor Schmerzen, wieder zurück ins Krankenhaus, vorbei am Info-Tresen (wo ich der immer noch verstörten Tresen-Mutti im Vorbeigezogenwerden den Mittelfinger zeigte), durch verschiedene Gänge und dann in einen Raum, in welchem ich bäuchlings auf ein rollbares Krankenbett gehievt wurde. Dann ging es "motorisiert" weiter zu eineer Krankenstation, an deren Eingangstür ein Schild hing, auf welchem "FU-6 - Neurologie und Psychatrie" stand.
Nach stundenlangem Ausziehen, Röntgen, Untersuchen, noch einmal Röntgen und wieder Untersuchen kam ein Arzt auf mich, immer noch auf dem Krankenbett liegend, zu und berichtete mir, dass ich eine Fraktur am unteren linken Beckenknochen hätte. Dies würde bedeuten, dass ich für mindestens zwei Wochen stationär behandelt werden müsste. Aufgrund der Umstände, unter denen ich mir diese Fraktur zugezogen hatte, würden mir die Kosten für die Behandlung erstattet werden. Ich rief per Handy meinen Arbeitsgeber, die Zeitarbeitsfirma 24work, an und überbrachte meinem Bearbeiter Sascha die schlechte Nachricht. Ich wurde zunächst freigestellt, bis ich mich wieder melden würde. Und hier, in der FU-6, lernte ich sie kennen.
Sie hatte kein Rückenleiden, wenn ihr die Wahrheit wissen wollt. Sie war im anderen Teil der Abteilung 6 untergebracht - der Psychatrie. Dort, wo die heimgekehrten Afghanistan-Urlauber ihre Probleme mit Schusswaffen bekämpfen sollten. Ich mochte den Gedanken nicht, direkt neben einem Haufen Verrückter am Arsch behandelt zu werden. Ich meine: Ich war wegen meines Hinterns hier, nicht wegen psychischer Probleme. Mir ging es gut, ich war bis jetzt sehr zufrieden mit meinem Leben. Klar, nach einer Ausbildung zum Speditionskaufmann konnte ich mir besseres vorstellen, als für eine Zeitarbeitsfirma zu arbeiten und jeden Tag Container auszuräumen und Paletten zusammenzubauen. Aber ich war zufrieden, optimistisch, hatte keine Probleme mit Frauen und mochte meine Familie, die mich ab und an besuchte. Alles war okay. Umso merkwürdiger war das Bild vor meinem geistigen Auge, auf welchem ich nachts auf meinem Zimmer Fernsehen guckte, während im Raum nebenan wieder ein Soldat schreienderweise aus einem Alptraum erwachte und mit einer Extradosis Beruhigungsmittel wieder zum Einschlafen gebracht wurde.
Es war mein dritter Tag im Bundeswehrkrankenhaus. Ich besuchte meine Stiefmutter, die ihre OP gut überstanden hatte. Sie wirkte - obwohl sie längst wusste, dass ich ebenfalls hier behandelt wurde - sehr überrascht, als sie mich im Patientenoutfit sah, den Rollwagen mit dem Flüssigkeitsbehälter, der an einen Katheter angeschlossen war, vor mich herschiebend, da ich nicht pinkeln gehen konnte mit meiner Po-Fraktur. Sie sagte nur: "Willkommen im Club.", bevor ich mich lächelnd an ihr Krankenbett begab. Sitzen war nicht drin, ich musste die ganze Zeit stehen oder auf dem Bauch liegen. Und große Lust, mich vor ihr auf den PVC-Boden zu legen, hatte ich nicht wirklich. Als stand ich halt.
"Und? Wie geht's?", fragte ich in Ermangelung besserer Fragen.
"Och, alles gut. Als Ex-Krebspatient genießt man einen vergleichsweise guten Service.", witzelte sie mit ernstem Gesichtsdruck. "Was macht der Arsch?"
"Dem Arsch geht's gut. Er wird von den besten Arschspezialisten der Bundeswehr behandelt."
"Komisch, dabei sehe ich hier gar keine Luftwaffen-Typen.", entgegnete sie, ohne eine Miene zu verziehen, und brachte mich damit zum Lachen. Sie ist Heeressoldatin, dem entsprechend sind außer dem Heer alle anderen Soldaten "Pussies" in ihren Augen.
"Gut erkannt.", antwortete ich. Dann war eine kurze Stille im Raum, da wir beide nicht wussten, was wir sagen sollten. Im Fernsehen lief eine Trash-Talkshow, welche meine Stiefmutter hasste zu gucken. Aber sie tat es trotzdem. Wohl auch, um mir argumentativ aus dem Weg zu gehen.
Sie brach das Schweigen: "Ich weiß." Sie drehte den Kopf zu mir und sah mich an. "Naja, bevor du hier Wurzeln schlägst: Lass dich mal lieber weiter verarschen. Ich meine: verarzten."
Sie zwinkerte und gab mir damit durch die Blume zu verstehen, dass ich abhauen sollte. Auch wenn es sich so anhörte, als kämen wir eigentlich ganz gut miteinander aus, hatten wir unsere Differenzen. Meine leibliche Mutter war bei einem Autounfall gestorben, als ich sechs Jahre alt war. Nach meinem zwölften Geburtstag heiratete mein Vater Miriam. Und ich konnte, wollte und werde sie nicht als meine Mutter akzeptieren. Am Anfang tat sie sich schwer damit, eine Verbindung zu mir herzustellen. Seit sie weiß, dass sie meine Mutter nicht ersetzen muss, verstehen wir uns eher als Freunde denn als Elternteil und Sohn.
Ich verschwand also, im Beisein einer (äußerlich zumindest) bezaubernden Krankenschwester namens Eileen, aus Miriams Zimmer. Eileen war circa 18 Jahre alt, quirlig wie ein Eichhörnchen auf Speed und maximal 1,50 Meter klein. Sie war schlank, schien auch sportlich recht aktiv zu sein und hielt mir vor, während und nach meinen sporadischen Raucherpausen minutenlange Predigten darüber, wie schlimm meine Nikotinsucht sei und das dies das "wirklich allerallerletzte Mal" gewesen wäre, dass sie mit mir eine rauchen gegangen wäre. Sie tat es dennoch immer wieder. Immerhin war es ihr Job, dafür zu sorgen, dass ich mich wohlfühlte. Sie geleitete mich jedenfalls zurück zu meiner Station. Und ernsthaft: Ohne ihre Hilfe hätte ich mich zweifellos verlaufen. Dieses Krankenhaus war verwinkelt, unübersichtlich und vor allen Dingen verwinkelt. Überall hingen Übersichtspläne, die nur weiter meine Meinung bestärkten, dass dieses Krankenhaus viel zu verwinkelt und unübersichtlich war. Wir kamen nach einem viertelstündigen Marsch durch Gänge und Fahrstühle wieder in der FU-6 an. Und Eileen hatte es diesmal extraeilig (Haha, Wortwitz: Eileen. Eilig. Haha.), mich loszuwerden, da sie ein Date hatte.
"Oh mann, ey, ich hoffe der Typ ist nicht so Absturz wie der Absturz-Typ letztes Mal, ernsthaft!", quaselte sie mich mit ihrem Ghettoslang voll, "Der Typ letztens, Alter: Der ging gar nicht. Der war voll der Spießer und immer, wenn ich mal was Witziges gesagt habe, hat er sich so weggedreht als ob... Ich weiß nicht, voll komisch und so."
"Ich drück' dir die Daumen.", sagte ich grinsend, als mir dieses Mädchen auffiel, was - wie jeden Tag bis heute - im Gang gerade zu vor uns auf der Fensterbank saß und nach draußen blickte. Rothaarig, schlank, ungefähr 1,60 Meter groß, trauriger Gesichtsausdruck und blaue Augen. Strahlend blau. Wie bei einem Husky.
Unsere Blicke trafen sich. Sie winkte mir zu, ich schaute nur mit einem selten dämlichen Gesichtsausdruck in ihre Richtung und konnte den Augenkontakt ein paar Sekunden lang halten, bevor mich Eileen in mein Zimmer schob und dort ablieferte. Hier wartete schon eine Ärztin auf mich, um mir meine tägliche Schmerzmitteldosis zu verabreichen. Eileen umarmte mich kurz und verabschiedete sich mit den Worten "Bis morgen!".
Eher widerwillig stieg ich recht unkoordiniert auf mein Krankenbett, ließ mich stumpf fallen und blieb liegen, damit mir meine Arschärztin eine Nadel ins Rückenmark rammen konnte. Nach dieser Tortur - die in einer 3-stündigen Starre meines kompletten Körpers resultierte - lag ich da, ließ mich begutachten und beantwortete Fragen zu meinen Weh-Wehchen. Endlich konnte ich eine Frage stellen, die mir auf der Seele brannte.
"Sagen Sie...", fing ich an. Die Arschärztin drehte sich zu mir und sah mich mit einem erwartungsvollen Blick an, "Wissen Sie zufällig, wer das rothaarige Mädchen ist, das immer im Gang zwischen der Neuro und der Klapps... ich meine: Psychatrie am Fenster hockt?"
Sie sah mich an, als wüsste sie nicht worüber ich da redete.
Ich ergänzte meine Beschreibung: "Schlank, circa 1,60. Augen wie ein Husky?"
"Husky?", wiederholte sie fragend. Ich nickte stumm. War das etwa ihr Name? "Nun ja, ich weiß nichts spezielles über sie. Ich weiß nur, dass sie von Schwestern und Ärzten 'Husky' genannt wird. Und dass sie nicht zum ersten Mal hier in der FU-6 ist." Sie lächelte, verschränkte die Arme und sah mich mit einem bohrenden Blick an. "Wieso fragen Sie? Sind Sie etwa...?"
Ich wusste, genau, worauf sie hinauswollte. "Um Gottes Willen, nein! Nein!" Sie lächelte immer noch und stand da wie eine immer währende Skulptur der Fremdscham. "Nein!", ergänzte ich ausdrücklich und wollte mich zur Seite drehen, um sie nicht mehr ansehen zu müssen. Aber die Sadistin hatte mich bereits mit dem Leichenstarren-Serum vom Hals abwärts für die nächsten paar Stunden gelähmt. Ich gab es auf. "Okay, sie ist irgendwie niedlich. Aber ist Ihnen wirklich sonst nichts bekannt über sie?"
Die Arschärztin schüttelte den Kopf. "Nein, aber wir sehen uns ja morgen wieder. Und bis dahin kann ich mich ja mal ein bisschen in der Kollegschaft über Husky schlaumachen, wenn Sie möchten."
Ich stimmte zu. "Aber erzählen Sie bloß nicht, dass Sie in meinem Auftrag handeln!"
Als sie aus dem Zimmer verschwunden und die Tür wieder zu war, lag ich da wie gelähmt. Ich und mein kaputter, blank gezogener Hintern machten uns Gedanken. Wir konnten nicht fernsehen, weil ich mit dem Kopf zur Wand lag. Also versuchte ich, ein wenig zu schlafen. Ich hatte keinen Traum, keine Wahnvorstellung, nichts dergleichen. Es war einfach nur schwarz um mich herum.
Aber mitten in der Nacht wurde ich durch ein Geräusch geweckt. Langsam öffnete ich die Augen. Ein stechender, aber nicht schlimmer Schmerz war in meinem Hintern zu spüren. Also drehte ich mich mit Hilfe meiner Arme einmal um 90 Grad, um in die Richtung der Tür sehen zu können, als ich eine Sillhouette inmitten der nur hier und da durch fades Licht von außerhalb gebrochenen Dunkelheit in meinem Krankenzimmer sah. Ich schaltete die Nachtti•••••••• auf dem Beistelltisch neben meinem Bett ein. Sie stand da. Husky, oder wie auch immer sie hieß. Vor lauter Schreck stürzte ich, ein lautes "Ach du heilige Scheiße!" ausstoßend, aus meinem Krankenbett und landete mit voller Wucht auf meinem Hintern. Jetzt war der stechende Schmerz schlimm. Das rothaarige Mädel kam in diesem Augenblick auf mich zugerannt und hielt mir recht zärtlich, aber für ihre Körperstatur recht kräftig den Mund zu, damit ich nicht so laut schreien konnte, wie ich es am liebsten getan hätte.
"Hi!", sagte sie schüchtern und neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite, meinen Mund immer noch zuhaltend. Sie setzte ein breites Grinsen auf und stieß einen leisen kieksenden Ton der Freude aus, bevor sie, immer noch recht schüchtern ab und an zur Seite statt in meine Augen blickend, weiter redete: "Ich wollte dir nur 'Hallo' sagen, aber...", ich merkte jetzt schon, dass sie gerne ohne Punkt und Komma redete, "... jetzt hab' ich 'Hi' gesagt. Kennst du das? Du willst das eine sagen, sagst aber das andere und eigentlich wolltest du was ganz anderes sagen, während du das andere gesagt hast, obwohl du eigentlich vorhattest das eine zu sagen?"
Ich nickte, obwohl ich keinen Schimmer hatte, wovon sie redete. Sprechen konnte ich wegen der akkuten Maulsperre immer noch nicht.
"Cool! Ich dachte, ich wäre alleine mit dieser Auffa... fuck, sorry ich hab' mich noch gar nicht vorgestellt, ich bin Pia, einige nennen mich Husky. Kannst mich Husky nennen! Oder Pia!" Sie pausierte kurz, immer noch grinsend. "Oder Husky!" Sie pausierte wieder, ihr Grinsen verflog kurz ob ihrer Überraschung, dass sie mich immer noch mit ihrer Hand knebelte. "Oh heiliger zugeschissener Dickdarm, ich wollte nicht, dass du die Atmung vergisst, weil - weißt du - meine Hand... Naja...", sie pausierte wieder und deutete mit ihrer freien (rechten) Hand auf ihre Knebel- (linke) hand, "... Meine Hand immer noch auf deinem Mund...", sie brachte den Satz nicht zu Ende, "Wie heißt du eigentlich?"
Sie löste den organischen Knebel von mir. Als ich gerade meinen Namen sagen wollte, hielt sie mir wieder den Mund zu und sagte: "Obwohl nein! Behalt' mal lieber deinen Namen für dich. Ich find' Spitznamen eh viel cooler!"
Ich nickte resignierend.
"Also...", ab hier zog sie die Vokale weiter auseinander, immer noch flüsternd, "Iiiiiich neeeeenneeee diiiiiiich eiiiiinfaaaaaach..." Sie unterbrach ihren Redefluss kurz, um, an die Decke schauend, nachzudenken. Ich verdrehte derweil die Augen. Irgendwie hatte ich sie mir ein bisschen anders vorgestellt. Mein Hintern schmerzte währenddessen immer noch und schrie förmlich nach Schmerztabletten.
Ich hätte die Schwester rufen können, allerdings war der Klingelknopf vom Boden aus nicht erreichbar. Also saß ich, den Rücken an die Wand gelehnt, neben meinem Bett. Über mir befand sich ein Fenster, welches nach außen hin mit Gittern ausgestattet war, was wohl Suizid- und Ausbruchversuche verhindern sollte. Links neben mir war der Notfalltisch mit Defibrilator und anderem Schnickschnack, der mich im Falle eines Notfalls am Leben erhalten sollte. Rechts neben mir hing der Fernseher in einer dreh- und schwenkbaren Aufhängung, rechts daneben wiederum war mein Kleiderschrank. Und vor mir saß ein elfengleiches, rothaariges Wesen mit den schönsten blauen Augen, die ich ja in meinem Leben gesehen hatte - und mit einem gewaltigen Sprung in der Schüssel. Und es dachte sich gerade einen Spitznamen für mich aus. Ich wollte mich nicht wehren. Irgendwie dachte ich, dass das alles seine Richtigkeit hätte.
Sie gab es auf. "Egal! Scheißegal! Weißt du was, ich nenne dich einfach Dude, ist das cool für dich?"
Ich nickte und unternahm den Versuch, zu sprechen. Allerdings kamen dank ihrer Hand nur gemurmelte, unverständliche Bruchstücke aus meinem Mund heraus.
"Sorry, ich versteh' dich nicht. Du redest so komisch. Bist du von hier? Scheinste nicht zu sein." Sie pausierte, meinen Mund nun noch ein wenig fester zudrückend. "Denn du redest so komisch."
Ich unternahm einen weiteren, diesmal lauteren Versuch zu sprechen, wobei ein wenig Spucke in ihrer Hand landete.
"Igitt...!", sagte sie mit angewidertem Gesichtsausdruck und nahm endlich ihre Hand von meinem Mund, um sie zu betrachten und an meinem Patientenhemd abzuwischen.
Ich atmete hektisch ein und aus, bevor ich mich endlich zu einem gesprochenen Satz durchringen konnte: "Dude geht klar."
Sie schaute zu mir auf und grinste über ihr komplettes Gesicht. Ihre Augen funkelten vor Freude. Und ich rede hier von echter, wahrer, euphorischer Freude. Sie wuschelte ein wenig mit den Händen durch meine Haare und sagte dabei: "Du bist cool. So richtig cool. Richtig cool." Die letzten beiden Worte brummte sie in einer tiefen Bass-Stimme. Ansonsten war ihre Stimme sehr hell und freundlich.
Sie hörte auf zu wuscheln, hockte sich auf den Boden und ergriff meine Hände. "Du hast mich schon öfter auf dem Gang angesehen, kann das sein?", fragte sie, mich eindringlich ansehend. Diese Augen...
"Ja. Stimmt genau.", antwortete ich mit dem Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht.
Sie kicherte wie ein Schulmädchen und schaute zu Boden. Ihr Gesicht färbte sich leicht rötlich. "Cool." Nach kurzer Pause sah sie mich wieder an und ergänzte: "Ich dich auch."
Wir schwiegen uns kurz gegenseitig an, bis sie verhalten fragte: "Bist du morgen wieder hier?"
"Ich bin nach dem Sturz auf meinen Hintern mindestens noch weitere drei Wochen länger hier als vorgesehen."
"Hast du was am Hintern?", fragte sie.
"Eine Fraktur."
"Autsch."
"Richtig. Genau das."
"Also am Arsch?"
"Japp."
"Autsch."
"Richtig."
"Und du bist auf deinem Arsch gelandet als du dich so erschreckt hast, ne?"
"Japp."
"Autsch."
"Richtig."
Sie blieb kurz stumm. Dann stand sie auf, half mir hoch und hievte mich zurück auf mein Bett. Natürlich mit dem Hintern voraus. Ich war drauf und dran, einen lauten Schmerzensschrei auszustoßen, da hielt sie mir schon wieder die Hand auf dem Mund und drückte meinen Kopf ins Kissen.
"Entschuldigung, tut mir leid, sorry, sorry, sorry, entschuldigung,...!", flüsterte sie mir ins Ohr, während sie mich notdürftig auf den Bauch drehte. Sie ging einmal um mein Bett herum und hob mit ihren Händen meinen Kopf ein wenig an, damit sie mir in die Augen sehen konnte.
"Bist du morgen wieder hier?", fragte sie in freudiger Erwartung auf meine positive Antwort.
Ich nickte und antwortete: "Drei Wochen, ich sagte es bereits."
Sie grinste wieder wie ein Honigkuchenpferd. "Alles klar! Dann bis morgen, Dude!" Sie gab mir einen Kuss auf die Wange, schaltete mein Nachttischlämpchen aus und stand noch kurz in der Dunkelheit vor mir.
Ihre Augen funkelten selbst in der Düsternis, die mich umgab. "Gute Nacht, Husky.", flüsterte ich ihr zu, bevor sie wieder verschwand. Eine Minute später kamen zwei Schwestern in mein Zimmer gerannt und fragten mich, ob mir was passiert sei. Nach einer weiteren Untersuchung meiner Po-Wunde entschlossen sie sich dazu, mich statt für zwei für drei Wochen auf der Station zu behalten. Ich gab nach außen hin vor, darüber geschockt zu sein. Innerlich lächelte ich allerdings. Mir hätte nichts besseres passieren können, als nachts um halb 4 von einer unbekannten rothaarigen Schönheit aus dem Schlaf gerissen zu werden.
Dachte ich zumindest zu diesem Zeitpunkt.
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