Die Reihenfolge ist zufällig:
Janne Teller: "Intet" (Nichts -- was im Leben wichtig ist) (veröffentlicht 2000)
13 von 13 ist 13.
"Nichts bedeutet irgendetwas. Das weiß ich schon lange. Deshalb lohnt es sich auch nicht, irgendet-was zu tun." Als Pierre Anton eines Tages mit diesen Worten mitten in der Klasse aufsteht und das Zimmer verlässt, um fortan in einem Pflaumenbaum sitzend die Nichtigkeit von allem zu predigen, beschließen die Siebtklässler von Tæring, ihm einen Berg an Bedeutung zu präsentieren, der ihn doch bitteschön umstimmen soll. Ein großes Sammeln beginnt, das bald grausame Züge annimmt. Die Problematik, die Teller am Prozess des Erwachsenwerdens und Infragestellen des eigenen Handelns aufbricht, ist alles andere als simpel oder folgenlos und richtet sich ganz bestimmt nicht nur an Heranwachsende. Das Buch stand anfangs in Dänemark unter heftiger Kritik von sowohl Pädagogen und Eltern als auch der Kirche, wurde allerdings über die Jahre hinweg mehrfach international ausgezeichnet und ist mittlerweile Stoff für Abiturprüfungen und Konfirmandenunterricht. Es schafft Diskurse, denen man sich definitiv (nicht allein) stellen sollte.
Hermann Hesse: Narziß & Goldmund (veröffentlicht 1930)
Jedes Leben wird ja erst durch Spaltung und Widerspruch reich und blühend. Was wäre Vernunft und Nüchternheit ohne das Wissen vom Rausch, was wäre Sinnenlust, wenn nicht der Tod hinter ihr stünde, und was wäre Liebe ohne die ewige Todfeindschaft der Geschlechter?
Die zwei absolut gegenpolige Überflieger der mittelalterlichen Gesellschaft verbindet in der Klosterschule eine enge Freundschaft, bis der hübsche und begabte Goldmund auszieht und das Land durchstreift, ohne jemals irgendwo sesshaft zu werden; unterwegs lernt er die Schönheit seiner Umwelt kennen, macht sich aber auch eines Mordes schuldig und erfährt neben Armut und Not die bedrückende Gegenwart des Schwarzen Todes, bis er lebenserfahren und zum Künstler herangereift in das Kloster zurückkehren soll. Die Hesse-Lebensphilosophie schlägt sich in Narziß & Goldmund so sehr wie in kaum einem anderen Werk nieder. Zwei Seelenpole, die sich finden, entzweien und sich doch wieder anziehen müssen: Goldmund verwirklicht das Dionysische im Menschen, das rastlos nach Leben strebt. Der Roman liest sich wie Trivialliteratur und ist spannend und mitreißend; gleichzeitig erfüllt er voll und ganz mit Hesses überragendem Geist.
Leslie Kaplan: Depuis Maintenant 5, Fever (Von jetzt an 5, Fever) (veröffentlicht 2005)
C'est des hommes et pas l'homme qui habite la terre.
Zwei Pariser Abiturienten ermorden eine unbekannte Frau, die sie nach dem Zufallsprinzip als Opfer ausgewählt haben: Ein acte gratuit, bei dem nicht die Tat, sondern die Wirkung auf die Täter im Vordergrund steht. Kaplan lässt keine Zweifel an der äußerst exzentrischen Normalität, die ihre Protagonisten umgibt; nahezu leichtfüßig bettet sie Dokumentarisches in eine fiktionale Rahmenhandlung ein: Es geht um die Verbrechen Papons und Eichmanns. Die Kollaboration des État Français mit Nazideutschland und seine aktive Mitwirkung an der Shoah werden in Frankreich erst seit den 1990er-Jahren in einem öffentlichen Rahmen thematisiert, an diese Aktualität knüpft die Autorin mit ihrem - unter anderem stark an Hannah Arendt (Eichmann in Jerusalem, 1963) orientierten - Roman an. Der Leser findet sich in einer Parabel wieder, die historisch wichtige Generationsfragen in einer sachlichen, fiktionalen Erzählrealität veranschaulicht. Es ist nicht zuletzt diese Bresche zwischen Weltschmerz und Nouvelle Vague, die aus diesem Roman etwas Großartiges macht. Bezüge zu Musik, Literatur und Film sind in Kaplans Werk immer wieder auftretende Agenten, deren Rapport den Leser bannt und an sich saugt. Mitunter sehr spannend und hilfreich für ein tieferes Verständnis dessen, was ihre Literatur tut, ist die Parallellektüre der Essai-Sammlung Les Outils (Die Werkzeuge, 2003).
Lewis Carroll: Sylvie & Bruno (Volume 1) (veröffentlicht 1889)
He thought he saw a Rattlesnake - That questioned him in Greek: / He looked again, and found it was - The Middle of Next Week. / 'The one thing I regret,' he said, - 'Is that it cannot speak!'
WIr haben zwei Elfengeschwister, die kluge und bedachte Sylvie und ihren tolpatschigen Bruder Bruno, deren Geschichte im Königreich Outland spielt, wo der Vizestatthalter einen Umsturz plant, während diesseits zwei Männer um die wunderschöne Lady Muriel wetteifern. Der romantische Aspekt von der Vermengung zwischen Traum und Realität ist hier im Gegensatz zu anderen Carroll-Werken (etwa Alice im Wunderland) viel geringer, wenn auch eine der Grundthematiken des Romans. Liebevoll karikaturistisch konzipierte Figuren füllen eine fantastische Welt, eine Tagträumerei zwischen den Ennuis des Alltags eines meist nur beobachtenden, gealterten Erzählers.
Sophokles: Ἀντιγόνη (Antigone) (uraufgeführt 443 vor Christi Geburt)
Der Übel größtes ist die Zügellosigkeit. // [...] am schnellsten kommt zu Fall ein allzu starker Sinn!
Wider politische Obrigkeit handelt eine rechtschaffene Antigone aus dem verfluchten Hause der Labdakiden (Ödipus ist Antigones Vater), die ihren im Kampf mit dem eigenen Bruder umgekommenen Bruder Polyneikes beerdigt, um den Göttern Genüge zu tun; ihr Onkel Kreon, der Theben seit dem Kampfestod der Brüder beherrscht, lässt sie einkerkern und von keinem raisonieren, von keinem Omen einschüchtern, bis ihn nach Antigones Hungertod die Katharsis ereilt. Antigone wird die Frauengestalt in Rezeptionen von Widerstand und Rechtschaffenheit. Kaum ein anderes klassisches Drama hält so viel Konfliktgewalt bereit wie die Thebanische Trilogie um den Fluch des Labdakiden-Hauses. Ein rückwärts motivierter Fünf-Akter mit riesiger Einschlagwirkung.
Aischylos: ᾿Ορέστεια (Orestie) (uraufgeführt 458 vor Christi Geburt)
(Sich ein Zitat herauszupicken hieße, das Werk in seiner Brillanz zu verraten.)
Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert (veröffentlicht 1797)
Waldeinsamkeit, / Die mich erfreut, / So morgen wie heut / In ewger Zeit, / O wie mich freut / Waldeinsamkeit.
Sich selbst aus jeder romantischen Erkenntnisfähigkeit herauskatapultierte Philister, der Eckbert und seine Frau Bertha, scheitern an Vergangenheit und Wahnsinn, die sie überkommen. Tiecks Kunstmärchen sind einige der besten. Seine Bilder des Wahnsinns legen Grundsteine und greifen auf, was eine ganze Kunstepoche ausmacht: der Hang, alles zu lieben, was wild und ewig und utopisch ist. Die bildliche Abstraktheit seiner Traummotive, das Bild vom Singvogel, schaffen eine Atmosphäre, die beispielsweise sogar Poe bei Weitem übertrifft.
Friedrich Schlegel: Lucinde (veröffentlicht 1799)
Nur in seinem Suchen findet der Geist des Menschen das Geheimnis, welches er sucht.
Ein Jüngling liebt das Weibliche, sucht die Blaue Blume. Es handelt sich um einen Konzeptroman, einen Zusammenwurf vieler einzelner Fragmente, der Schlegels Ideal des romantischen Romans verwirklichen sollte. Er schafft vordenkerische Grundlagen für die ästhetische Romantik und die gesellschaftliche Selbstdefinition des romantischen Menschen. Die wenig leichtfüßig, definitiv aber überragend schön geschriebene Lucinde ist neben Heinrich von Ofterdingen (Novalis, 1802 posthum) einer der bedeutendsten Bildungsromane (wenn auch als solcher gescheitert).
Franz Kafka: Die Verwandlung (1915 veröffentlicht)
Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.
Und mehr gibt es als Zusammenfassung nicht zu sagen. Die Verwandlung ist eines der Werke Kafkas, in denen das absurde Moment bereits ganz am Anfang gewahrend eintritt. Die Verwandlung ist nicht ohne Grund das nahezu bekannteste Werk Kafkas; als eine der wenigen längeren fertiggestellten Erzählungen ist hier der surreale Charakter von Beginn bis Ende am spürbarsten.
Franz Kafka: Das Schloss (veröffentlicht 1926 posthum)
[...] dort oben ist die Behörde in ihrer unentwirrbaren Größe – ich glaubte, annähernde Vorstellungen von ihr zu haben, ehe ich hierher kam, wie kindlich war das alles.
Dem zum Landvermesser berufene K. steht nach seiner beargwöhnenswerten Ankunft im Dorf unterhalb des Schlosses bald kein anderer Lebensinhalt mehr bereit, als seine Stelle wider die fehlende Kommunikation mit den Obrigen anzutreten. Die klare, sinngewandte Metaphorik der unvollendeten Erzählung sucht in ihrer Tiefe und Vielseitigkeit seinesgleichen. Ein absurdes, albtraumhaftes Dasein in einem skurril anmutenden Dorf, in das K. sich da einlebt. Ohne das Schloss (und den Prozess) gelesen zu haben, kann man nicht mit Weltliteratur im Bücherregal von sich reden machen.
James Joyce: Ulysses (als Ganzes veröffentlicht 1922)
Zu viel, um darüber nur ein paar Zeilen zu verlieren.
Marcel Proust: À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) (veröffentlicht zwischen 1913 und 1927)
Zu viel, um darüber nur ein paar Zeilen zu verlieren. Es sei nur so viel gesagt: Proust begründet den postmodernen Roman und verschnöselt dabei gleichzeitig Wort und Satz in riesige, nicht enden wollende Perioden, die Zeit zu zerspannen und zusammenzuquetschen scheinen. Das Werk ist riesiger, inkommensurabler Gummiklumpen, der sich ebenso schwer lesen lässt, wie er lesenswert ist.
Antoine de Saint-Exupéry: Le Petit Prince (Der kleine Prinz) (veröffentlicht 1943)
Das ist die Kiste. Das Schaf, das du willst, steckt da drin.
Bei einer Havarie seines Flugzeuges und nach einer Notlandung inmitten der Wüste lernt der Erzähler ein lustiges kleines Kerlchen kennen: Den kleinen Prinzen, der seinen Planeten aus Neugier und Abweisung seiner Geliebten verlassen hat, und auf der Erde gelandet ist. Ein sehr geschätztes, aber in seinem Denksystem absolut unterschätztes, weittragendes Werk eines brillanten Autors, das keinem Kind und auch keinem anderen Leser jemals vorenthalten werden sollte.
Saint-Ex wird oft auf Aphorismen in Form von aus dem Zusammenhang gebrochenen Zitaten reduziert, genauso wie Der kleine Prinz oftmals nur als fantasievolles Kinderbuch gesehen wird. Dabei spricht es in all den Begegnungen, die gemacht werden, immer wieder den Facettenreichtum und die Heiligkeit des menschlichen Zusammentreffens an; mal offen, mal implizit. Und das passiert in einer philosophischen Tragweite, die die Erzählung zu so viel mehr erhebt. Das Schlimmste, was man dem Erzähler, was man Saint-Ex antun kann, ist nicht durch die Zeilen hindurch auf die tatsächliche Bedeutung zu schauen: nicht den Elefanten in der Riesenschlange zu finden. Alle Begegnungen sind die beständige Suche nach dem Verständnis des dem Menschen innewohnenden Arcanums und die Entlarvung des bedauernswerten Verlustes, den der Mensch selbst verschuldet, wenn er sich selbst und fremde Äußerlichkeiten zu wichtig nimmt. Und darüber hinaus noch hundertmal mehr.
Antoine de Saint-Exupéry: Citadelle (Die Stadt in der Wüste) (veröffentlicht 1948 posthum)
(Aus Protest dagegen, Saint-Ex auf Aphorismen runterzubrechen, hier kein Zitat)
Außerdem zu viel, um darüber nur ein paar Zeilen zu verlieren.
Samuel Beckett: En attendant Godot (Warten auf Godot) (veröffentlicht 1952)
"Komm, wir gehen!" -- "Wir können nicht." -- "Warum nicht?" -- "Wir warten auf Godot."
Man wartet auf Godot. Ewig. Und es ist ein Erlebnis.
Samuel Beckett: Le Dépeupleur (Der Verwaiser) (veröffentlicht 1971)
(Meine einzige Ausgabe liegt gerade ein paar Kilometer weiter weg)
Verstörend trockenes, systematisch-abstrahierendes Werk, das man nicht in der Absicht lesen sollte, den Gott oder den Sinn des Textes zu finden.
Umberto Eco: Il nome della rosa (Der Name der Rose) (veröffentlicht 1980)
Lachen tötet die Furcht und ohne Furcht kann es keinen Glauben geben. Wer keine Furcht mehr vor dem Teufel hat, braucht keinen Gott mehr.
Guillaume de Lorris: Le Roman de la Rose (Rosenroman) (fertiggestellt um 1235)
Que n'avoie encor esté onques / Si jolif cum je fui adonques; / Por la grant delitableté / Fui plains de grant jolieté.
Im Traum betritt der Liebende den paradiesischen Garten des Déduit (Kurzweil) und verfällt, von Amors Pfeil zum Minnedienst geknechtet, einer Rose. Eine Reihe allegorischer Figuren stellt sich ihm in seiner Annäherung zur Seite oder hindernd entgegen. In dem Moment, wo er einen Kuss seiner Angebeteten erlangen durfte, lässt Jalousie (Eifersucht) um den Rosenbusch herum eine Burg errichten: Der Liebende bricht in großes Klagen aus. Der Rosenroman ist in über 300 Handschriften erhalten; das allein schon macht das mittelalterliche Werk besonders. Zu erkennen, worin sich diese ungewöhnlich starke Verbreitung begründet, heißt sich der überwältigenden Schönheit der Sprache und der Allegorien Guillaumes bewusst zu werden: Bildhaftigkeit und Formvollendung, die nicht nur im Vergleich mit seinen Zeitgenossen, sondern selbst noch bis heute ihresgleichen suchen. Guillaume greift das Muster der Figurenallegorie auf, wie es vor allem aus der antiken griechischen und römischen Dichtung bekannt ist, und fängt damit anschaulich Wesen und Psychologie des Verliebtseins ein. Seine Traumschilderung endet mit der Klage des Liebenden; der Rosenroman wird von Jehan de Meung weitergeführt, der das Minnebild mitunter stark hin zur Misogynie verfälscht und nicht einmal annähernd an Guillaumes poetische Fähigkeiten heranreicht. In der Edition von Pierre Marteau findet sich eine der schönsten Übersetzungen in Französische unter Beibehalt der Versform.