Für gewöhnlich schreibe ich einer Handvoll Leuten Neujahrsgrüße und wünsche ihnen im nächsten Jahr viel Erfolg und dergleichen mehr. In diesem Jahr mache ich das nicht. Mehr denn je nervt mich dieses ritualisierte Glückwünschen, die geistlose Widergabe der immergleichen Worte, deren Bedeutung schon durch ihre Verwendung verraucht.
Ich will keinen Anlass abwarten, um mal wieder zwei, drei Worte an jemanden zu richten, mit dem ich schon seit Monaten oder Jahren nichts mehr zu tun hatte, oder den ich eh jeden Tag sehe. Ich will auch nicht das Glück herbeibeschwören, bloß weil ein neues Jahr angefangen hat. Jedes Jahr beginnt gleichermaßen mit einem Tag, der eigentlich nur das Morgen von gestern ist. Suche ich mir einen beliebigen Tag aus, jemandem alles Gute zu wünschen, würde ich komisch angeschaut werden. "Froher 23. April! Mögen sich deine Wünsche im Rest des Jahres erfüllen und du gesund bleiben!"- funktioniert nicht.

Es braucht keinen Grund, jemandem alles Gute zu Wünschen. Zu Anlässen, zu denen dies angemessen wäre, wie etwa Jobverlust. würde doch niemand auf die Idee kommen zu sagen "Ich wünsch dir alles Gute", sondern Anteilnahme zeigen und wenigstens sowas sagen wie "Wird schon werden" oder "Kopf hoch!". Und man braucht doch auch nicht zu warten, bis jemand Glück nötig hat, um es ihm zu wünschen. Und was soll man auch sowas wie Glück, Erfolg und Gesundheit groß im Voraus wünschen? Macht man das auf die nächsten 365 Tage, weil man nicht weiter denken möchte? Oder weil man so lange eh nichts miteinander zu schaffen hat? Wenn dem so ist, was wünscht man es sich dann ohnehin? Geheuchelte Glückwünsche mag man sonst schließlich auch nicht.

Das Jahr als Periode muss man doch nicht groß mystifizieren. Das neue Jahr sind die nächsten 365 Tage, keine fremde Welt in der man sich neu zurechtfinden muss. Das neue Jahr fängt nicht bei 0 an, für nichts und niemanden, trotzdem tun manche so als ob. Warum überhaupt? Wozu will man entwerten was bisher gewesen ist? Es ist nichtmal so, als ob man von einem allgemeinen Standpunkt aus betrachtet wirklich Angst vor dem nächsten Jahr haben sollte. Entweder hat man Angst, egal welcher Tag ist, vor dem was noch kommt, oder man schätzt seine Situation realistisch ein und stellt fest, dass man ja im Moment noch lebt. Ist doch schonmal ein beruhigender Gedanke.

Ich mag niemandem ein frohes, neues Jahr wünschen. Ich wünsche jedem, dass er oder sie in Zukunft, also ab jetzt, sich jeden Abend auf den nächsten Morgen freut. So lange und so oft wie möglich. Was ich wünsche, ist vielleicht rückblickend in Jahren zu messen, aber wird von mir nicht mit Ablaufdatum versehen. Und es ist nichts, das Unheil abwenden soll. Ich mag nicht Gesundheit wünschen, wenn man keine Kontrolle darüber hat, ob man krank wird. Ich mag auch nicht Glück wünschen, wenn man mit höherer Wahrscheinlichkeit vom Pech verfolgt sein kann. Stattdessen erhoffe, wünsche ich mir für andere, dass sie losgelöst von der Zeit leben können: nicht über heute oder morgen nachdenken; nicht aus Angst vor der Zukunft nur noch für den Moment leben wollen; nicht alle Tätigkeiten nach Priorität geordnet im Kalender eintragen und nur noch nach Plan leben; sondern sich jeden Abend auf den Morgen freuen und mit dem nächsten Tag befassen - selbst, oder gerade dann, wenn sie den nächsten Tag vielleicht nicht mehr erleben. Glück und Gesundheit und Zufriedenheit und all der andere Mist mag kommen und gehen, aber ein strebender Geist wirkt weiter als er besteht.

In diesem Sinne: Bis morgen!