Juli 2009
Zum Beginn, im für uns noch gesunden Zustand, wiegt meine Freundin etwa 75 bis 77 kg bei einer Größe von 1,75 m. Sie ist etwa so der Typ Christine Neubauer.
Nach einer Magenspiegelung, weil ihr auf den Rücken liegend immer häufiger Magensäure nach oben kam, die Diagnose: Magenkrebs.
August - Oktober 2009
Drei Zyklen präoperative Chemo. Sie verliert alle Haare, Frisurentyp Löwenmähne.
Auf anraten der Ärzte hat sie in den letzten Monaten so viel wie möglich zugenommen. Sie wiegt jetzt 84 kg, was für eine Wuchtbrumme!
November 2009
Der ganze Magen wird entnommen. Aus einem halben Meter Dünndarm wird ein Ersatzmagen geformt, ein sogenannter Pouch.
Zwei Wochen später erfahren wir: der Tumor war ein diffuser Tumor, der die ganze Magenwand durchsetzt hat. Das ist die fieseste Tumorart, die man sich einfangen kann. Kaum zu sehen, nicht so'n blumenkohlartiges Ding, wie man sie sicher schonmal im TV gesehen hat. Dieser Tumor zieht sich wie ein Flechtenpilz durchs Gewebe, lauter dünne Fäden, nicht viel dicker als ein Haar. Die Wahrscheinlichkeit dieser Tumorart liegt bei Frauen bei 1:100000.
Außerdem werden auf dem Dickdarm zwei Metastasen entdeckt, die per Keilresektion entfernt werden.
Und das schlimmste: trotz ungewöhnlich großem Sicherheitsabstand werden an allen Schnitträndern des Magenpräparats weitere Tumorzellen gefunden.
Januar - März 2010
Wegen der noch verbliebenen Tumorzellen weitere drei Zyklen Chemo plus Bestrahlung. Die Ernährungsumstellung fällt ihr sehr schwer. Im Februar 2010 wiegt sie 66 kg, kann dann aber ihr Gewicht zunächst einigermaßen halten.
Ab jetzt werden alle Nachsorgeuntersuchungen ohne Befund sein!
etwa Mai, Juni 2010
Das Essen wird komplizierter, sie beginnt plötzlich weiter abzunehmen, im September 2010 hat sie nur noch 57 kg. Endoskopisch wird eine Stenose (Engstelle) hinter der Speiseröhre festgestellt, die nicht begründet werden kann.
September 2010
Sie bekommt ein Portimplantat, damit sie über die Vene zusätzliche Nahrung aufnehmen kann. Jede Nacht laufen jetzt 1100 Kalorien durch ihre Adern. Trotzdem das Essen immer schwerer fällt, nimmt sie in den nächsten fünf Monaten wieder 9 kg zu.
Februar 2011
Weil so ein Vollarsch vom Pflegedienst eine daneben gestochene Nadel ein zweites Mal verwendet, entzündet sich das Portimplantat und muss entfernt werden. Die Wunde braucht Wochen, um zu verheilen.
Die Stenose ist noch enger geworden. Niemand weiß warum. Man sagt uns, dass im schlimmsten Fall ein Tumor die Ursache sein könnte.
Man überlegt, einen neuen Port, oder evtl. auch einen Intestofix (Dünndarmsonde, geht durch die Bauchwand) zu legen, als sie eine Gürtelrose bekommt. Eine logische Folge des geschwächten Immunsystems. Die Gürtelrose muss vollständig ausheilen, vorher kann kein Eingriff gemacht werden. Meine Freundin nimmt wieder ab...
April - Mai 2011
57 kg. Die Gürtelrose ist weg, aber die Gefahr einer neuen Infektion durch einen Port zu hoch, daher ist der Intestofix beschlossene Sache. Der Eingriff wird um einen Tag verschoben. Am Vorabend sitzt der Doktor, der ihren Magen entnommen hat, auf ihrem Bett, ich auf einem Stuhl daneben. Nachdem ich das Thema Stenose in den letzten Wochen immer wieder angesprochen habe, und per Endoskopie, Sono, CT und was weiß ich noch alles, keine Ursache dafür zu finden war, frage ich den Arzt noch einmal, ob man nicht doch mal schauen könne, was da los ist. Meine Freundin beginnt zu weinen und sagt dem Arzt, wie sehr sie sich wünscht mal wieder ein Schnitzel oder eine Boulette essen zu können. Es zerreißt mir das Herz. Dem Arzt offenbar auch, zumindest ein kleines Stück. Man beschließt, doch noch einmal die Bauchdecke zu öffnen.
Am nächsten Morgen ist es soweit. Sie finden einen völlig verwachsenen Pouch vor, bei dem es kein Wunder war, dass sie kaum noch essen konnte. Später wird uns der Oberarzt sagen, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Bestrahlung dafür verantwortlich ist. Es wird verformtes Gewebe entnommen und sofort pathologisch getestet: entgegen der Erwartungen eigentlich aller Ärzte: tumorfrei! Ansonsten hätten sie sie wieder zugemacht, Intestofix rein und fertig. Nun aber fühlen sich die Chirurgen ermutigt, weiterzumachen. Sie finden noch mehr Verwachsungen mit Bauchfell und Milz. Nachdem die OP länger als 3 Stunden dauert, bin ich guter Dinge. Denn ich weiß, dass Tumorfreiheit die Voraussetzung für einen nochmaligen so großen Eingriff ist. Am Ende steht quasi das ganze Charité Chirurgenteam an ihrem Tisch und in einer 7½stündigen OP wird die ganze Ersatzmagenanlage noch einmal völlig neu angelegt. Diesmal ohne Pouch, man will nicht nochmal einen halben Meter Dünndarm opfern.
Als ich zwei Wochen später den Oberarzt frage, ob die postoperative Bestrahlung seinerzeit so 'ne gute Idee war, zuckt er mit den Schultern und sagt: "Der Tumor ist weg."
Mai 2011 - heute
Die nächsten Wochen werden noch einmal schwer. Die OP hat heftig an diesem nun zierlichen Körper genagt, der nur noch gute 50 kg wiegt. Nach einer Woche wird die OP-Naht Speiseröhre/Dünndarm undicht. Endoskopisch wird ein Stent zur Abdichtung eingesetzt. Durch die vielen Antibiotika, der sie wegen des Stents bekommt, würgt sie das Ding fast wieder raus und er muss noch einmal korrigiert werden. Nach knapp drei Wochen geht die äußere OP-Narbe wieder auf, war beim letzten Mal auch so. Es wird Monate dauern, bis sie völlig geschlossen ist. Nach 3½ Wochen die Gewissheit: sämtliches entnommenes Präparat ist absolut tumorfrei!
Sie kann nun endlich nach Haus. Meine Freundin fühlt sich in einem Krankenhaus wie ein Kind, das heimweh hat. Sie ist trotz des negativen Tumorbefundes ziemlich depressiv und schwach, denn die OP hat nochmal ordentlich Gewicht gekostet. Die Ernährungsberaterin hat ihr geraten, erstmal nicht auf die Waage zu gehen. Nach drei Wochen zu Haus ist der Zustand nicht viel besser, obwohl sie recht gut essen kann. Jedenfalls besser, als vor der OP. Außerdem bekommt sie über den Intestofix über Nacht 1000 Kalorien. Doch sie glaubt, sie wiegt unter 50 kg. Ich sage: "auf keinen Fall" und überrede sie, auf die Waage zu gehen. 54,6 kg! Nun platzt endlich der Knoten! Am nächsten Tag fängt sie an zu futtern, wie in den ganzen letzten 1½ Jahren nicht mehr. Mir kommen die Tränen als ich sehe, dass sie eine ganze Banane hintereinanderweg aufessen kann.
Das ist der Zeitpunkt, als ich hier im Forum schreibe, dass es endlich bergauf geht.
Drei Wochen nach diesem Tag wiegt sie 57 kg, vor einer Woche waren es 59 kg.
Letzte Woche sollte der Stent entfernt werden, aber sie haben ihn nicht rausbekommen, weil er zu festgewachsen ist. In etwa zwei Wochen werden sie es nochmal mit einer anderen Methode versuchen. Naja, ich gehe davon aus, dass diese Hürde auch noch genommen wird. Und in nicht allzuferner Zukunft werden auch die beiden großen Pflaster auf ihrem Bauch und der kleine Schlauch neben dem Bauchnabel verschwunden sein, und sie wird ihr Gewicht wieder dort haben, wo sie es am liebsten hat. (Ich natürlich auch)
Eben haben wir telefoniert und uns für den späten Nachmittag verabredet. Lotto abgeben, ein paar Besorgungen machen. Der Alltag kehrt langsam wieder zurück. Lachen und Weinen vor Glück.